- Beitritt
- 21.04.2015
- Beiträge
- 1.419
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 55
Nachbarskind
Ich komme vom Einkaufen, als sie aus dem Fenster fällt.
Die Henkel der Tüten entgleiten meinen Fingern, ich renne zu ihr, knie vor ihrem kleinen Körper. Will sie packen, an mich ziehen – warum schreit sie nicht? –, ihr übers feine braune Haar streichen und sagen, alles wird gut, war doch gar nicht so hoch, nur ein halber Stock, halb so wild.
Was, wenn ich etwas kaputt mache, sie falsch bewege?
Sie hebt den Kopf, rappelt sich auf, ihre Augen viel zu groß. Ich strecke ihr die Hand hin, da zuckt sie zurück und fängt an zu weinen. Leise rede ich auf sie ein, verspreche ihr, dass es bestimmt nicht so schlimm ist, dass wir zusammen ihre Mama holen. Die Kleine schluckt, sieht mich an, versteht mich nicht. Ihre größeren Geschwister sprechen Deutsch, oft höre ich sie im Treppenhaus oder im Hof rufen, aber die Jüngste wirft nur mit Brocken um sich.
Sie sagt etwas, ihre kehlige Stimme bebt. Ich spreche die Sprache nicht, klingt wie ein Durcheinander aus Türkisch oder Albanisch und etwas, das ich nicht erkenne, aber ich nicke, lächle sie an und biete ihr noch einmal meine Hand an. Sie greift danach, schnieft und wir gehen zusammen zur Haustür.
Zwei der Älteren kommen aus der Wohnung im Hochparterre, ihr raues Lachen bricht ab, als sie mich mit der wimmernden Kleinen im Treppenhaus sehen.
„Was ist passiert?“, fragt der Kräftige.
„Sie ist aus dem Fenster gefallen.“
Er bückt sich, nimmt sie auf den Arm und redet auf sie ein. Der andere hämmert gegen die Wohnungstür und brüllt etwas. Dann dreht er sich zu mir um.
„Danke, dass du dich um sie gekümmert hast.“
„Ihr solltet ins Krankenhaus, sie ist kopfüber aus dem -“
Die Tür wird aufgerissen. Zeternd nimmt eine untersetzte Frau mit grauen Haaren das Mädchen entgegen. Im Wohnzimmer hinter ihr sitzt der Mann, den sie bei schönem Wetter in seinem Rollstuhl immer zu dem Fleckchen Sonne im Innenhof schieben. Neben ihm stellen sie Klappstühle auf, trinken Kaffee oder Tee, manchmal rauchen sie Shisha und diskutieren. Sie winken mir zu, wenn ich nach Hause komme.
Die genauen Verhältnisse habe ich nie kapiert, viele Leute über mehrere Wohnungen im Block verteilt. Ich weiß nur, dass die Mutter der Kleinen schräg unter mir wohnt, mit einem der zwei Typen zusammen ist und oft in der Wohnung dieser Frau hier vorbeikommt. Vielleicht die Oma.
„Da muss ein Arzt drauf schauen, sie könnte eine Gehirnerschütterung haben oder so was.“
Alle drei nicken, die beiden Männer bedanken sich erneut. Die Diskussion zwischen den dreien geht von vorne los, sie verschwinden in der Wohnung, ein lauter, wuselnder Pulk. Die glasigen Augen des Mädchens starren über die Schulter der alten Frau, bevor die Tür geschlossen wird.
Der Einkauf liegt über den Gehweg verteilt. Jogurt, Milch, Pizza, alles zittert in meiner Hand, als ich die Sachen zurück in die Tüten packe. Oben in der Wohnung öffne ich das Fenster zur Straße. Halte Ausschau. Nach einem Krankenwagen, einem Auto, das wegfährt, irgendeiner Bewegung.
Ich habe sie gesehen, bevor sie fiel. Ihre Hände haben nach dem Blumentopf gegrapscht, die schmalen Arme auf dem Fensterbrett, das Knie als Stütze im Rahmen, damit sie hinaufklettern kann.
Ich bin nicht losgerannt.
Ich dachte, irgendjemand wird schon auf sie aufpassen.
Zwei Wochen vergehen. Mehrfach stehe ich vor der Wohnungstür ihrer Mutter und der älteren Frau im Hochparterre, lausche nach der kehligen Stimme. Ich traue mich nicht zu klingeln. Es ist laut im Haus, immer knallt oder rumpelt etwas, jemand schreit durchs Treppenhaus, lacht oder singt.
Ihr kleiner Lärm fehlt.
Ich kenne die Geschichten. Aus Podcasts, der Zeitung, von Freunden. Über Familiendramen, das versteckte Grauen, das niemand mitbekommt, und wie das Schweigen von Zeugen oft noch größeres Übel anrichtet.
