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Nachbarn

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18.05.2012
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Nachbarn

Was war nur geschehen? Ganz unbemerkt, fast heimlich, war es passiert. Niemand hatte es bemerkt, niemand hatte es bemerken wollen, niemand hatte sich auch nur einen Dreck darum geschert. Uns allen war es doch eher eine Last gewesen. Der plärrende Fernsehapparat, das schmerzvolle Husten und Stöhnen, alles mitten in der Nacht und nur gedämpft durch den bröckelnden Beton der dünnen Wand. Der beißende Geruch, hervorquellend aus den Ritzen unter verblichenem Holz, verursacht bloß durch mangelnde verbliebene Selbstständigkeit.
Viele Jahre lebte man im selben Haus, auf derselben Etage, Seite an Seite und hätte doch nicht weiter voneinander entfernt sein können. Anteilnahme am Leben des anderen, galt es um jeden Preis zu vermeiden.
Wie war es denn, bei den zahllosen Begegnungen? Suchten wir nicht schnell einen willkürlichen Fixpunkt plötzlichen Interesses, beschleunigten unseren Schritt und murmelten im Vorbeihetzen ein gequältes „Hallo…“, nur um nicht in die unangenehme Situation eines kurzen Gesprächs zu geraten? Aus Angst, wir könnten in zwei knappen Sätzen intime Informationen austauschen, welche aus zwanghaften Fremden einfache Fremde machen würden.

Es läutete schrill an der Tür. Sechs Uhr morgens, mit dem Kreischen der Klingel begann das Herz zu rasen und im Bruchteil einer Sekunde wechselte mein Körper von Ruhe zu Realität. Auf dem Weg zur Tür, mit der Schlaftrunkenheit kämpfend, stolperte auch mein Geist langsam dem Wachzustand entgegen. Mit einer Hand schützend über die Augen gelegt öffnete ich.

Eine junge Frau sah mich mit besorgter Miene an. „Guten Morgen. Bitte entschuldigen Sie die frühe Störung, ich komme vom mobilen Pflegedienst. Haben Sie Herrn Schramm in letzter Zeit gesehen?“ „H-Herrn Schramm“, stotterte ich, von der Frage etwas überrumpelt. Zäh fließend begann mein Gehirn die nötigen Informationen aus meiner Erinnerung zusammenzusuchen. “Nun…nein, ich…ich glaube ich habe ihn schon seit einigen Tagen nicht mehr gesehen. Warum fragen Sie?“ „Ich komme täglich um ihm etwas im Haushalt zur Hand zu gehen und seine Medikamente und das EKG zu überprüfen“, antwortete sie. „Wir haben uns doch neulich im Hof gesehen, erinnern sie sich?“ Ob es nun an der Müdigkeit lag, oder ob sie mich verwechselte, ich erinnerte mich nicht. Sie fuhr fort: „Jedenfalls hat Herr S. heute auf mein Klingeln und Klopfen nicht reagiert und ich bin etwas besorgt. Wissen Sie, ob er verreist sein könnte?“ Ich zögerte einen Moment, dann antwortete ich: „Ich habe keine Ahnung, tut mir leid. Ich kann mich jedoch nicht erinnern, dass ich jemals mitbekommen hätte, dass er verreist wäre. Soweit ich weiß, hat er auch so gut wie nie Besuch empfangen.“ Sie nickte betrübt und die Sorgenfalten auf ihrer Stirn schienen sich noch zu vertiefen. „Ich verstehe“, sagte sie knapp. „Trotzdem vielen Dank und nochmal: Entschuldigung für die Störung.“

Sie drehte sich um, zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche und ging langsam die Treppe hinunter. Vermutlich würde sie versuchen, mögliche Verwandte des alten Mannes zu erreichen. Ich verharrte noch einen Moment im Hausflur, dann schloss ich die Tür und stapfte in die Küche.

Während ich mir einen Kaffee aufbrühte, grübelte ich über das gerade geführte Gespräch. Ich hatte ihn tatsächlich seit Tagen nicht mehr gesehen und bei genauerer Betrachtung, hatte ich auch seit längerem keine Geräusche mehr aus der Nachbarwohnung vernommen. Dabei war sonst zumindest das Fernsehprogramm eine allzeit präsente Klangquelle gewesen. Mir wurde etwas flau und mein Magen verkrampfte sich leicht. Sollte es tatsächlich so sein? Was für ein schrecklicher Gedanke. Und niemand hätte es bemerkt?

Einen Augenblick lang stand ich an die Mauer gelehnt, wie in Trance. Nach einer Weile schaltete ich den Fernsehapparat ein und merkte nicht, wie das flimmernde Bild meine Sorgen langsam aber sicher davon trug. Auf der anderen Seite der Wand lehnte ebenfalls ein Körper, leblos und über ein Stück Papier gebeugt. Es war ein handgeschriebener Brief, an eine junge Frau gerichtet. Seine Tochter. Er hatte ihn nie abgeschickt – und würde es auch nicht mehr tun.

