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Nachbar mit Fernrohr
In der Küche stieg Dampf auf. Claudia kochte Nudeln, briet Zwiebeln und Knoblauch, schmolz einen Käse in der Pfanne. Sie trug ein Sommerkleid, aber ihre Arme waren winterblass – zierliche Arme mit einer Uhr am Handgelenk und Pigmentflecken auf der Schulter.
Jenseits der Straße saß Thore am Fernrohr. Sanft drückte das Okular auf sein Auge und sein Blick schwenkte mit, als Claudia vom Herd zum Küchentisch lief. Sie trank frisch gepressten Orangensaft, direkt aus der Schnabeltasse. Dabei fiel ihr Haar ewig den Rücken hinab, schwarze Strähnen auf buntem Stoff, Thore kaute auf seiner Oberlippe. Er wartete darauf, dass Claudia ins Wohnzimmer ging. Auf dem Sofa neben ihm lagen zwei aufgefaltete Taschentücher, seine Hose stand offen, das Gürtelende seitlich weg gespreizt wie eine Schlange. Auf dem Plattenspieler lief Billie Holiday.
Claudia löschte das Licht in der Küche und ging ins Wohnzimmer. Mit einem dampfenden Teller auf dem Schoß saß sie vorm Fernseher und das Licht flackerte über ihr Gesicht wie Geisterwesen. Thore griff sich in die Boxershort, pulsierende Hitze zwischen seinen Fingern.
Als die Taschentücher zerknüllt und vollgesogen unterm Sofa lagen, fingerte Thore nach dem Weinglas auf dem Beistelltisch – das Gesöff schmeckte widerlich und er schwor sich, nächstes Mal Wein in Flaschen zu kaufen und nicht im Tetrapack. Er fühlte sich leer und entspannt und die Zeit gerann, während er in den Halbschlaf glitt. Die Bilder des Tages zogen vorüber, Schnappschüsse von der Uni, der Fußgängerzone, von Dennis, alle verwaschen und nostalgisch, wie Amateuraufnahmen aus den Sechzigern.
Dennis war am Nachmittag zu Besuch gewesen. Sie hatte über Claudia gesprochen – ein Gespräch, das in Endlosschleife die immer gleichen Argumente durchkaute: Thore solle sie ansprechen, Thore sei gar nicht an einer Beziehung interessiert, Thore solle sich trauen, Thore finde das Beobachten weit besser. Er bemerkte kaum, dass Claudia vom Fernseher zum Computer wechselte, nur das Licht wurde schwächer und monoton.
Claudia stand auf einem Küchenstuhl. Sie knüpfte ein Seil an einen Haken in der Decke. Sie arbeitete gewissenhaft und ließ sich Zeit. Sie ruckte am Seil, um den Halt zu prüfen. Sie stieg vom Stuhl und kehrte zum PC zurück. Sie setzte sich nicht, sondern blieb stehen, wie jemand, der nur eine Mail verschickt. Sie trank Vodka aus der Flasche. Sie schaltete PC und Bildschirm aus. Sie sah sich im Zimmer um, prüfend wie eine Hausfrau nach dem Putzen. Sie stieg auf den Küchenstuhl. Sie knotete aus dem Seilende eine Schlinge.
„Scheiße!“
Mit fünf Schritten war Thore aus der Wohnung. Wie Fremdkörper eilten seine Füße die Stufen hinab und ständig die Gefahr zu stolpern und als Haufen gesplitterter Knochen auf dem Treppenabsatz zu enden. Aber er kam heil nach unten, kam heil über die Straße – eine Hupe jaulte ihm nach und der Fahrer schrie Unflätiges in die Nacht. An der Haustür klingelte Thore Sturm, in einer Abwärtsbewegung drückte er ein dutzend Knöpfe. Der Türsummer sprang an und Thore sprintete aufwärts, vorbei an Frau Samjok, die im Nachthemd aus ihrem Türspalt äugte. „Was ist denn passiert?“
„Rufen Sie die Polizei! Den Hausmeister! Irgendwen!“
Er stürmte weiter, immer rum im Karree, rum im Karree, und auf jedem Absatz spähten Gesichter wie Gnome aus den Türen. Mit hämmernden Herzen erreichte er ihre Tür, Würgen in Hals und Magen.
