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Nachbarn
Was war nur geschehen? Ganz unbemerkt, fast heimlich, war es passiert. Niemand hatte es bemerkt, niemand hatte es bemerken wollen, niemand hatte sich auch nur einen Dreck darum geschert. Uns allen war es doch eher eine Last gewesen. Der plärrende Fernsehapparat, das schmerzvolle Husten und Stöhnen, alles mitten in der Nacht und nur gedämpft durch den bröckelnden Beton der dünnen Wand. Der beißende Geruch, hervorquellend aus den Ritzen unter verblichenem Holz, verursacht bloß durch mangelnde verbliebene Selbstständigkeit.
Viele Jahre lebte man im selben Haus, auf derselben Etage, Seite an Seite und hätte doch nicht weiter voneinander entfernt sein können. Anteilnahme am Leben des anderen, galt es um jeden Preis zu vermeiden.
Wie war es denn, bei den zahllosen Begegnungen? Suchten wir nicht schnell einen willkürlichen Fixpunkt plötzlichen Interesses, beschleunigten unseren Schritt und murmelten im Vorbeihetzen ein gequältes „Hallo…“, nur um nicht in die unangenehme Situation eines kurzen Gesprächs zu geraten? Aus Angst, wir könnten in zwei knappen Sätzen intime Informationen austauschen, welche aus zwanghaften Fremden einfache Fremde machen würden.
Es läutete schrill an der Tür. Sechs Uhr morgens, mit dem Kreischen der Klingel begann das Herz zu rasen und im Bruchteil einer Sekunde wechselte mein Körper von Ruhe zu Realität. Auf dem Weg zur Tür, mit der Schlaftrunkenheit kämpfend, stolperte auch mein Geist langsam dem Wachzustand entgegen. Mit einer Hand schützend über die Augen gelegt öffnete ich.
Eine junge Frau sah mich mit besorgter Miene an. „Guten Morgen. Bitte entschuldigen Sie die frühe Störung, ich komme vom mobilen Pflegedienst. Haben Sie Herrn Schramm in letzter Zeit gesehen?“ „H-Herrn Schramm“, stotterte ich, von der Frage etwas überrumpelt. Zäh fließend begann mein Gehirn die nötigen Informationen aus meiner Erinnerung zusammenzusuchen. “Nun…nein, ich…ich glaube ich habe ihn schon seit einigen Tagen nicht mehr gesehen. Warum fragen Sie?“ „Ich komme täglich um ihm etwas im Haushalt zur Hand zu gehen und seine Medikamente und das EKG zu überprüfen“, antwortete sie. „Wir haben uns doch neulich im Hof gesehen, erinnern sie sich?“ Ob es nun an der Müdigkeit lag, oder ob sie mich verwechselte, ich erinnerte mich nicht. Sie fuhr fort: „Jedenfalls hat Herr S. heute auf mein Klingeln und Klopfen nicht reagiert und ich bin etwas besorgt. Wissen Sie, ob er verreist sein könnte?“ Ich zögerte einen Moment, dann antwortete ich: „Ich habe keine Ahnung, tut mir leid. Ich kann mich jedoch nicht erinnern, dass ich jemals mitbekommen hätte, dass er verreist wäre. Soweit ich weiß, hat er auch so gut wie nie Besuch empfangen.“ Sie nickte betrübt und die Sorgenfalten auf ihrer Stirn schienen sich noch zu vertiefen. „Ich verstehe“, sagte sie knapp. „Trotzdem vielen Dank und nochmal: Entschuldigung für die Störung.“
Sie drehte sich um, zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche und ging langsam die Treppe hinunter. Vermutlich würde sie versuchen, mögliche Verwandte des alten Mannes zu erreichen. Ich verharrte noch einen Moment im Hausflur, dann schloss ich die Tür und stapfte in die Küche.
Während ich mir einen Kaffee aufbrühte, grübelte ich über das gerade geführte Gespräch. Ich hatte ihn tatsächlich seit Tagen nicht mehr gesehen und bei genauerer Betrachtung, hatte ich auch seit längerem keine Geräusche mehr aus der Nachbarwohnung vernommen. Dabei war sonst zumindest das Fernsehprogramm eine allzeit präsente Klangquelle gewesen. Mir wurde etwas flau und mein Magen verkrampfte sich leicht. Sollte es tatsächlich so sein? Was für ein schrecklicher Gedanke. Und niemand hätte es bemerkt?
Einen Augenblick lang stand ich an die Mauer gelehnt, wie in Trance. Nach einer Weile schaltete ich den Fernsehapparat ein und merkte nicht, wie das flimmernde Bild meine Sorgen langsam aber sicher davon trug. Auf der anderen Seite der Wand lehnte ebenfalls ein Körper, leblos und über ein Stück Papier gebeugt. Es war ein handgeschriebener Brief, an eine junge Frau gerichtet. Seine Tochter. Er hatte ihn nie abgeschickt – und würde es auch nicht mehr tun.
Als ich am späten Nachmittag von der Arbeit nach Haus kam, standen Notarzt- und Leichenwagen in der Einfahrt zum Hof. Ich zwängte mich zwischen den Fahrzeugen und der Hauswand hindurch und stieg langsam die knarrende Holztreppe zu meiner Wohnung empor. Die Tür der Nachbarwohnung stand weit offen, doch in den Räumen dahinter war es zu dunkel, um etwas zu erkennen. Der furchtbare Gestank von Verwesung lag in der Luft. Wie ein Blitz fuhr mir schlagartig die Erinnerung an das morgendliche Gespräch in den Kopf. Es war also wahr?
Wie angewurzelt stand ich einige Minuten auf der Treppe und starrte in die Türöffnung. Wie aus einer klaffenden Wunde schien die Schwärze darin nach mir zu greifen.
Der Notarzt riss mich aus meiner Starre. „Würden Sie bitte etwas zur Seite treten? Vielen Dank!“ In einen Leichensack gehüllt, trugen zwei junge Männer den Körper des alten Mannes aus dem Haus. Sie schienen völlig unbeeindruckt zu sein, einer von ihnen riss sogar einen geschmacklosen Witz. Geschockt sah ich ihnen nach. Ich stieg hinab zum Fenster des Treppenhauses und beobachtete, wie sie die Bare mit dem schwarzen, gewölbten Sack darauf in den Leichenwagen luden. Als beide Fahrzeuge vom Hof rollten und langsam hinter der Kurve verschwanden, stieg ich die Treppe hinauf zu meiner Wohnung. Ich trat ein und schloss die Tür hinter mir. Für ein paar Sekunden verharrte ich dort, dann drehte ich den Schlüssel im Schloss und kehrte zurück in mein anonymes Leben.