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Nachsaison

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Nachsaison

Nachsaison

Das Hotel lag abseits der Touristenzentren. Es war, jetzt in der Nachsaison, nur zur Hälfte ausgebucht. Das Personal war freundlich und hilfsbereit. Das Wetter ... vielleicht würden es die schönsten Tage des Jahres werden, vielleicht würde der Herbst sich zu früh melden. Manuel war bereit, es darauf ankommen zu lassen.

Er war zum ersten Mal an diesem Teil der Westküste. Neugierig bummelte er durch das Dorf, und am späteren Nachmittag, nach einem Imbiss in einem kleinen Restaurant, entschloss er sich zu einem Spaziergang am Meer.

Strandkörbe und Liegen standen ungenutzt herum. Ein kühler Wind blies von der See in das Land hinein. Die letzten Gäste fröstelten in ihrer zu dünnen und zu knappen Kleidung. Manuel schlenderte an ihnen vorbei, am Wasser entlang, bis der Strand in eine raue Felsenküste überging und schließlich an ein hohes, vorstehendes Kliff führte. Schilder warnten vor gefährlichen Strömungen und untersagten das Schwimmen. Manuel zögerte. Er könnte umdrehen und zum Hotel zurückkehren. Oder er könnte den Abhang hinaufklettern und seine Wanderung dort oben fortsetzen.

Manuel lächelte, als er Schuhe, Strümpfe und Hose auszog und zusammenlegte. Es war mit Sicherheit keine rationale oder gar vernünftige Entscheidung, den dritten Weg, den schwierigen, gefährlichen Weg um das Kliff herum zu nehmen. Vorsichtig, in der einen Hand das Kleiderbündel, balancierte er über die von den Gezeiten rund geschliffenen Steine.

Er erreichte die äußerste Spitze des Kliffs. Verblüfft registrierte er, dass die Felsen zu einer kleinen Bucht von vielleicht zehn, fünfzehn Metern Tiefe und Breite zurückwichen. Sie ragten fast senkrecht empor und begrenzten einen sehr geschützten, nur von der Meerseite einsehbaren und erreichbaren Ort.

Auf einem kleinen Vorsprung nahm er Platz. Das Gestein der Wände fing das Rauschen des Meeres auf und warf es verstärkt zurück. Die Sonne, rot und groß, hing tief am Abendhimmel.

Ein leises, kaum wahrnehmbares Plätschern störte seine innere Ruhe. Auf der anderen Seite der Bucht, neben einem einzeln stehenden Felsblock, schwamm ein Körper im Wasser. Eine Welle hob ihn an. Ein leichtes Aufstützen mit den Händen, ein geschickter Dreh in der Luft und der Schwimmer saß auf dem Felsen. Es war eine Frau. Dunkle Haare fielen lang auf ihre Schultern. Die Sonne strahlte ihren Oberkörper an und tauchte ihn in ein düsteres, rötliches Licht. Ihre Seiten jedoch leuchteten hell, ihr Rücken und ihre Beine waren fast schwarz. Und - die Beine endeten in einer breiten Flosse. Manuel starrte das Wesen an, so wie es den Horizont und die Sonne anstarrte.

Unerwartet drehte sie sich ihm zu. In der Dämmerung war ihr Gesicht nicht mehr als ein heller Fleck. Manuel stockte der Atem. Dann wandte sie sich ab, richtete sich auf und sprang mit einem kräftigen Abstoß in das Wasser hinein. Für einen kurzen Augenblick sah Manuel ihren gestreckten Körper mit dem wehenden Haar, der schlanken Figur und der großen Flosse in der Luft schweben. Er schluckte. Nach ein paar Minuten nahm er sein Kleiderbündel auf und begann den Rückweg.

Die Flut hatte das Wasser in die Bucht getrieben. Es stand Manuel bis zur Hüfte, ohne dass er die Ecke des Kliffs erreicht hätte. Eine Welle presste ihn plötzlich auf die Felsen zu. Instinktiv stieß er sich ab. So erwischte ihn die nächste Welle und er stürzte ins Meer. Prustend kam er wieder hoch. Das Kliff schaukelte vor ihm als Schatten hoch und runter. Eine neue, stärkere Welle schlug über ihm zusammen. Sie drückte ihn hinunter. Um ihn herum waren nur noch Dunkelheit und dumpfes Murmeln. Er verlor die Orientierung und paddelte auf der Stelle. Die Aufschriften der Schilder, die vor einer gefährlichen Strömung warnten, schossen ihm durch den Kopf. Und natürlich kannte er die Geschichten von denjenigen, die diese Warnungen ignoriert hatten und ertrunken waren. Sein Atem wurde knapp. Panik stieg in ihm auf.