„Claudia! Mach die Tür auf. Scheiße. Tu’s nicht. Mach die Tür auf. Claudia.“ Er warf sich mit voller Wucht gegen die Tür und die Tür öffnete sich. Vor ihm ragte ein Hüne auf, ein rasierter Schädel, ein wuchernder Bart, 100 Kilo Kampfgewicht und Tattoos auf Hals und Oberarmen. „Fuck!“ Thore stolperte die letzte Treppe hinauf. Ein hastiger Blick aufs Namensschild, bevor er sich gegen die Tür warf und nichts passierte. Beim zweiten Versuch krachte seine Schulter und er schrie und taumelte zurück. Mit den Fäusten schlug er gegen die Tür und beachtete die Gesichter nicht, die übers Treppengeländer spähten. Schwer und endgültig legte sich eine Hand auf seine Schulter; hinter ihm stand der Hüne. „Weg da.“
„Nein … ich … Claudia …“ Der Hüne knallte ihm eine, dass sein Nacken knackte. Thore schlug der Länge nach hin, schmierte mit dem Gesicht über kalten Stein. Völlig weggetreten sah er noch, wie der Hüne die Tür mit einem Brecheisen aufhebelte und in der Wohnung verschwand. Thore lehnte sich an die Wand, zu schwach, um aufzustehen. Minuten später kehrte der Hüne zurück, zitternd und bleich unterm Bart. Die Gesichter am Treppengeländer rückten näher.
Um den Sarg drängten sich Grabkränze und Blumengewinde. Durch ein Fenstertriptychon fiel buntgefärbtes Licht bis auf die ersten Sitzreihen, wo schwarz in schwarz gekleidet Claudias Familie weinte. Die Luft war mit Weihrauch gesättigt und dem Geruch nach Kerzenwachs. Thore saß ganz am Ende der Kapelle und hielt Abstand zu den Trauergästen, die gramgebeugt vorüberschritten – er fühlte sich als Fremder und Störenfried.
Leise Orgelmusik hob an, der Pfarrer erschien. Seine Schuhe quietschten auf dem Steinboden. Er trat an die Kanzel und sortierte seine Rede, aber der Papierstapel glitt ihm aus den Händen und die Seiten segelten wie Schmetterlinge durchs staubige Licht. Mit einem gequälten Lächeln fischte der Pfarrer die Blätter vom Parkett. Die Orgelmusik wurde lauter und die Trauergemeinde sang ein Lied von Gott und von Heimkehr. Nur Thore schwieg. Er dachte an Claudia im Sarg, die Hände um ein Kreuz gefaltet, die Striemen am Hals verdeckt vom Grabgewand, und wäre sich falsch vorgekommen, zu singen.
Drei Moll-Akkorde beendeten das Lied. Der Pfarrer räusperte sich und begann seine Rede. Er sprach von Gott, von Tod, Trauer und Auferstehung – Worthülsen bloß, Phrasen, die nur an der Oberfläche kratzen, darunter blieb alles dunkel und unverstanden. Erst als der Pfarrer von Claudia erzählte, hörte Thore zu. Mit vierzehn wurde sie konfirmiert, ein aufgewecktes Mädchen mit Zahnspange und Zöpfen. Anschließend blieb sie der Kirche treu und fuhr Jahr für Jahr mit der Jugendgruppe ins Ausland, nach Kroatien und Korsika, wurde schließlich selbst zur Aufsichtsperson.
Der Pfarrer erzählte von ihren Freunden, es mussten viele gewesen sein, und Thore dachte an die Claudia, die einsam kochte und einsam im Wohnzimmer saß, das Gesicht flackernd beleuchtet. Wann war der Bruch gekommen? Beim Studium? Später, während der Arbeit? Vielleicht war es eine unglückliche Liebe gewesen, vielleicht eine Fehlgeburt, von der niemand wusste oder niemand sprach. Vielleicht war auch nichts passiert und nur die Jahre fraßen langsam die alten Freundschaften, bis nichts mehr blieb außer Arbeit und Fernsehen. Letztlich bekam Thore kein Bild zusammen. Er hörte Dinge über eine Fremde.
Die Sargträger kamen, sechs fesche Kerle in Schwarz, die abends sicher auf Frauenjagd gingen – Thore fand die Vorstellung befremdlich.
