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Nachbarschaft
Ich schlich in der 35 Grad Hitze durch die saubere Strasse. Kein verrottendes Papierstück neben den Gehsteigen, keine Zigarettenkippe, kein Gestank aus nichtentleerten Mülleimern.
Es waren drei Anschlagtafeln, üblicherweise spärlich beflaggt mit Fen-Shui Beratungsflyern. Katholischen Festschriften. Natürlich und leider, die Bilder entlaufener Katzen. Meist überfahrener Katzen, manchmal vergifteter Katzen, die einmal zu oft in Nachbars Garten geschissen hatten.
Dort schlug ich meinen Zettel an. Ich hatte ihn relativ lieblos, ohne vorgefertigte Dokumentenvorlage, in einem Augenblick der Verwirrung gedruckt.
"Kommt zu meiner Lesung! Es gibt Freibier und danach wird gegrillt!
Ich lade die Bewohner der Erdheimerstraße zu meiner Lesung ein.
Wann: Freitag der 12te
Dauer: Ungefähr 30 Minuten.
Beginn: 19.00 Uhr
Zehn Minuten vor 19.00 Uhr und bis Mitternacht spendiere ich das Bier.
Nach der Lesung Grillmöglichkeit.
Einzige Bedingung: Ruhe während der Lesung. Sollte jemand nur zum Bier abgreifen kommen, ist das schon ok, aber doch irgendwie erbärmlich."
Nun, ich schlug den Zettel an, mit einem Tacker. Es war diese eine Anschlagtafel, die direkt neben den geruchsfreien Sammelkontainern stand. Man stelle sich vor, ein Biomüllkontainer, der bei 35 Grad nicht roch.
Ein älterer Herr, den ich mein Leben lang noch nie gesehen hatte, untersuchte gerade den Papierbehälter.
Während ich tackerte, bemerkte er mich und wandte sich an mich.
"Ich habe diese Kontainer durchgesetzt, politisch, beim Stadtrat", zischte er.
"Hallo", sagte ich und tackerte das dritte Mal daneben.
"Was machst du da?", fragte er, plötzlich freundlich, vielleicht weil ich mich um seine Abfallwühlerei nicht kümmerte.
"Ich schlage den Zettel an. Möchte sie zu meiner Lesung einladen, in meiner Einfahrt. Es gibt Freibier und danach könnten wir alle grillen."
"Aha, Freibier? Gibt es was zu feiern?", feixte er.
Ich überlegte. Ältere Leute konnten sich nicht mehr so auf die Fakten einlassen. Sie filterten. Lesung war unbekanntes Terrain. Man musste sein Publikum zu seinem Glück zwingen.
"Geburtstag. Ich habe Geburtstag, ein kleines Fest mit der Nachbarschaft", sagte ich.
"Ah ja. Werden wir schon vorbei kommen", lächelte er.
Die anderen beiden Zettel schlug ich am Abend an, dann, wenn die Leute vor den Fernsehern hockten, nur so, weil gerade vorher keine Zeit war.
Der Tag der Lesung war ein Traum. Bereits am Morgen war es warm, doch es war nicht diese schwüle Hitze. Ich fuhr zu einer kleinen, ausgezeichneten Privatbrauerei in der Nähe und besorgte zwei Fässer Bier. Die Leute von der Brauerei trugen mir die Fässer zum Wagen und redeten mit mir, als wäre keine Barriere zwischen den Menschen heutzutage, als würde nicht der kleine Mann immer zwischen uns stehen, der redet und redet.
"Was gibts für ne Party heute? Wirst doch wohl deine Bierlieferanten nicht vergessen?", feixte der eine.
Ich war tatsächlich manchmal dort, sie kannten mich. Ich kannte sie nicht.
"Ich hab Geburtstag. Nebenbei mache ich eine kleine Lesung. Es gibt Freibier von sieben bis zwölf", sagte ich.