Er dachte nicht mehr klar. Er ließ das Kleiderbündel los und schwamm hektisch mit kräftigen Stößen. Mit steigender Verzweiflung versuchte er, einen Anhaltspunkt zu finden, - ein Ziel, auf das er zusteuern konnte, etwas, das ihm sagte: hier ist der Strand! Hier ist die Oberfläche!

Er sah einen hellen Punkt. Das war der Anker, an dem er sich festhalten konnte. Der Punkt tanzte vor ihm, kam ihm näher und verschwand.

Etwas streifte ihn. Hände schoben sich unter seinen Armen hindurch. Er spürte Brüste an seinem Rücken. - Die Berührungen fühlten sich sehr seltsam auf seiner Haut an. Manuel gab seine eigenen fruchtlosen Bemühungen auf. Er erstarrte.

Sein Kopf durchbrach die Oberfläche. Das dumpfe Gemurmel der Untersee wich dem helleren Rauschen der Nacht. Er schnappte gierig nach Atem und schluckte Wasser. Er hustete es aus und sog frische Luft in seine Lungen. Die Fremde zog ihn weiter. Dann lockerte sich ihr Griff und sie löste sich von ihm. Manuel fiel zur Seite, tauchte unter, ruckte wieder hoch und stütze sich auf den Steinen ab. Er sah auf. Sie war ihm nahe genug, dass er das schmale, feine Gesicht erkennen konnte. Es war ein überraschend menschliches Gesicht. Ihre Augen schimmerten rötlich und sie lächelte. Mit einer Welle trieb sie fort. Einige wenige Schläge mit der Flosse vergrößerten die Entfernung schnell. Sie verschwand im Dunkel des Wassers und der Nacht.

Lange starrte Manuel auf das Meer hinaus.

Der Wind war kalt und Manuel zitterte. Er nahm es nicht wahr, denn in seinen Gedanken war er bei ihr. Er kehrte in das Hotel zurück. Er ignorierte, halbnackt und durchgefroren, die Blicke des Empfangschefs, als er nach seinem Zimmerschlüssel verlangte.

Vor der Aufzugstür zögerte er. Die Bilder, wie sie auf dem Felsen gesessen hatte, wie sie in das Wasser gesprungen war, hatten sich in ihn hineingebrannt. Er ging zurück zum Empfang und stellte seine Frage. Die Antwort war ein höfliches, aber auch amüsiertes Lächeln. Manuel nahm es hin. Er hatte nichts anderes erwartet.

Während er duschte und sich für das Abendessen anzog, fasste er einen Entschluss. Er würde sie suchen. Morgen. Und Übermorgen. Und den Tag danach. So lange, wie es dauern würde.

*

"Verrücktes Biest!", schimpfte ihr Bruder. "Niemand, der seinen Verstand beieinander hat, wagt sich bei diesen Bedingungen an das Kliff heran!"

Im Schein der Decksleuchte kletterte sie die kurze Heckleiter des Kabinenbootes hoch und fiel platschend auf ihr Hinterteil.

"Ich hab' mir Sorgen gemacht. Es wurde immer dunkler und du bist nicht zurückgekommen."

Sie schwieg.

"Du hättest wenigstens deine Maske anlegen können."

Sie lehnte sich zurück. Ihre Haare fielen lang und nass herunter. Sie lachte.

"Du machst dir zu viele Gedanken", sagte sie. "Das Kliff und die Strömungen sind nur halb so gefährlich, wenn man sie kennt. Und hin und wieder ohne Tauchermaske zu schwimmen ist sehr schön."

Sie öffnete den Verschluss ihres Neoprenanzugs. Er war mehrfarbig, vorne rot, an den Seiten mit gelben Streifen und auf dem Rücken und ab der Hüfte dunkelblau.

"Soll ich dir helfen?" fragte ihr Bruder.

Sie schüttelte den Kopf. Sie zog die Beine an, löste die Riemen der Monoflosse, ließ sie auf das Deck rutschen und massierte ihre Unterschenkel und Knöchel.

Sie sah auf das Meer, in die Nacht und lächelte versonnen.