Auf dem Friedhof schien die Sonne und der Trauerzug kroch über staubigen Kies. Thore blieb auf Abstand und las im Vorübergehen die Inschriften der Grabsteine, verwitterte Zeugnisse vergangener Zeit. Vor ihm zählten sich zwei alte Männer die Freunde und Bekannten auf, die seit dem letzten Treffen gestorben waren. Zwischendrin kamen sie auf Claudia zurück. „Armes Ding. So jung.“ „Und Selbstmord. Die arme Mutter.“ „Gut, dass wir keine Kinder haben.“ „Jaja. Keine Kinder.“
Thore schwitzte in seinem Anzug.
Die Prozession hielt und der Pfarrer sprach letzte Worte und der Sarg sank in die Erde. Die Trauergäste kondolierten der Familie, Vater, Mutter, Schwester, und warfen Erde ins Grab, prasselnder Aufschlag in der Tiefe. Thore verharrte abseits.
Vorm Club schwamm die Straße in Laternenlicht. Schatten trieben hindurch wie Fische: ein Obdachloser mit filzigem Haar, ein Pärchen, das sich lautstark auf Spanisch stritt, eine Gruppe betrunkener Asiaten. Thore atmete bewusst langsam. In seinem Magen rebellierte der Alkohol, beißender Schmerz und beißende Übelkeit, und er überlegte sich, ob er eine Ecke suchen sollte zum Kotzen. Keine zwei Meter entfernt schleusten die Türsteher Gäste in den Club. Sie warfen ihm drohende Blicke zu.
„Hey, alles in Ordnung?“ Dennis trat neben ihn. „Du siehst echt scheiße aus.“ Er legte Thore eine Hand auf die Schulter, sah ihm von unten her ins Gesicht. Er trug ein T-Shirt, auf dem sich ein Model den Zeigefinger unter die Nase hielt, auf den Finger war ein stilisierter Schnurrbart geklebt.
„Mhm.“
„Musst du kotzen?“
Thore wehrte ab. „Geht schon.“
„Sollen wir gehen?“
„Warten nicht die Mädchen auf dich?“
„Die kommen schon klar.“
Sie liefen die Straße hinab, vorbei an Schaufenstern, in denen Neonröhren fahles Licht auf Plastikpalmen warfen, auf Kleiderpuppen, auf Dildophalanxen und Porno-Blu-Rays. Gänsehaut kroch über Thores Arme. Er blickte zum Himmel hinauf, wo nur der Widerschein der Stadt zu sehen war, keine Sterne, kein Mond, nur das Blinken eines Flugzeugs im Landeanflug. Schwindel überkam ihn. Sein Kopf kippte nach vorne und zwei Kerle füllten sein Blickfeld. Selbst in Hemden gezwängt – das eine war lila, das andere rot - wirkten sie wie Schläger: Auf Anabolikamuskeln prangten Tattoos, sie hatten weder Haare noch Augenbrauen. „Habt ihr mal Feuer?“
Dennis zückte sein Feuerzeug und die Flamme erhellte frisch rasierte Wangen. „Dein Kumpel sieht fertig aus.“
„Ne Bekannte ist gestorben“, erwiderte Dennis.
„Mein Beileid. Ist echt scheiße, so was.“ Sie patschten Thore auf die Schulter - schwer wogen ihre Hände, schwer ihre Blicke - verabschiedeten sich und verschwanden die Straße hinab, zwei massige Gestalten, die Irrlichter jagten.
„Hast du schon mal überlegt, dich umzubringen?“, fragte Thore.
„Klar.“ Dennis hob die Schultern. „Jetzt schau nicht so. Ich glaub nicht, dass das so komisch ist.“ Er fischte eine Packung Zigaretten aus der Hosentasche.
„Kann ich eine?“, fragte Thore.
„Seit wann rauchst du?“
„Ist doch egal.“
Thore steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und Dennis gab Feuer. Heiß und kratzig füllte der Rauch seine Lungen und, während er die Zigarette ungeschickt zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, fühlte er sich cool.
„Wie würdest du es machen?“, fragte er.
