Nachricht aus Catbur
Nachricht aus Catbur
Ein lautes Klopfen im Rhythmus des Pferdegalopps ließ sie hochschrecken. Sie schlurfte verschlafen an die Tür und schaute durch das Guckloch: Niemand. Augenreibend öffnete sie langsam die Tür. Edu, der Kobold von nebenan, stand vor ihr und strahlte (was sehr komisch wirkte bei der langen Nase und dem faltigen Gesicht): „Guten Morgen, Hadia! Die Post, die Post ist da!“
„Die Post? Seit wann gibt es Post? Ich dachte, ich lebe in Vac, dem Ort der geistigen Neandertaler“, fragte sie irritiert.
„Das war gestern! Haha, nachdem mein „Krims Dir dies, rauche das“-Laden den Bach runterging, musste ich mir eine neue Beschäftigung suchen. Und meine zwanzig Brüder und achtzig Cousins haben es mit einem ganz neuen Geschäft versucht: die Post!“
„ Aber Edu, niemand der Vacianer will auf Dauer Post bekommen. Die nervige, kranke Tante... der verschwendungssüchtige Bruder... oder die emanzipierte Katze! Alle legen dann plötzlich Wert auf gepflegten Kontakt!“
„Ach Hadia, in hundert anderen Städten dieses eigensinnigen Landes funktioniert das Geschäft! Der neue Trend schlechthin: Kommunikation“, dabei wedelte er lockend mit einem Umschlag aus Marmorpapier.
„Für mich?“
„Jaha, für dich Hadia. Dazu noch unser Infobrief, der an alle Bewohner von Vac geht. Nur so als Einführung in die Welt des geschriebenen Austauschs!“
„Ähm, danke.“
„Das macht dann zwei Drakos“, lächelte Edu wie die Karikatur eines mahagonischen Politikers.
„Gleich zwei goldene Drakos!“, sie riss ihm die Briefe aus den Händen und schlug wütend die Tür zu.
„Aber Hadia, das steht alles im Infobrief. Hadia?“
Sie verriegelte die Tür und begab sich in ihren Mandragoragarten. Hadia war die örtliche Lustspenderin: Sie legte die Mandragorawurzeln in Wein, um die aktiven Bestandteile darin aufzulösen. Der Trunk, den sie daraus mischte, war einer der wirksamsten Aphrodisiaka im ganzen Land. Da die Mandragorapflanze sehr selten war, strömten Pragianer aus jeder Ecke des eigensinnigen Landes zu ihr, um sich an der Wirkung dieses Wundermittels zu ergötzen. Sie hatte die Pflanze, die sehr schwer in freier Natur zu entdecken war, gezähmt und in ihrem Garten angebaut. Damit war sie eine reiche Frau. Und das spiegelte sich in dem Luxus, der um sie versammelt war, wider.
Sie setzte sich in ihren Ohrenbackensessel und dachte reumütig an Edu. Wenn nun jeder Vacianer so geizig war, wie es seinem Ruf als Vacianer gerecht wurde, dann wäre dies das nächste Pleite-Geschäft des lustigen Kobolds. (Edu kam schon nach sieben Tagen auf die glorreiche Idee, von den Absendern für die Zustellung des Briefes die zwei Drakos zu verlangen, was prompt funktioniert hätte, wenn die Vacianer Briefe geschrieben hätten.) Sie vertrieb den Gedanken, warf den Infobrief in den Müll und öffnete den anderen mit der Adressierung: „An Hadia Kaschi, Lustspenderin und geheime Schreiberin vor dem neuen Walde von Vac“.
Merkwürdig! Wer wusste, dass sie Geschichten schrieb? Hadia holte ein silbernes Tablett aus dem großen schwarzen Regal mit weißer Ecke. Sie nahm sich eines der verführerisch unschuldig anmutenden süßen Haschischbällchen und packte die Nachricht aus:
„Trampel, trampel, trampel,
Wenn Du nicht aufpasst, übersiehst Du die Ampel,
Der Anfang vom Ende,
gebunden sind Dir dann die Hände.“
Ampel? Die einzige Ampel, die sie jemals gesehen hatte, stand in Catbur. Catbur. Nur einmal war sie in Catbur gewesen. Vor einem Jahr. Sie hatte sich dorthin verirrt, als sie auf der Reise nach Marzia war, um Samttücher in allen Farben zu kaufen. Hadia schloss ihre Augen und flüsterte: „Catbur.“
Die Tore schienen in diamantiertem und satiniertem Silber in einem filigranen Muster. Es sah aus, als ob sich das Zeichen für die unbestimmte Zahl Unendlich in einem Zirkel aneinander reihte. In Vac verarbeitete man dieses Muster für die Trauringe der ewigen Heirat. Hier erstrahlte es in den Stadttoren und -zäunen in ungewohnter Bedeutsamkeit. Sie hatte von der Zirkelstadt Catbur gehört, aber nun vor ihr zu stehen...
Die Haupttore öffneten sich von selbst. Statt Häuser mit Familien bauten sich perlengeschmückte Laternen, bronzefarbene Bänke und Marmorwege vor ihr auf. Sie trat ein und staunte. Man erzählte sich, dass diese Stadt gebaut worden war, um Menschen zu verzaubern. Um sie vergessen zu machen. Um sie zu begleiten. Sie sah weit und breit keine Menschenseele. Der breiteste aller Marmorwege führte sie zu einer glänzenden Einkaufsallee. Geschäfte mit bunten Seidentüchern, silbernem Chiffon und weichem Kaschmir schossen aus dem Boden. Duftecken mit Ambra-, Moschus- und Gardenia-Mischungen zogen sie an. Gebäckhäuser mit Zimtsternen, Vanillehalbmonden und Karamellstäbchen klatschten um ihre Aufmerksamkeit. Die Allee mündete in einen kreisförmigen Platz, auf dem eine Ampel stand. Sie war aus dunkelgefärbtem Bambus gefertigt, etwa 2,50 Meter groß und an ihr prangten drei große Juwelen im Esmeralda-Schliff. Ein gefährlich roter Rubin, ein ozeantief blauer Saphir und ein taufrisch grüner Smaragd. Das klassische Tripel gekonnt vereint.