Als ich am späten Nachmittag von der Arbeit nach Haus kam, standen Notarzt- und Leichenwagen in der Einfahrt zum Hof. Ich zwängte mich zwischen den Fahrzeugen und der Hauswand hindurch und stieg langsam die knarrende Holztreppe zu meiner Wohnung empor. Die Tür der Nachbarwohnung stand weit offen, doch in den Räumen dahinter war es zu dunkel, um etwas zu erkennen. Der furchtbare Gestank von Verwesung lag in der Luft. Wie ein Blitz fuhr mir schlagartig die Erinnerung an das morgendliche Gespräch in den Kopf. Es war also wahr?
Wie angewurzelt stand ich einige Minuten auf der Treppe und starrte in die Türöffnung. Wie aus einer klaffenden Wunde schien die Schwärze darin nach mir zu greifen.

Der Notarzt riss mich aus meiner Starre. „Würden Sie bitte etwas zur Seite treten? Vielen Dank!“ In einen Leichensack gehüllt, trugen zwei junge Männer den Körper des alten Mannes aus dem Haus. Sie schienen völlig unbeeindruckt zu sein, einer von ihnen riss sogar einen geschmacklosen Witz. Geschockt sah ich ihnen nach. Ich stieg hinab zum Fenster des Treppenhauses und beobachtete, wie sie die Bare mit dem schwarzen, gewölbten Sack darauf in den Leichenwagen luden. Als beide Fahrzeuge vom Hof rollten und langsam hinter der Kurve verschwanden, stieg ich die Treppe hinauf zu meiner Wohnung. Ich trat ein und schloss die Tür hinter mir. Für ein paar Sekunden verharrte ich dort, dann drehte ich den Schlüssel im Schloss und kehrte zurück in mein anonymes Leben.

 

Hallo Johnny

Jetzt bin ich schneller in deine Geschichte eingestiegen, als es der zufällige Ablauf vielleicht mit sich gebracht hätte. Aufgefallen war mir der Titel schon am Freitag, mit Vermerk im Hinterkopf, “noch zu lesen“.

Der Titel ist kurz und prägnant, aber nicht stark animierend. Dies ist insofern der Sache nicht gerecht, da sich dahinter eine realistische Erzählung verbirgt, in welcher sich mancher Leser vielleicht selbst auch wiederfinden kann.

Was war nur geschehen? …

Zur Einleitung versuchst du gleich, die Neugierde des Lesers zu wecken. An sich ein effektives Vorgehen, doch zog der ganze Passus bei mir nicht gleich. Spannung kam mir erst auf, als es an der Tür klingelte, meine Erwartung auf ein anderes Handlungsgeschehen sich zu erfüllen versprach. Es traf auch zu, dass vom Beschreibendem abgewichen wurde und Aktivität, sowie ein Dialog auftrat. Nicht, dass die vier vorgehenden Abschnitte an sich überflüssig wären, es sind die Hintergrundinformationen, aber sie gaben mir so dargestellt zu wenig Reiz. Dieser könnte sich etwa dadurch einstellen, wenn die Gedanken des Protagonisten kursiv gesetzt sind und mehr abheben, er sich innerlich konkreter mit seinen Nachbarn auseinandersetzt, vielleicht einen Reibungspunkt erinnert, den er mit seinem Nachbarn austrug.

Die folgenden Absätze sind wieder in der Erzählform geführt, was bei dieser Geschichte natürlich durch den Handlungsablauf dirigiert ist, sie gewinnen durch das Geschehen aber an Intensität.

Ein Sanitäter riss mich aus meiner Starre.

Die Situation, dass der Verstorbene durch einen Sanitäter weggebracht wurde, erscheint mir nicht realistisch. In der gegebenen Situation wäre ein Arzt beigezogen worden, welcher wiederum einen Leichentransporter und nicht einen Krankenwagen aufgeboten hätte? Eine geschlossene Metallbahre in einem Krankenwagen ist höchst unwahrscheinlich eher noch ein Leichensack.

Trotz der angemerkten Bedenken habe ich die Geschichte sehr gern gelesen. In ihrer gesellschaftskritischen Ausrichtung war sie mir thematisch nicht neu, aber sympathisch.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Salü Johnny

Ich gehe noch weiter als Anakreon und sage: Streiche die ersten vier Absätze, die brauchts nicht, stehen sie doch zwischen den Zeilen der darauf folgenden Geschichte.

Entgegen deiner anderen Geschichte (Großstadtromantik), ist hier viel mehr Fahrt drin, was durch die Dialoge und weniger schwülstige Erzählweise erreicht wird.

Und bitte, bitte, gebe dem Herrn S. einen Namen.
Sommer wäre schön, ist doch keine Polizeimeldung hier, denn die Anonymität wird durch die Rückfrage deines Prots aufgedeckt, z.B.:
„Herrn ... Sommer?“, stotterte ich, von der Frage völlig überrumpelt.

(Ab dem 5. Absatz) Gerne gelesen ;)
Gruss dot

 

Hallo Dot, Hallo Anakreon! :)

Vielen Dank erstmal für eure Hinweise! Es freut mich, dass diese Geschichte euch erreichen konnte! Ich habe mir eure Vorschläge sogleich zu Herzen genommen und die Geschichte ein wenig umgeschrieben.