Dennis grinste, aber es wirkte nicht überzeugend. „Ich würde im Bad alle Abläufe verstopfen und das Wasser aufdrehen. Dann setzte ich mich vor den Fernseher. Vielleicht schau ich einen Film von Kusturica. Arizona Dream zum Beispiel.“
Sie kamen an einem umgestürzten Glascontainer vorbei. Flaschen und Joghurtgläser glitzerten im Gelblicht, und davor stand ein Pfandsammler, von Ehrfurcht ergriffen und viel zu betrunken, um zu kapieren, dass ihm dieses Scherbenmeer keinen Cent bringen würde.
„Ich rauche einen Joint. Ich trinke Absinth. Auf dem Tisch neben mir steht diese Beistelllampe. Die, die du so hässlich findest. Ich hab das Kabel durchgeschnitten und halt das Ende in der Hand.“ Seine Faust ballte sich um ein Kabelstück.
„Der Stecker steckt in der Steckdose und das Wasser kommt näher. Ich bin dann schon total breit und dreh den Fernseher voll auf. Das Wasser kommt an meine Füße. Und wenn das ganze Zimmer voller Wasser ist, lasse ich das Kabel fallen. Meine Wohnung ist ziemlich alt, da rettet mich keine Sicherung.“
Sie standen vor der Haustür und rauchten noch eine Zigarette, bevor sie durchs dunkle Treppenhaus aufwärts stiegen – die Beleuchtung war seit Tagen kaputt und keine Reparatur in Sicht, denn mit Lungenentzündung lag der Hausmeister im Krankenhaus. Dennis lief vorneweg und Thore sah seinen Schatten und hörte ihre gemeinsamen Schritte, leise und schlurfend, und fühlte sich wie ein Geist, schwerelos und ohne Zeitgefühl. Sie erreichten die Wohnungstür. Thore kramte nach dem Schlüssel.
Drinnen roch die Luft abgestanden, als wäre seit Tagen nicht gelüftet worden. Sie setzten sich ins Wohnzimmer. Nach dem Treppenhaus wirkte das Deckenlicht grell und unnatürlich. Thore senkte den Blick. Dennis ging in die Küche und brachte zwei Gläser mit Wasser.
„Komm schon, dann geht’s dir besser.“
„Manchmal bist du echt wie meine Mutter.“ Aber er trank das Wasser.
„Such dir halt ne Freundin. Dann übernimmt die das.“
„Ich kann es mir einfach nicht vorstellen. Also den letzten Schritt. Davor, kein Problem. Ich steige auf den Stuhl, ich mach eine Schlinge ins Seil. Das ist irgendwie ganz normal. Das ist Alltag. Ich stecke meinen Kopf durch die Schlinge. Ich spüre das Seil um meinen Hals. Jetzt ist es schon was anders, es ist beängstigend. Aber ich kann es mir vorstellen. Ich hab da einen Zugang. Aber dann … Wie kommt man dazu, den letzten Schritt zu machen, den Schritt runter vom Stuhl? Wie schafft man es, den Stuhl umzuwerfen? Ich versuch die ganze Zeit dahinter zu kommen. Mir das plausibel zu machen. Aber alles bleibt leer. Wie in einem Traum, wenn hinter der Tür etwas Bedrohliches, Dunkles lauert, aber man nicht weiß, was es ist. Und wenn man die Tür schließlich öffnet, wacht man auf.“
Er schloss die Augen und ließ sich in die Sofalehne fallen. Rot und gelb schien Licht durch seine Lider. Seine Lungen fühlten sich kratzig und verschleimt an, als müsste er spachtelweise Teer aus seinen Bronchien kratzen.
„Stell dir vor, du willst mir erzählen, wie es ist, eine Frau zu küssen.“ Dennis klang wie früher sein Vater beim Vorlesen von Gutenachtgeschichten mit einer Stimme sanft und rau wie eine Muskatnussreibe – bei Dennis war das ganze freilich die Folge von Alkohol und Zigaretten.