Hadia richtete sich auf, an dieser Stelle wies sie ihre Erinnerungen immer wieder zurück. Statt sich der Ampel zu nähern und dem Spiel der Sonnenstrahlen mit den edlen Drei ein wenig zu folgen, hatte sie sich ruckartig umgedreht und den Weg zurück aus der Zirkelstadt gesucht. Die kräftigen Farben hatten ihr Angst eingejagt, große Angst. Sie hatte auf einmal gefürchtet, man könnte in ihr Herz sehen und alles aufdecken, was sie so angestrengt zu verbergen suchte. Sie war in Catbur gewesen, und hatte die wundersame heilende Wirkung, wie so manch einer die Begegnung mit der Ampel beschrieb, nicht zugelassen. Das war schon seltsam, denn als Lustspenderin und Halbexpertin der Gewürze und Kräuter musste sie sich schon oft mit Heilungen und Heilungsprozessen auseinandersetzen. Aber sie war Hadia, die Lustspenderin, die reiche Unnahbare. Genauso wie jeder Vacianer seinen Ruf als Geizkragen zu einer Kunst hochstilisierte, spielte sie mit dem Bild, den andere von ihr hatten.
Hadia stand auf, um ihren Handspiegel aus dem Schlafzimmer zu holen. Dort fegte sie an ihrem Bett vorbei und drehte sich plötzlich um. Ein blauer Zettel mit schwarzen Lettern lag auf dem roten Seidenkissen. „Catbur“ lag auf ihrem Bett und wartete darauf registriert zu werden. Woher kam dieser Zettel? Sie hatte niemandem davon erzählt, dass sie in der Kreisstadt gewesen war. Sie hob ihn auf, steuerte auf den Papierkorb zu und fand dort dreizehn andere Zettel in bunten Farben mit der Aufschrift „Catbur“. Verwundert warf sie ihn in den Korb. Mit dem Spiegel ging sie zur Küche, um eine neue Liebesdroge zu mischen. Es machte ihr keine großen Problem, die Zettel zu ignorieren. Das verwunderte sie noch mehr, jedoch fühlte es sich vertraut an. Nach der Dose mit Muskatnuss musste sie lange suchen, da sie Muskatnuss lange nicht mehr verwendet hatte. Schließlich fand Hadia sie gut versteckt in einem Schrank. Hinter der Dose entdeckte sie eine Nachricht:
10.Feb. Du hättest nicht gehen sollen. Dessen bist Du Dir bewusst. Wieso bist Du so mit Dir selbst beschäftigt, dass Du Dich vergisst? Deine Angst beherrscht Dich. Deine Angst ist die Burg, die Du selbst gebaut hast.
Februar? Das war schon sechs Monate her. Wie kam das Stück Blatt dorthin? Hadias Neugierde wurde geweckt. Sie hetzte und kroch durch das ganze Haus und fand neununddreißig andere Nachrichten, vom Februar bis zum August. Konnte es sein, dass sie all diese bunten Papiere wirklich übersehen hatte? Oder waren die Zettel so unauffällig, dass sie sie kurz wahrgenommen und vergessen hatte? Vielleicht aber auch interessant und vergleichsweise nicht so interessant?
10. Aug. Heute hast Du Dich erinnert. Heute hast Du zurückgedacht und mich vermisst. Heute bliebst Du wieder am selben Punkt stecken. Kommst Du nun? Heute?
Ein galoppartiges Klopfen ließ sie hochschrecken. Sie zögerte und schritt dann vorsichtig auf die Tür zu. Hadia schaute durch das Guckloch: Niemand. Nervös öffnete sie langsam die Tür. Edu hielt ihr einen Umschlag entgegen und machte keine Anstalten irgendetwas zu sagen.
Erleichtert Edu zu sehen fragte sie lächelnd: „Das macht dann zwei Drakos, oder?“ Schweigend strafte er sie mit einem bösen Blick. Sie packte ihre Börse aus, fischte vier Drakos heraus und reichte sie Edu, der daraufhin etwas versöhnt sagte: „Nein, nur drei Drakos. Dieses Mal ist es nur ein Brief!“
„Gut, bitteschön.“
„Danke, bis dann.“
Sie schaute Edu hinterher, wie er davon dackelte. (Das Geschäft musste am ersten Tag ja gut laufen, wenn er schon zweimal austrug...)
Hadia riss den Umschlag auf und zog den Brief heraus:
Catbur wartet auf Dich. Willst Du ewig auf Deinem Sockel sitzen bleiben, bis die Würmer hoch kriechen, um Dich zu stürzen und zu erdigen?
Hadia suchte nach ihrer geräumigen, braunen Ledertasche, packte ihren Spiegel, ihr Mandragora-Aphrodisiakum, ihr Duftwasser, alle Kurznachrichten, ihre Geschichten, ihre Herkunft und ihren Glücksstein ein. Sie verschloss die Tür und marschierte in den Wald. Catbur war auf keiner Karte verzeichnet. Mit viel Glück konnte man es finden, aber es gab keinen beschreibbaren Weg dorthin. Vielleicht fand sie die Zirkelstadt wieder auf dem Weg nach Marzia. Vielleicht war es auch egal, welche Richtung sie einschlug.