Nach vorn zurück ins Leben
Die Gegenwart war, jedenfalls was Frank betraf, scheinbar aus vollem Lauf gegen die Wand geknallt. Ohne eine Bewegung, den Atem angehalten, stierte er auf das Sicherheitsglas der Tür.
Sein Spiegelbild zeigte, was er wirklich war: Ein Mann, der sein Bestes gab, sich Stück für Stück aus der Welt auszuradieren. Die linke Gesichtshälfte fehlte, der Hals war nicht mehr vorhanden und zwischen Brustkorb und Hüfte klaffte eine große Lücke. Die sichtbaren Partien waren durchscheinend wie Pergamentpapier.
Gedrungene Abbilder zweier Geschäfte samt Leuchtreklamen umrahmten seinen verstümmelten Doppelgänger. Flecken wolkenlosen Himmels wirkten wie eine düstere, blauschwarze Leinwand. Vorbeifahrende Autos belebten die Spiegelwelt mit geduckt dahinhuschenden Schemen, als wollten sie mit seiner trostlosen Welt möglichst wenig zutun haben.
Frank war in seinem normalen Leben, das nun offensichtlich eine Atempause einlegte, seit fünf Wochen Witwer. Ein Blitzschlag hatte Irene aus seinem Alltag gerissen, während sie in einer Eiche auf einem dicken Ast hockte. Es war eine Baumbesetzung für den Erhalt des Stadtparks gewesen.
Der Bürgermeister hatte trotz der Tragödie keine Volksabstimmung, sondern lediglich ein paar Wochen Aufschub gewährt, bis Gras darüber gewachsen war. Das hieß, bis die Redakteure der örtlichen Printmedien ein anderes Thema gefunden hatten. Und nun, soviel stand bereits vor der letzten Ratsabstimmung fest, würde der Stadtpark in absehbarer Zeit für ein Einkaufszentrum gerodet werden.
Ohne, dass Frank es begriff, gab es eine Veränderung in der Spiegelwelt, der in der Realität kein Original zugrunde lag. Eine Frau mittleren Alters erschien. Ihr Blick, ihr ganzes Gesicht strahlte Entschlossenheit aus. Sie schob sich hinter Franks Abbild und ergänzte die Lücken. Der pergamentene Eindruck verschwand. Die Doppelgestalt erlangte eine Präsenz, die geeignet war, das Sicherheitsglas der Tür zu sprengen und in die Realität zu schreiten.
Eine gleißende Emulsion aus Irene und ihm selbst. Frank schnappte nach Luft. Langsam drehte er sich um. Doch Irene stand nicht hinter ihm. Niemand stand hinter ihm. Das würde sich wohl nie mehr ändern.
„Da muss ich dir widersprechen.“
„Irene?“, flüsterte er, blickte den Gehweg herauf und herunter, blinzelte gegen die Sonne zur anderen Straßenseite und entdeckte auch dort niemanden, der Irene auch nur entfernt ähnlich
sah.
Das Schlüsselbund in seiner Hand erinnerte daran, die Tür des Geschäftes zu schließen. Er zögerte einen Augenblick. Ach was, die Gestalt im Glas, diese Collage eines verrückten Künstlers, ein Hirngespinst, sonst nichts. Dennoch: „Irene?“
Keine Antwort.
Die Augen ließ er strikt auf Schlüssel und Schloss gerichtet. Besser nicht mehr ins Spiegelbild schauen.
Auf dem Weg zum Wagen spürte er unter seinen Schritten die Gehwegplatten wippen. Die waren auch aus den Fugen geraten, wie das Leben.
„Du siehst alles zu schwarz.“
Da war wieder Irenes Stimme gewesen. Diesmal sparte er sich die Sucherei. Nur eine gedankliche Frage gestattete er sich: „Irene?“
Die Antwort blieb aus.
So was Verrücktes. Beim Fahren bekäme er hoffentlich den Kopf wieder klar.