„Du kommst da nicht weit. Du kannst zwar sagen, dass du das Mädel umarmst, dass du den Mund öffnest, mit der Zunge in ihr herumwühlst, dass du vielleicht schmeckst, was sie gegessen hat. Aber was bringt das? Ich hab immer noch keine Ahnung. Und daran ändert sich nichts, bis ich losgehe und eine Frau küsse.“
Träge versank Thore im Schlaf. Ihm war warm und der leichte Schwindel, der noch blieb, war wie das Schaukeln einer Wiege, das sanfte Rollen eines Schiffs auf See - und der Horizont so weit und die Wellen auf und ab und die Möwen im Wind …
„He, nicht schlafen.“ Dennis rüttelte an seiner Schulter. „Du musst mir was versprechen.“
„Was denn?“ Er blinzelte in Dennis Gesicht, das über ihm schwebte wie ein verirrter Mond.
„Na, dass du dich nicht umbringst.“
Thore lächelte schlaff. „Ne, ich doch nicht. Mir geht es nicht schlecht. Mich beschäftigt das nur. Claudia und alles.“
Thore betrat das Bistro: Tische aus angerautem Plastik, Stühle mit Kunstlederbezug, und die Kellner eilten geschäftig von Gast zu Gast, balancierten Tabletts voller Wassergläser und Saftschorlen. Musik säuselte an der Hörschwelle und aus der Küche kam das Klappern von Metall. Thore sah sich um, leicht verloren zwischen Geschäftsleuten, die an Tablets oder Notebooks hantierten, während sie Pasta und exklusive Sandwiches aßen. Eine Hand winkte ihm.
Die Hand gehörte Alexandra Zimmerman, Claudias Schwester. Sie hatte ihn angerufen, viel zu früh am Morgen, Thore klang wie ein Zombie am Telefon, und ihn um ein Treffen gebeten. Sie trug ein Kostüm in Grau und Schwarz. Sie sah Claudia nicht ähnlich, sondern war hübsch – hübsch wie strenge Lehrerinnen hübsch waren, mit Haaren zum Dutt gesteckt und schmalem Mund.
„Es freut mich, dass Sie kommen konnten.“ Thore, der sich unwohl fühlte in T-Shirt und Jeans, nahm ihr gegenüber Platz. „Bestellen Sie ruhig etwas. Ich habe bereits gegessen.“ Auf ihrem Teller verkümmerte ein Salat, ein kompliziertes Muster aus Rucola und Eisberg, aus Tomaten und Hühnchenbrust.
Sie schwieg, während Thore sich durch das Speiseangebot arbeitete und ihr scheue Blicke über den Kartenrand zuwarf, unsicher, was sie von ihm wollte. In der Ferne waren die Bässe einer Demo zu hören. Schließlich bestellte er Penne Arrabiata und ein Glas Wasser.
„Hätten Sie die Nudeln gerne mit oder ohne Knoblauch?“
„Äh, ohne.“
Die Kellnerin zog ab.
„Nun, Sie können sich sicher denken, weshalb ich Sie um dieses Treffen gebeten habe.“
Konnte er nicht und deshalb wartete er, während Frau Zimmerman an ihren Haaren zupfte und in der Handtasche kramte, als suche sie Zigaretten. Ihre Finger waren lang und weiß und wie gemacht, um spinnengleich über eine Klaviatur zu huschen. Die Demo kam näher, die Bässen wurden lauter.
„Kennen Sie den Grund?“
„Weshalb sich Claudia umgebracht hat?“
„Ja.“
„Nein.“ Sie wirkte enttäuscht. „Ich hab Claudia kaum gekannt.“
„Ich dachte …“
„Es war nur Zufall, dass ich gesehen habe, was passiert ist. Wir wohnen … wohnten … auf gleicher Höhe.“
Die Kellnerin servierte die Arrabiata und vielleicht war das der Grund, weshalb Frau Zimmerman nicht aufstand und ging. Gedankenverloren hing ihr Blick im Raum, während Thore mit Unbehagen aß. Vorm Bistro defilierten die ersten Demonstranten mit Transparenten vorüber, die Thore nicht lesen konnte, mit Fahrrädern, Skateboards, einem Traktor, der knatternd und im Schritttempo von einer Jugendlichen gesteuert wurde. Die Musik übertönte inzwischen das Hintergrundsäuseln im Bistro, klang aber immer noch weit entfernt, nur der Bass war zu hören und keine Melodie.
