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Nachrufe sind Zurufe
Nachrufe sind Zurufe.
Ich komme aus dem Biergarten, hole mir ein Bier aus dem Kühlschrank, schalte den Computer an und checke meine Mails. Das soeben geführte Gespräch geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Stell dir vor, du lägest im Grab und würdest hören, was dir die Leute durch ihre Herzen und Gedanken noch mit auf den Weg geben. Abseits aller Trauer, abseits aller Tränen und Betroffenheit, abseits des Verlustes den du für manchen bedeutest. Alles anders, als du es dir vorgestellt hast??? Wirklich?
Ich starre in die Mattscheibe auf der sich unaufhörlich Buchstaben formen.
Was möchte ich hören, was nicht? Was ahne ich, was überrascht mich?
Ich stelle mir vor, wie sie alle da stehen, die mir wichtig waren, als ich noch unter ihnen weilte.
Vorne, neben meinem Bruder steht meine Tochter, eine Lebensgefährtin kann ich nicht sehen.
Sie wirft nachdenklich eine Hand voll Erde auf mich herunter und denkt dabei: „ Warum warst du nur so feige? Hatte ich nicht eine neue Chance für dich und mich im Gepäck, als ich geboren wurde? , Warum nur warst du so stolz, dass du nicht fähig warst, zwischen mir, und meiner Mutter zu unterscheiden?
Ich war doch noch so klein, ich hatte nichts gegen dich, ich brauchte dich, warum warst du erst für mich da, als es schon zu spät war? Ich hätte gerne mehr mit dir zusammen erlebt, wäre gerne von dir begleitet worden, bist du wenigstens jetzt bei mir, oder hast du mich ganz verlassen...“ Mein Bruder und sein Sohn stehen dicht dabei.
Sein Sohn denkt: Du warst klasse, wenn du da warst, warum war es so selten? Wovor hast du gekniffen, ich war doch nur ein Kind. Du konntest so schön singen und spielen, du hast mir gezeigt, wie man beobachtet und dabei zu sich selber findet ohne sich dabei zu verlieren.“ Mein Bruder denkt an all die Zeit zurück, in der ich der kleinere von uns beiden war. „Warum warst du nur so ein sturer Hund? Du wusstest doch genau, dass dich das eines Tages umbringt, warum warst du, bei aller sonstigen Konsequenz diesmal so lasch? Du könntest doch noch da sein, und sagen: komm schon, lass uns einen trinken, ich brauch das in meinem Magentresor, bevor es das Finanzamt kriegt... und ich würde lachen und mich freuen, an meinem kleinen Bruder, der immer alles selber machen und wissen wollte.
Unnachgiebig, zielstrebig trotzdem verspielt wie ein junger Hund... ich vermisse dich. Das Leben ist weniger farbig, auch wenn du mich immer so abgeschmettert hast, wenn ich anrief, oder was mit dir machen wollte... ich hatte immer das Gefühl zu stören, zumindest, bis zu dem Zeitpunkt, wenn ich die Schwelle deiner Wohnung überschritten hatte, denn dann war ich zuhause und willkommen... das wird nun nicht mehr sein. Wenn es da oben Wein gibt, dann trink einen auf mich. Eine Ex- Freundin, ganz am Rande stehend, fast schon unsichtbar, denkt: „Du Schwein. Warum gehst du? Ich hasse dich, ich liebe dich, ich konnte dir nie geben, was du verdient hättest, ich hasse mich dafür, aber schau, ich lebe noch, du bist schuld daran, warum hast du mich verlassen? Warum hast du mich mir selber überlassen? Weil ich es mir wünschte?“
Kameraden von früher stehen dort, steinerne Gesichter, Blumen festgekrallt in schweißnassen Händen.
„So wie du gelebt hast, bist du gegangen, immer in die vollen, auch wenn du ruhig und milde geworden bist mit der Zeit. Es wird langweiliger sein, ohne dich, da ist nun ein Loch, wo du immer Zeit für mich hattest, zu reden, zu streiten, zu trinken, zu essen, zu lachen und auch mal zu schweigen“: denkt eine alte Freundin. Wer nimmt nun den Platz ein, den ich geräumt habe? Ich weiß ja, dass das Leben immer weiter gehen wird.
Manche machen sich Gedanken über das, was sie in meiner leeren Behausung vorfanden und noch finden werden. Es werden teils Dinge sein, die sie haben wollten, Dinge auch, die sie achtlos in den Müll werfen werden, weil sie nur mir etwas bedeuten konnten. Mein Chaos an Texten, Büchern, Zeichnungen, unfertigen Manuskripten, Briefen und Erinnerungen... zwischen der Weltliteratur, den Philosophen und der Belletristik stehen Pornos, zerfleddert durch offensichtlichen Gebrauch. Unangenehmes berührt sein, zaghafte Vorstellung, wie ich mich in fremden Betten wälze, in meinem eigenen onaniere, scheuen Frauen gegenüber meinen Willen durchsetze, vielleicht Grenzen überschreite, mich vielleicht widerlich und hässlich zeige, ein geiferndes Tier... all das wird nun offenbar werden und sie müssen dieses "Wissen“ nun ertragen, ohne noch auf Antworten hoffen zu können. Nun ist es vorbei mit der Möglichkeit, sich anklagend vor mich zu stellen und Antworten oder Besserung zu fordern. Für sie kommt nun der Vergleich mit sich selber. Das ist härter zu tragen, als mein Fortgehen.
„Was will ich haben, von dir, was ich noch nicht habe?“ denkt meine Nichte, die an die Zeiten ihrer Besuche bei mir mit ihrer besten Freundin zurückdenkt, an all das Gelächter, die ernsten Momente, die vielen Gespräche, die Irritationen die ich hervorrief, den Wein, den Spaß, meine Musik...
Viel von dem klingt nun in mir, während ich hier noch ganz lebendig sitze und wenn es mir gelingt diese Stimmen ins Morgen und übermorgen zu tragen, dann weiß ich, was noch alles zu tun und vor allem was in Zukunft zu vermeiden ist. Und vor meinem inneren Auge lächelt mir meine Freundin, mit der dieser Abend begann, zu, streicht sich mit einer flüchtigen Bewegung die schwarzen Haare aus ihrem Gesicht, beugt sich zu mir herüber und sagt leise:
„ Schön, dass es dich gibt“.