Im behaglich eingerichteten Wohnzimmer fühlte er sich ohne Irene so wohl wie an einer Bushaltestelle bei Regenwetter. Wie so oft quälte er sich durch die Zeitungsberichte über die Tragödie im Stadtpark. Er las die Hintergründe, Randinformationen und Stellungnahmen entsetzter Augenzeugen, wie auch die aalglatten Phrasen von amtlicher Seite.
Da war kein Sinn in Irenes Tod zu entdecken. Es war auch kein Sinn in seinem Leben zu entdecken.
„Das kann man ändern.“
Frank schaute sich erst gar nicht um, ob Irene vielleicht in der Tür stand.
„Du musst nur etwas tun“, bekräftigte Irene.
Er fand es wenig tröstlich, ihre Stimme zu hören. Doch immerhin, vielleicht besser als nichts. Es war einen Versuch wert. „Was kann ich schon unternehmen? Den Park erhalten oder besser, dich zum Leben erwecken?“, murmelte er.
„Denk über deine Möglichkeiten nach.“
Also, bloß der Park. „In den Hungerstreik treten und mich an einen Baum ketten?“
„Das würde nicht zu dir passen. Du bist Kaufmann. Was kannst du als Kaufmann tun?“
Frank atmete durch. Eine interessante Frage. Wie er Irene kannte, hatte sie längst die Antwort parat. „Irgendeinen Vorschlag?“ Er horchte in sich hinein, wartete eine Weile. Die Antwort blieb aus. Verwunderlich war das nicht. Irenes Stimme mochte in ihm sein, aber im Grunde entstammte alles, was sie sagte, seinen eigenen Gedanken. Er seufzte und ging in die Küche, um Tee zu kochen.
Als das Wasser dampfte, zweifelte er bereits an dieser Hypothese. Was vor der Ladentür geschehen war, diese Spiegelung oder was auch immer es gewesen sein mochte, passte nicht recht dazu.
Mit einer Tasse grünem Tee in der Hand und einer ordentlichen Portion Chaos im Kopf ging Frank ins Wohnzimmer.
Auf dem Esstisch stand ein knappes Dutzend gerahmter Fotografien von Irene. Er setzte sich und zog ein Porträt, das er besonders mochte, näher zu sich heran. Auf dem Bild lachte Irene und ihre Augen funkelten schelmisch. Sanft strich er ihr mit dem Zeigefinger über die Wange. Tränen ließen seinen Blick verschwimmen. Aber es keimte auch Hoffnung in ihm. Wenn tatsächlich ein Teil von Irene den Weg zu ihm gefunden hatte, dann war er doch nicht allein. Hatte sie ihm nicht genau das als Erstes mitgeteilt?
Ohne eine Sekunde über das Bizarre in seiner Hoffnung nachzudenken, zu sehr hatte sie ihm in den letzten Wochen gefehlt, flüsterte er ihren Namen. „Irene.“ Wieder strich er zärtlich über ihr Bild. “Bist du da?”
„Ja, ich bin hier.“
Seine Hände klammerten sich an den hölzernen Rahmen. Sein Blick versank in Irenes Lächeln. Die Luft duftete nach grünem Tee. Irene hatte diese Teesorte geliebt.
„Du kannst jetzt aufhören, mein Bild anzustarren.“
„Dazu müsste man mir mein Augenlicht nehmen“, murmelte Frank, ohne sich von Irenes Foto abzuwenden.
„Na, na, da habe ich aber eine bessere Alternative.“ Irene schwang sich auf den Esstisch und ließ die Beine baumeln. „Tadaa!“
Frank starrte unverwandt auf das Bild.
„Ach, ich vergaß, meine Stimme hörst du ja weiterhin nur in deinen Gedanken“, sagte sie, beugte sich zu ihm und wedelte mit der Hand vor seinen Augen. „Buhu! Hier bin ich!“
Frank zuckte zurück, so fassungslos wie in dem Moment, als er über Irenes Tod informiert wurde. Irene saß kaum einen Meter entfernt. Sie trug das enge, dunkelrote Kleid, das er immer an ihr gemocht hatte. Nur sah es ein wenig blass aus. Und doch wirkte sie nicht wie ein Geist. Das war zugleich seltsam und wunderbar. Er stand auf, wie im Trance und immer noch sprachlos, um sie in die Arme zu nehmen.