„Sie wundern sich sicher, warum ich Sie nach dem Grund gefragt habe. Als ihre Schwester sollte ich schließlich Bescheid wissen.“ Thore, den Mund voller Nudeln, antwortete nicht. „Die Wahrheit ist, wir sind nur Halbschwestern. Mein Vater hat zweimal geheiratet. Und auch, wenn wir uns eigentlich nie gestritten haben, verstanden wir uns nicht sonderlich gut, also Claudia und ich. Wir hatten einfach nicht sehr viel gemeinsam. In der Kindheit fiel das natürlich nicht sonderlich auf. Da sind wir in den Sommerferien gemeinsam über den Strand gelaufen.“ Thore versuchte, sich das Bild vorzustellen – Claudia und Frau Zimmerman, beide auf Kindergröße geschrumpft, flitzten an der Wasserkante entlang, während die Wellen wie Tiere nach ihren Füßen leckten. Ihre Gesichter wirkten altklug und gruselig. Keine von beiden lachte. „Aber später wurde es ziemlich auffällig. Wir hatten verschiedene Freundeskreise, verschiedene Interessen. Nach der Schule haben wir praktisch den Kontakt verloren und haben uns nur noch bei den Familienfeiern zu Weihnachten gesehen.“
Der Bass wurde durchdringend, Thore spürte ihn in Brust und Bauch, vibrierende Wellen, waberndes Pulsieren, und noch immer keine Melodie. Ein Lieferwagen fuhr vorüber, eingeklemmt zwischen den Demonstranten, die im Gehen zu tanzen versuchten, und in Seiten- und Hintertür standen die Boxen, schwarz, kantig und massiv. Mit Seilzügen war ein Generator aufs Dach geschnallt. Und obwohl der Bass durch Mark und Bein ging und die Gläser auf den Tischen zuckten, klang die Musik seltsam leise, mehr nach purer Leistung als einem Lied. Die meisten Gäste sahen genervt aus dem Fenster. Viele mussten ihre Telefongespräche unterbrechen, ihre Handys lagen nutzlos in der Hand.
Die Demo zog vorüber, die Musik flaute ab. Thore fühlte sich schwummrig. Er hatte das Gefühl, Dinge gehört zu haben, die ihn nichts angingen.
„Wissen Sie, ich mache mir Vorwürfe“, sagte Frau Zimmerman. „Vielleicht hätte ich ja was ändern können. Ich meine, wenn ich mehr Kontakt zu ihr gehabt hätte. Wenn ich wenigstens mal am Wochenende angerufen hätte. Einfach fragen, wie es ihr so geht. Vielleicht hätte das einen Unterschied gemacht.“
„Ich denke nicht … Ich meine, letztlich war es Claudias Entscheidung. Sie können für niemanden die Verantwortung übernehmen.“
Sie lächelte schmal und Thore hatte das Gefühl, dummes Zeug zu reden und verstummte mit brennenden Wangen.
„Danke. Das ist sehr wichtig für mich.“
Das Lächeln blieb und Thore, der sich weniger unwohl fühlte, zwang seine Mundwinkel nach oben. Dann schüttelte Frau Zimmerman den Kopf, als wäre ihr aufgefallen, was sie gerade tat. „Sie entschuldigen mich.“ Elegant und geschmeidig stand sie auf, elegant und geschmeidig ging sie in Richtung der Toiletten. Thore zerfriemelte seine Serviette. Die Fitzel schneiten auf den Teller.
Frau Zimmerman kehrte mit frischem Make-up zurück, ihr Gesicht wirkte jetzt wieder gefasst und souverän. „Vielen Dank dafür, dass Sie kommen konnte. Leider wartet ein Termin auf mich. Aber bleiben Sie ruhig sitzen, das Essen geht auf mich.“ Sie zückte ihre Brieftasche, Schlangenleder oder ein geschicktes Imitat, und klemmte einen Fünfzig-Euro-Schein unter ihren Teller. „Falls Ihnen doch noch etwas einfällt, oder Sie etwas hören, melden Sie sich bitte bei mir. Hier ist meine Telefonnummer.“
Zwischen Zeige- und Mittelfinger reichte sie ihm eine Visitenkarte. Thore wog die Karte in der Hand. Auf schmerzhaft hohen Absätzen verließ Frau Zimmerman das Café und verlor sich rasch unter den Passanten. Thore dachte an Claudia, dachte an lange Abendstunden, wenn rostiges Licht die Hausdächer färbte, wenn sie am Herd stand und Reis kochte oder Nudeln, wenn sie vorm Fernseher saß.