"Was hältst du davon", meinte sie schließlich nachdenklich, "wenn wir heute Abend im Restaurant des Hotels essen?"


(c) by StarScratcher, Januar 2002

[Beitrag editiert von: StarScratcher am 19.01.2002 um 14:48]

 

Hui. Eine neue ("") Geschichte von dir - da konnte ich nicht wiederstehen.

Dein Schreibstil ist wie gewohnt - perfect fehlerfrei und auch sprachlich sehr angenehm.

Ich bin irgendwie nicht ganz so sicher ob die Geschichte wirklich in Fantasy gehört, und nicht eher in Alltag oder Seltsam, aber was solls.

Das Ende fand ich auf jeden Fall schön, kam ausnahmsweise wirklich unerwartet. Ich denke es macht mit Abstand den Hauptreiz der Geschichte aus.

Etwas unschön und aprupt fand ich den Beginn, frag mich nicht warum aber ich finde irgendwas an der Art wie Manuel vorgestellt wird...

holprig?

Ich weiß noch nicht mal wie ichs wirklich ausdrücken soll aber der Anfang ließt sich unschön, finde ich.
Kann aber auch an mir liegen.

Wanderer :) :) :)

 

Hallo Wanderer,

es ist Phantasy - <g> allerdings um 180 Grad gedreht ... (Plots dieser Art laufen in der Regel ab wie z. B. in "Ruperts Test" im SF-Bereich.)

Und die "Holprigkeit" ... Tja - dass ist zur Zeit meine Art zu schreiben. Aber ich arbeite dran. Zumindest versuche ich es :)

Klaus

 

Wie gewohnt, eine ganz nette Geschichte von dir. Ehrlich gesagt, bin ich nur hier auf dieser Seite, um deine Kurzgeschichten zu lesen.

Nein, leider bin ich kein Literaturagent oder sowas. Ich würde es einfach nur ... "Neugier" nennen. Mal ehrlich: Du hast das Zeug zum Schriftsteller!

Allerdings ist deine Wortwahl nicht immer korrekt. In dieser Geschichte würde zum Beispiel statt dem "Kliff" eine "Klippe" besser passen. Synonyme, Herr StarScratcher, Synonyme!

 

Hallo PhiberOptik,

Synonyme, Herr StarScratcher, Synonyme!

<g> Was Kläuschen nicht gelernt hat, das lernt Klaus nimmermehr. Mein aktiver Wortschatz ist leider sehr beschränkt. Und der Thesaurus von MS-Word wirft bei "Kliff" nicht das Synonym "Klippe" raus. Bei Gelegenheit werde ich mir ein richtiges Synonym-Wörterbuch zulegen.

Klaus
(der übrigens nur alle 2 bis 3 Monate ein Geschichtchen schreibt)

 

So, noch eine Kritik von mir: Wahrlich ein überraschendes Ende und eine hübsche Geschichte. Mit relativ wenigen Worten gelingt es Dir beim Leser Atmosphäre zu erzeugen, zumindest bei mir. Zuerst ist alles romantisch, geheimnisvoll ... und dann löst es sich auf. Besonders der letzte Satz gefällt mir, rundet alles irgendwie noch ab.

Gruß,
Ginny

 

Hallo Ginnyrose,

Besonders der letzte Satz gefällt mir, rundet alles irgendwie noch ab.

Die Idee, beide Teile der Geschichte durch die quasi jeweils letzten Sätze zu "parallelisieren" kam mir erst beim Schreiben. Woraufhin ich dann auch flugs aus dem auf dem Boot wartenden Freund den Bruder gemacht habe. Jetzt kann man - finde ich jedenfalls - schön weiterspinnen: treffen sie sich im Restaurant? Erkennen sie sich, und wenn ja: was passiert dann?

Klaus
(der wohl doch irgendwie eine romantische Ader hat)

 

Servus Sternenkratzer!

Nun endeckte ich diese Geschichte von dir und sage gerne, dass sie mir wirklich gut gefallen hat. Die Auflösung wurde schon positiv erwähnt.
Mir gefiel besonders die Szenerie wo Manuel ins Wasser gerät. Dieses Wasser das ihm über den Kopf schwappt, er vor sich die Klippen, oder wie du es nennst, das Kliff, als schaukelnden Schatten wahrnimmt, orientierungslos ist. Das zeichnest du sehr schön, man fühlt sich wie in einen Film gezogen.

Lieben Gruß - schnee.eule

 

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