„Das ist vermutlich keine gute Idee“, sagte Irene und hob abwehrend die Hände.
Frank sank auf seinen Stuhl zurück und schaute sie fragend an.
Irene zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es auch nicht so genau. Aber sag mal, seit wann trinkst du grünen Tee?“
„Seit du deinen hübschen Arsch auf unserem Esstisch parkst.“ Frank bereute sofort, was er gesagt hatte. So hätte er früher mit ihr geredet, aber jetzt schien das unangebracht. Doch Irene lachte, sogar ausgelassen, ganz wie früher.
„Also, mein Lieber, erstens schwebe ich knapp über der Tischplatte und zweitens sind die Zeiten vorbei, in denen ich mir einen Stuhl zurechtrücken konnte.“
„Ich weiß“, sagte Frank und spürte deutlich seine harte Landung auf dem Boden der Tatsachen.
„Lass uns nicht von Vergangenem reden, Frank, die Zukunft ist wichtiger.“
Das wiederum klang aufbauend. „Wir beide haben eine Zukunft?“
„So könnte man es nennen. Auf jeden Fall haben wir in den nächsten Tagen eine Menge zu tun.“
„Den Park retten.“
„Die Abstimmung im Stadtrat über den Bau des Einkaufzentrums ist in drei Tagen.“
„Deren Ergebnis gewissermaßen schon feststeht.“
„Es sei denn, dir fällt etwas ein. Einen Hinweis hatte ich dir bereits gegeben.“
„Ich soll mein Talent als Kaufmann einsetzen. Ach, komm, du weißt doch etwas, also sag es.“
„Die Antwort liegt mir auf der Zunge, aber ich kann sie aus irgendeinem Grund nicht aussprechen.“
Das war entmutigend. Er hatte sich nie mit Protestbewegungen und deren Vorgehensweise beschäftigt. „Ich könnte bei der Zeitung vorsprechen. Den Redakteur zu einem Artikel gegen das Bauvorhaben …“
Irene winkte ab, rutschte vom Tisch und begann hin und her zu laufen. „Keine Chance. Die Schmierfinken stehen dieses Mal auf der Seite des Bürgermeisters. Ich kann dir sogar sagen warum: weil sie die Inserate und Beilagen von dem neuen Konsumtempel brauchen. So viel zur selbstpropagierten Unabhängigkeit der Verleger.“
„Ich muss also in die Burg des Ungeheuers und es umstimmen.“
„Schön gesagt. Und ja, die Richtung stimmt.“
„Okay, verhandeln kann ich recht gut. Hast du das gemeint?“
„Auch, aber vielmehr etwas anderes. Was machst du, wenn das Verhandeln vorbei ist?“
„Tja, verhandeln tue ich meist beim Einkauf der Ware, nicht beim Verkauf. Ich kaufe … Oh!“
Irene grinste und reckte beide Daumen nach oben. „Es wird wärmer!“
„Du meinst, ich solle den Stadtpark …“
Wieder winkte Irene ungestüm ab. „Ganz kalt.“ Sie sah ihn einen Moment mit zugekniffenen Lippen an, dann hob sie den Zeigefinger. „Eine Sardine, die brav mit dem Strom schwimmt, würde sich an die Zeitung wenden, sie würde dem Bürgermeister etwas vorjammern, sie würde sich aus Protest auf einen Baum setzen. Das alles wurde vergeblich gemacht. Und du weißt, wo es letztendlich hingeführt hat!“ Sie ging zwei Schritte auf Frank zu. „Wenn du die Chose umbiegen willst, dann darfst du keine verdammte Sardine sein. Bist du eine Sardine?“
Irenes Lippen hatten sich zwar bewegt, aber ihre Stimme hatte er immer nur in seinem Kopf vernommen. Das war gewöhnungsbedürftig. Und Sardinen, was zum Teufel meinte sie mit Sardinen?
„Nein, du bist ein Hai“, beantwortete Irene ihre eigene Frage. „Also kreuze mit den Haien durch finstere Gewässer!“
„Was für Haie?“ Er hatte das Gefühl, in einer Wäscheschleuder zu sitzen.
