Nachbarn
Nachbarn
Nach dem Abendbrot ging ich daran, meine Pflanzen zu gießen. Nun, da das Frühjahr gekommen war, hatte ich die meisten umgetopft, deshalb schüttete ich etwas Flüssigdünger ins Gießwasser. Meine Yucca-Palme bereitete mir Sorgen. Ihre Blätter fingen an, sich braun zu färben, und die Spitzen spalteten sich. Während ich überlegte, wie die Pflanze zu retten sei, schaute ich aus dem Fenster aufs Nachbarhaus. Von der vierzehnten bis zur sechzehnten Etage konnte ich bequem in alle gegenüberliegenden Wohnungen sehen, und das tue ich oft, wenn ich am Sinnieren bin. Am besten wäre es, die Palme zum Gärtner zu bringen, beschloss ich, denn ich selbst konnte kaum noch etwas ausrichten.
Nachdem ich die Gießkanne abgestellt hatte, setzte ich mich an den Tisch und machte eine Notiz. „Vogel vorläufig im Käfig lassen!“ Es war mir schon einmal passiert, dass ein Wellensittich an den gedüngten Pflanzen geknabbert hatte und an einer Vergiftung gestorben war. Ich heftete den Zettel an die Wand zu den anderen. Zufrieden setzte ich mich in den Fernsehsessel. Es war kurz vor sieben.
Ich musste eingenickt sein, denn die Türglocke ließ mich aufschrecken. Ich erwartete niemanden, und Besuch war ohnehin recht selten. Neugierig ging ich öffnen. Meine Nachbarin stand in der Tür. Letzte Woche erst waren sie, ihr Mann und das Kind eingezogen. Etwas überrascht bat ich die Frau herein und führte sie ins Wohnzimmer. Eilig nahm ich einen Stoß Rätselhefte von der Couch, und sie setzte sich. Ich selbst nahm wieder auf dem Sessel Platz. Mir war unbehaglich. Ich war es nicht gewohnt, Konversation zu machen. Sollte ich ein Getränk anbieten? Es war nur Milch im Haus. Ich fragte nicht. Auch die Frau schien verunsichert. Sie rang die Hände im Schoß. Minutenlang. Endlich aber schaute sie mir ins Gesicht und sagte stockend:
„Es ist wegen meinem Mann.“
Ich wartete ab.
Wir haben schon seit einiger Zeit Probleme, und meine Tochter … für das Kind ist es furchtbar, Sie verstehen?“
Ich nickte, obwohl ich gar nichts verstand.
„Er schlägt sie, wenn er getrunken hat. Manchmal wage ich nicht, sie zur Schule zu schicken, weil man die Schläge sehen kann. Und ich …“
Es fiel ihr schwer, weiterzusprechen.
„Sehen Sie selbst!“
Sie nestelte an den oberen Knöpfen ihrer Bluse und legte den Ansatz ihrer Brüste frei. Die Blutergüsse rührten von Bissen her. Ich konnte die Abdrücke einzelner Zähne erkennen. Sprachlos schüttelte ich den Kopf.
„Heute Abend kam er schon betrunken von der Arbeit, schwer betrunken.“
Sie sprach jetzt schneller, so als wolle sie möglichst bald zum Ende kommen.
„Sein Essen stand bereit. Ich stellte die Suppe vor ihn auf den Tisch. Murrend begann er zu essen, verlangte Brot dazu. Ich holte den Laib aus dem Korb und nahm das Messer. So stand ich hinter ihm und schaute auf seinen geröteten Nacken. Dann stieß ich das Messer hinein.“
Ich hatte ihrem Geständnis mit gesenktem Kopf zugehört und dabei auf ihre Hände gestarrt. Nun blickte ich hoch. Sie hatte nichts mehr zu sagen und, so schien es mir, erwartete auch keine Stellungnahme. Sie hielt meinem Blick gewiss eine Minute lang stand. Dann erhob sie sich. Ich brachte sie zur Tür. Sie reichte mir die Hand und drückte kräftig zu. Dann ging sie zurück in ihre Wohnung, deren Tür die ganze Zeit offen gestanden hatte.