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Nachbars Töle
Paul stand unentschlossen und verzweifelt zugleich in der Gemüseabteilung des Supermarktes. Die Preise für frische Kirschen trieben ihm die Tränen in die Augen. Und nur, weil seine Frau für ihn Kirschgötzen zubereiten wollte. Na ja, zugegebenermaßen war das eine seiner Lieblingsspeisen.
Vor einem Jahr war noch alles anders gewesen:
Einen prächtigen Kirschbaum hatten sie in ihrem Garten. Paul ließ nichts umkommen. Schon die ersten reifen Kirschen mussten vom Baum; es war ein Wettrennen gegen die Vögel. Stare, Amseln und Krähen kamen in Scharen, sobald die ersten Früchte rot geworden waren. In früheren Jahren hatte Paul Aluminiumstreifen an Fäden in den Baum gehängt, die dann in der Sonne funkelten. Am Anfang hatte das die Vögel sogar beeindruckt, aber eben nicht lange. Es passierte ihnen ja nichts.
Jedenfalls waren im letzten Jahr auch die ersten Kirschen rot und Paul stieg auf die Leiter. Die Vögel waren ebenfalls im Geäst. Um ihn herum rieselten abgefressene Kerne herunter. Er machte Lärm. Das half. Zumindest für zwei Minuten. Dann kamen die Vögel zurück und ihm eine zündende Idee. Sein Sohn hatte einen dieser neumodischen Lautsprecher, die keine Schnur mehr brauchten und via Bluetooth mit einem Tablet oder Mobiltelefon verbunden werden konnten. Und ganz doof war Paul auch nicht auf dem Gebiet. Er suchte im Internet Hundegebell, das er herunterladen konnte. Dann koppelte er den Lautsprecher mit seinem Smartphone, stellte ihn in eine Astgabel und drehte die Lautstärke auf volle Pulle.
Und dann startete er die Datei. Die Wirkung war grandios. Binnen eines Sekundenbruchteils war kein Vogel mehr im Baum. Paul war bester Laune und pflückte, bis er seinen Eimer voll hatte. Dann plötzlich ein Geräusch: Ein abgefressener Kern fiel herunter. Dann Flügelschläge. Aha, die Quälgeister waren wieder da. Da kam ihm die zweite gute Idee: Er spielte die Datei in einer Schleife ab. Das war zwar ein Riesenkrach in seinem Baum, aber er war die Vögel los. Etwas später dann hörte er ein anderes Geräusch, das nicht an einen Vogel erinnerte.
Scheiße, dachte Paul. Sein Smartphone war ihm aus der Hosentasche gerutscht und hinuntergefallen. Der Verbindung zum Lautsprecher hatte das aber nicht geschadet, und wenn die noch funktionierte, dann war auch das Handy noch heil. Paul pflückte weiter. Das Gebell ging ihm mit der Zeit mächtig auf den Zünder und er wollte es abstellen. Dazu musste er aber von der Leiter steigen, und als er das tun wollte, sah er unter sich einen wie wild kläffenden Köter: Nachbars Töle. Dem muss dieses Gekläffe auch nicht gepasst haben und er wollte dem vermeintlichen Rivalen eins geigen. Nur war da kein Hund, und so bellte er eben einfach mit und brachte sich dabei so richtig in Rage, dass ihm der Schaum an den Lefzen stand. Er war ein richtig scharfer Bolzen und Paul hatte nicht nur Respekt vor ihm.
„Geh’ nach Hause, hier ist nichts“, sagte er zu dem Hund, aber der wurde dadurch nur noch wilder. Er musste seine Frau anrufen, damit die den Nachbarn benachrichtigte. Er griff in die Hosentasche: „Ach Scheiße“, fluchte er. Das Handy lag ja unten. Die Leiter hatte er inzwischen so weit vom Lautsprecher weg an einen anderen Ast gestellt, dass er das Gebell nicht abstellen konnte. Auf den Ästen durch den Baum zu krabbeln, traute er sich nicht. Und so vergingen die Minuten und Paul hoffte, dass doch endlich die Akkus leer würden. Er hätte weinen können und dann tropfte ihm auch noch der Angstschweiß aus der Hose.
Der Nachbar war dann glücklicherweise von der Arbeit gekommen und hatte seinen Hund zu sich geholt und Paul beschimpft, dass er das Tier ja geradezu provoziert habe.
Ach so: Die Vögel. Die hatten sich dann schnell an den Lärm gewöhnt und waren ihrer Lieblingstätigkeit wieder nachgegangen.
Als der Hund weg war, fällte Paul einen folgenschweren Entschluss - und am nächsten Tag den Baum.
Das war vor einem Jahr. Voller Gram legte Paul eine Packung Kirschen in seinen Einkaufswagen und ging damit zur Kasse.