„Lobbyisten und sonstige Interessenvertreter der Konzerne.“
Das wurde ja immer komplizierter. „Ah! Und das heißt?“
Ein Stöhnen brauste durch Franks Kopf. War es Irenes oder seines? Er wusste es nicht. Aber er ahnte plötzlich, worauf sie hinaus wollte.
„Okay, warte“, setzte er an, um sich ein wenig Zeit zu verschaffen. „Ich komm gleich drauf.“ Er lehnte sich auf seinem Stuhl vor und wieder zurück, sah zu Irene, die ihn gespannt beobachtete. Sie wollte etwas Ungeheuerliches, etwas, worauf er ohne ihre Hilfe nie gekommen wäre. So etwas zu tun, entsprach nicht seiner Art. „Ich soll den Bürgermeister kaufen. Ist es das?“ Er hoffte darauf, dass sie sagte, nein, du Dummerchen, du sollst ihm Pralinen und eine Bittschrift schicken.
Selbstverständlich sagte sie nichts dergleichen. Sie grinste wieder, sah dabei verdammt süß und zugleich frech aus, und streckte beide Daumen senkrecht zur Zimmerdecke. Eine etwas altmodische und alberne Geste. Frank musste lächeln. Genau so widersprüchlich war sie gewesen, süß und vorlaut, altmodisch und albern. Vor allem war sie die beste Ehefrau, die er sich vorstellen konnte – und eine Rebellin? Verdammt, wieso hatte sie nichts davon gesagt? Wieso hatte niemand ihm davon etwas gesagt?
„So, mein Schatz.“ Sie ging um einen Stuhl herum und blieb dahinter stehen. „Ich fürchte, das war es für heute.“
Frank drehte sich um, aber Irene war verschwunden. Er rief ihren Namen, sprang auf, spähte in die dunklen Zimmerecken und suchte sogar unter den Tischen nach ihr. Er hätte traurig sein müssen, musste jedoch plötzlich lachen. Irene war schon zu Lebzeiten schwer zu zügeln gewesen. Jetzt schien es völlig unmöglich.
Der Tee war inzwischen kalt. Warum hatte er den überhaupt zubereitet, wo er Tee gar nicht mochte.
Als er zu Bett ging, fiel ihm auf, dass Irene nicht gefragt hatte, wie er sich fühle, wie er ohne sie zurechtkäme. Vor allem schien sie keinerlei Bitternis über ihren sinnlosen Tod zu empfinden. Das Gespräch hatte sie mit Fragen so geschickt dirigiert, dass es sich nur um den Stadtpark gedreht hatte.
Zwei letzte Gedanken hielten ihn lange wach: Wird sie bleiben, wenn das Gerangel um den Park vorüber ist? Und wird er sich überhaupt dazu durchringen können, den Bürgermeister zu bestechen?
Als Frank am frühen Morgen mit Toast und Kaffee ins Wohnzimmer kam, saß Irene bereits auf dem Esstisch.
„Ah, der neue Beschützer aller Bäume und Sträucher hat sich von seinem Lager erhoben“, begrüßte sie ihn fröhlich. „Hast du gut geschlafen?“
„Muss ein Hausgeist schon vor dem Frühstück so fürchterlich gut gelaunt sein?“, rutschte ihm heraus. Doch ehe er sich vor Scham in den Boden versenken konnte, vernahm er Irenes Lachen.
„Jetzt möchte ich dir ein paar Fragen stellen“, sagte Frank schnell, bevor er ins Schinkentoast biss und Irene ihm mit Fragen kommen konnte. „Warum sprechen wir nur über den Stadtpark und nicht über uns?“
„Geister müssen manchmal seltsame Wege gehen, wenn sie etwas Bestimmtes erreichen wollen. Ein Geist zu sein bedeutet nicht, frei wie ein Vogel zu sein.“
„Und du willst unbedingt den Park retten?“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wie gesagt, seltsame Wege.“
Herrje, irgendwie brachte es auch nichts, wenn er hier die Fragen stellte. Es blieb ihm nur, sich auf ihr mysteriöses Spiel einzulassen. „Du bist dran.“
„Oh, mehr Fragen hast du nicht?“
„Ich ahne die Antworten, das genügt mir“, sagte Frank und beide lachten, bis Irene wieder das Heft in die Hand nahm.