Meine Freunde sagen, ich reagiere über. Seitdem es aus dem Fenster gestürzt ist, denke ich jeden Tag an das Mädchen. Ich bin als Baby von der Waschmaschine gefallen. Meine Mutter hatte mich nur kurz abgelegt, nur kurz nicht hingesehen. Passiert.
Wie oft ist die Kleine mir spät abends mitten im Winter barfuß und im dünnen Schlafanzug im Treppenhaus begegnet? Manchmal hat sie sich vor mir versteckt, manchmal ist sie mir kichernd bis ins oberste Stockwerk gefolgt.
Sie wirkte okay. Nur nackte Füße. Jeder erzieht anders.
Ich fühle mich zehn Kilo leichter, als sie kurz vor Weihnachten mit ihrer großen Schwester auf den Treppenstufen vorm Haus sitzt. Sie ruft „Hallo“ und versteckt das Gesicht in den Händen. Ihre Augen blitzen zwischen den Fingern hervor, sie grinst, springt auf und rennt weg.
An Heiligabend kaufe ich kleine Schokoschneemänner und Schokoengel mit Flügeln aus goldener Pappe. Abends, als das Treppenhaus dunkel und ruhig ist, verteile ich sie vor den Haustüren. Ich mache das, seit ich hier eingezogen bin.
„Wo warst du?“, fragt sie mich.
Ich leere den Briefkasten, zwinkere ihr zu. „Ich war arbeiten.“
„Kommst du?“ Sie hüpft die drei Stufen zum Hochparterre hinauf.
„Wohin denn?“
„Spielen.“
„Zu dir nach Hause?“
Sie nickt.
„Ist das eine Einladung?“
Sie sagt etwas, das ich nicht verstehe, und rennt die Treppe hoch. Vor ihrer Wohnungstür wartet sie auf mich, dreht eine Haarsträhne zwischen den Fingern.
„Hast du denn deine Mama gefragt?“
Hinter ihr geht die Tür auf. Die Kleine dreht sich um, gestikuliert, plappert auf ihre Mutter los.
Die Frau nickt mir zu und zieht das Mädchen in die Wohnung.
Sie sitzt auf der Schaukel im Innenhof und weint. Eine Gruppe Kinder steht in der Nähe, darunter ihre Schwester. Sie beachten die Kleine nicht.
Ich schmeiße den Müllsack in die Tonne und gehe zu ihr. Hocke mich vor sie.
„Alles okay?“
Sie umklammert die Stahlkette, sieht an mir vorbei. Die Augen sind gerötet, Rotz läuft ihr aus der Nase.
„Hat dich jemand geärgert?“
Nur ein Schniefen. Eins der Kinder schreit etwas zu uns rüber, die Kleine schreit zurück, sieht mich an und brabbelt los. Hin und wieder kriege ich ein Wort zu fassen, der Rest kommt nicht zu mir durch.
„Maus, ich verstehe dich nicht, tut mir leid.“
Sie stoppt, runzelt die Stirn.
„Tut weh“, sagt sie und zeigt auf ihr Knie. Die Hose ist an der Stelle aufgescheuert.
„Hat dich jemand geschubst?“
Sie versteht nicht.
Ich deute auf die Gruppe Kinder.
Sie zuckt mit den Schultern.
„Wollen wir rein gehen? Nach Hause?“
„Nein, nicht nach Haus.“
Ich stehe auf, sehe mich um. Mit voller Wucht trifft mich ihre Verlorenheit und ich weiß nicht, wonach ich eigentlich suche. Meine Hand wandert zum Hals, tastet nach dem kleinen Stein an der Halskette. „Der soll dich beschützen“, hat meine Mutter mir damals ins Ohr geflüstert. Lazulie haben wir ihn genannt. An Lapislazuli hab ich mich als Kind ständig verheddert.
Ich öffne den Verschluss.
„Hier, für dich“, sage ich und hänge ihr die Kette um. Ihre großen Augen ein Fragezeichen. „Der Stein beschützt dich.“
Sie nimmt ihn in die Hand, die Lippen bewegen sich, kein Ton kommt heraus. Ich streiche ihr übers Haar und gehe zurück zum Haus.
Der Innenhof liegt im Dämmerlicht des Abends. Tauender Schnee tropft von Dächern und Bäumen. Ich krame nach dem Schlüssel, als etwas Blaues im Augenwinkel aufblitzt. Links von mir, neben den Fahrrädern, leuchtet der Stein zwischen Matsch und Schneeresten. Ich hebe die Halskette auf, nehme sie mit in die Wohnung. Braune Schlieren im Waschbecken, als ich heißes Wasser über die feinen silbernen Glieder laufen lasse.
Es dauert ein paar Tage, bis ich sie wieder anziehe.