Die ersten vier Absätze komplett zu streichen...dazu konnte ich mich nicht durchringen, erscheinen sie mir doch essenziell für den weiteren Ablauf. :D Ich habe trotzdem den Rotstift angesetzt und den Einstieg etwas gekürzt. Außerdem hat mir Anakreons Vorschlag, diese ersten Absätze kursiv zu schreiben, um sie als Gedanken des Prots kenntlich zu machen, sehr gut gefallen. Ich habe auch das umgesetzt.

Dem alten Herrn habe ich ferner einen Namen gegeben, es dreht sich nun alles um das Ableben des Herrn Schramm. :)

Vielen Dank für den Hinweis auf die Inkonsistenz des Schlusses, denn natürlich ist es absoluter Unfug, dass der Tote von Sanitätern in einen Krankenwagen geladen wird! :D Auch diesen Teil habe ich überarbeitet.

Ich werde die ursprüngliche Geschichte hier durch die überarbeitete Fassung ersetzen und wäre erfreut, nochmals eure Meinung zu hören!

Vielen Dank vorab und viele Grüße!
Johnny

 

Hallo Johnny

Der Einstieg zieht mich als Leser noch immer nicht recht rein, obwohl die Worte als Gedanken des Protagonisten nun stärker aufscheinen, es ist die Monologe Fülle. Dot. hat schon recht, ein Wegfall dieser und ein direktes Eintauchen in die Handlung würde mehr Zugkraft geben. Da dir diese Retrospektive aber wichtig ist, wäre mir eine Auflockerung der Gedanken des Prot. durch eine Erzählstimme denkbar. Doch sollte es nicht zu ausführlich sein - jetzt ist es noch erdrückend viel - und das Geschehen nicht vorwegnehmen. Der eine oder andere Gedanke liesse sich ja auch direkt in die Handlung einbauen.

Bei den Dialogen würde ich zudem den Sprecherwechsel mit einer Zeilenschaltung verdeutlichen. Im Moment liest es sich wie ein Fliessbandtext, bei dem man aufpassen muss, wer was sagt.

Nun…nein, ich…ich glaube ich habe ihn schon seit einigen Tagen nicht mehr gesehen.

Vor und nach Auslassungszeichen gemäss Regel ein Leerschlag. Ausnahme bildet einzig ein unvollendetes Wort.

„Trotzdem vielen Dank und nochmal: Entschuldigung für die Störung.“

Diese Redewendung ist gang und gäbe, doch ich:pah: finde sie unüberlegt und falsch. Der Gegenüber muss nämlich gar nichts, schon gar nicht entschuldigen. Die Sprecherin kann ihn allenfalls höflich darum ersuchen, was dann so klingt: Entschuldigen Sie bitte die Störung. Bei einer Geschichte, in der die auftretenden Personen mangelhaft sozialisiert sind, wäre dies natürlich hinfällig. Bei Angestellten eines mobilen Pflegedienstes setze ich diese Förmlichkeit aber voraus, zu Beginn des Gesprächs tat sie es auch.

Sie fuhr fort: „Jedenfalls hat Herr S. heute auf mein Klingeln und Klopfen nicht reagiert und ich bin etwas besorgt.

Bei einer direkten Rede – bin ich zumindest der Meinung – sollten keine Abkürzungen ausgewiesen sein. Es ist wörtliche Wiedergabe, sodass man selbst Titel wie etwa Dr. als Doktor ausschreiben sollte.

Der furchtbare Gestank von Verwesung lag in der Luft.

Der Geruch von Verwesung ist wirklich schrecklich, aber hier stellt mir der Satz ein Handicap in der Logik dar. Die junge Frau erwähnte, dass sie täglich vorbeikommt, um Herrn Schramm zur Hand zu gehen und die Werte des EKG zu prüfen. Die innere Zersetzung des Körpers beginnt zwar mit dem Todeseintritt, doch die äusserlich sichtbaren Auswirkungen und der typische Geruch tritt auch bei warmer Temperatur erst nach Tagen ein. Vielleicht kommt ja ein muffiger Geruch aus der Wohnung, der dem Prot. die Assoziation zu Verwesung gibt.

Ich stieg hinab zum Fenster des Treppenhauses und beobachtete, wie sie die Bare mit dem schwarzen, gewölbten Sack darauf in den Leichenwagen luden.

Hier hat sich noch ein „h“ verkrümelt. :D Ganz überzeugen vermag mich die Szene noch nicht. Ein Leichensack kommt zum Einsatz, wo die Platzverhältnisse den Einsatz der Totenbahre nicht erlauben.

Gefühlsmässig haben deine bisherigen Änderungen sich ausgezahlt, auch wenn ich nun beinah mehr Einwände bringe als bei der ersten Version. Doch ich denke, mit noch einigen Wendungen kannst du der kleinen Geschichte einen sehr guten Schliff geben.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

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