"Na Geburtstag! Vielleicht kommen wir ja wirklich auf einen Sprung! Gib mir deine Adresse", meinte der mir unbekannte Bayer, ganz untypisch ohne Bierbauch.
Ich gab ihm meine Karte und fuhr nach Hause, machte, ganz untypisch für mich, das Radio an und hörte nicht Klassik.
Als ich ankam, war es kaum achtzehn Uhr. Drei Leute, an die ich mich vage erinnnern konnte, belauerten meine Einfahrt. Sie trugen Plastikgeschirr, das Speisen enthielt.
"Ach wie nett, dass endlich einer eine Siedlungsfeier organisiert!" Frau, dick, Gesicht o.k.
Ich brummte etwas.
"Hallo, ich freue mich schon, kann man auch früher kommen? Wir haben ab achtzehn Uhr einen DJ engagiert, der macht ein wenig Stimmung. Natürlich ist Totenstille während der Lesung!"
Frau schlank, Ballerinas (nicht Ballerinas!), Kind an der einen, Nudelsalat an - in der anderen Hand.
Ich brummte Nichtssagendes, aber eher in die positive Richtigung.
"Ich helfe beim Aufbau! Es kommt ein ganzer Haufen Leute, ich habe zusätzliche Tische und Bänke besorgt. Außerdem wohnt zwei Häuser weiter ein fanatischer Griller, er selbst behauptet, er nimmt an Grillweltmeisterschaften teil", grinste ein beleibter Mann um die 40 mit blondem Haarkranz.
Verdattert nickte ich und ließ mir beim Ausladen der Fässer helfen.
Keine dreißig Minuten später saß ich an an einem Biertisch, auf dem meine Manuskripte lagen, ein erstklassiges, kaltes Bier in einem Glas ohne Henkel neben und eine fünfzigköpfige Menge vor mir, die ausgelassen trank, zu den guten Tracks eines erstklassigen DJ tanzte, dessen Equipment wie von Zauberhand einfach erschienen war und es war warm, aber bewölkt, nein nicht bewölkt, hinter mir hexte der Himmel einen teils faszinierenden, teils gruseligen Hintergrund.
Ich begann mit einem guten Kapitel aus dem Buch. Dann ein paar kleine, fiese Shortstories, die sie zum Lachen brachten. Die Bierleute waren inzwischen da.
Alle lächelten, sie mochten es. Ich holte tief Luft und zog es durch.
"Ich hasse euch. Ich kenne euch nicht und will euch nicht kennen, ihr seid für mich die Quelle all meiner Abgestumpftheit und Tristesse. Ihr seid grau und euer Grau steckt mich an. Ihr seid das Hamsterrad, in dem ich laufe, ihr seid die Wand die zwischen mir und meinen Freunden steht. Ich würde gerne Amok laufen, von Haus zu Haus gehen und zuerst die Haustiere abschlachten (nicht die Katzen), dann eure Kinder, dann euch und ganz am Schluss mich, da ich eure Scheiße nicht mehr von mir runter kriege. Ich ...."
Nun, es ging noch gut zehn Minuten so weiter, der DJ konnte nicht widerstehen und stellte sich auf den Rythmus ein, wob leise ein paar flächige Sounds darunter, die Leute waren aber still und lauschten.
Am Ende war ich schweissgebadet, ich trank vom Bier, das wundersam immer voll war.
Sie applaudierten, nicht geistlos, sondern ehrlich begeistert, der anfänglich zögerliche Applaus steigerte sich und wurde richtig laut, ich saß da und fühlte nichts.
Betäubt schüttelte ich Hände. Dann brachten sie die Geburtstagstorte, ein schönes Stück Zucker, mit der Inschrift: "Alles Gute. Bleib wie du bist!" Ich hielt das "Happy Birthday" nicht ganz durch und entschuldigte mich mit einem Deut auf die Blasengegend. Am Klo weinte ich kurz, lachte dann lange schallend und ging dann ganz locker runter um mit meinen Nachbarn ein paar Bier zu trinken.