In Boxershorts saß Thore auf dem Sofa, trank Kaffee. Sonnenlicht wärmte ihm die Füße und Müdigkeit trieb in seinem Kopf umher wie Rauch. Das Fernrohr stand verloren in der Ecke und Staub überzog das Olivgrün und Schwarz mit fadem Pelz. Jenseits der Straße waren die Fenster mit Gardinen verhängt. Auf dem Boden lagen Bücher und Blöcke verstreut, hastige Notizen und Mitschriften, Unikram, der ihn nicht wirklich interessierte – er sah sich nicht mehr als Psychologe oder Psychotherapeut. In der Küche faulte der Biomüll.
Thore ließ den Kaffee stehen und ging duschen. Er rasierte sich, zog sich an, verließ die Wohnung. Er stieg auf sein Fahrrad und fuhr Richtung Friedhof. Bis auf wenige Passanten waren die Straßen leer – die halbe Stadt lag an den Baggerseen im Umland oder döste bei herabgelassenen Rollos im Bett, zu träge zum Reden, zu träge für Sex, nur der Fernseher flimmerte im Dunkel. Thore schmeckte Salz auf den Lippen. Seine Müdigkeit wurde zu Kopfschmerzen.
Auf dem Friedhof war niemand. Thore lief die Grabreihen ab, bis er Claudias fand. Verdorrte Kränze und vertrocknete Blumen häuften sich vor dem Stein, ihr staubiger Geruch schwängerte die Luft und Käfer krochen im Schattengewirr am Boden. Das Grablicht war längst ausgebrannt. Von den Besuchen am Grab seines Großvaters wusste Thore, dass ganz in der Nähe eine Sammelstelle für Abfälle lag, und so sammelte er Kränze und Blumen und trug das Knäuel vorbei an betenden Madonnen und zerfressenen Engeln.
Als er wieder kam, schwitzend und schlechtgelaunt, stand ein Mann vorm Nachbargrab. Er war vielleicht fünfundsechzig, trug einen Hut und einen Anzug aus Leinen. In der Hand hielt er einen Stock, mehr Zierde denn Stütze, er stand sehr gerade und aufrecht, obwohl Schweiß seinen Kragen verfärbte. Seine ganze Erscheinung hatte etwas von alten Fotos, von weißen Männern unter Palmen, von Kuba und vergangener Zeit – nur die Zigarre fehlte.
„Guten Tag“, grüßte der Mann.
„Guten Tag. Liegt hier ihre Frau?“ Thore deutete auf das Grab, vor dem der Mann stand.
„Ja.“
„Mein Beileid.“
„Es ist Jahre her. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt.“ Thore musterte den Mann von der Seite. Sein Gesicht wirkte entspannt. Ein Bus fuhr am Friedhof entlang, ganz grollender Motor und Sonnenreflexe. Thore kniff die Augen zusammen.
„Darf ich fragen, wen Sie besuchen?“, fragte der Mann.
„Eine Nachbarin. Ich kenne sie eigentlich gar nicht.“
„Dann ist es sehr nett von Ihnen, dass Sie hergekommen sind.“
Als wäre alles gesagt, schwieg der Mann, und Thore fragte sich, wie es war, alt zu sein und zu erleben, dass die Bekannten, die Freunde, die Familie starben, dass bei jedem Begräbnis die Trauergemeinde kleiner wurde, dass immer weniger beim Leichenschmaus zusammensaßen, um sich zu erinnern. Mit einem Winken verabschiedete sich der Mann von seiner Frau. Thore folgte ihm Richtung Straße und Alltag. Am Friedhofstor gab ihm der Mann die Hand. Seine Haut war warm und trocken. Er wandte sich zum Gehen.
„Kann ich Sie noch etwas fragen?“
„Natürlich.“
„Wie haben Sie es geschafft? Ich meine, wie haben Sie den Tod Ihrer Frau überstanden?“
„Ich habe mit dem Rudern angefangen. Ein schönen Sonntag noch.“
Unter einem grausam blauen Himmel ging der Mann die Straße entlang und Thore wartete, bis er an einer Kreuzung abbog und verschwand.