„Du bist noch nicht bereit, die kleine Bestechung durchzuziehen“, stellte sie fest.
„Kannst du Gedanken lesen? Nein, antworte nicht. Ich weiß, was du sagen würdest.“
„So, so, du hast mit einem klaren Nein gerechnet?“
„Hmm, vielleicht, vielleicht auch nicht.“ Es fühlte sich gut an, wieder mit Irene herumzualbern. Auf der anderen Seite, und es gibt bekanntlich immer eine zweite Seite, ging es darum, eine Straftat zu planen. Etwas, dass seinen Ruf als Geschäftsmann schädigen oder gar direkt ins Gefängnis führen könnte. Und genau das sagte er Irene.
„Wenn man nach vorne schaut“, antwortete Irene, „tun sich immer Zweifel und manchmal auch Ängste auf.“
Seit wann hatte Irene eine so dicke philosophische Ader? „Mehr fällt dir dazu nicht ein?“
„Wichtig ist, was dir dazu einfällt.“
Jetzt spielte sie auch noch Psychologin, das wurde ja immer besser. Als er sich den letzen Bissen Toast in den Mund schob, hüpfte Irene vom Tisch herunter, warf Frank einen Handkuss zu und begab sich hinter seinen Rücken.
„Vaschwindescht du wieda?“, nuschelte er und spülte den letzten Happen mit Kaffee hinunter.
Auf eine Antwort wartete er vergeblich.
Er solle nach vorne schauen. Doch was gab es da Großartiges zu sehen? Selbst wenn er sich hier umschaute, sah er nur alte Zeitschriften kreuz und quer auf dem Couchtisch liegen und einen von Krümeln bedeckten Esstisch. Im Schlafzimmer, da brauchte er nicht erst nachsehen, lief der Wäschepuff über. Auch um sein Geschäft stand es kaum besser bestellt, wie er sich eingestehen musste. Morgens hatte er auf- und abends zugeschlossen. Dazwischen hatte er im Büro gehockt und die Angestellten einfach machen lassen. Sein Facebook-Profil hatte Spinnweben angesetzt, seit massenhaft Beileidsbekundungen eingegangen waren. Wozu antworten? Warum noch Freundschaften pflegen? Die waren doch nur Makulatur. Er schob das Frühstücksgeschirr achtlos von sich.
Irene, seltsame Wege zu gehen war ein unbekannter Zug an ihr. Sie hatte früher viele Eigenschaften gehabt, Dummheit hatte nie dazugehört. Also, was wollte sie? Oder besser, was wollte sie wirklich von ihm? Es schien, als gäbe es auf diese ähnlichen Fragen jeweils eine völlig andere Antwort.
Obwohl es ihm nicht wichtig war, brachte er das schmutzige Geschirr in die Küche und spülte es ab. Manchmal machte es Sinn, etwas zu tun, auch wenn es für einem selbst kaum Bedeutung hatte. Vielleicht wäre es keine schlechte Idee, unter dieser Prämisse den Park zu retten. Das wollte Irene zumindest vorgeblich. Die Antwort auf die zweite Frage ergab sich dann vermutlich von selbst.
Zurück im Wohnzimmer breitete er die Arme aus und rief: „Okay, ich mach’s. Ich besteche den Bürgermeister und wenn’s nötig ist, seine ganze Partei!“ Er lauschte einen Moment. „Und wenn’s schief geht, wandere ich halt in den Knast!“ Was machte das schon aus.
Irene ließ auf sich warten. So funktionierte das wohl nicht. Wäre ja auch zu schön. Er kramte Kontounterlagen hervor und verschaffte sich Überblick. Es summierte sich auf knapp vierhunderttausend Euro. Wie viel kostet eigentlich so ein Bürgermeister? Das war mal eine spannende Frage.
„Oh strahlender Held aller Gänseblümchen! Wie weit ist Euer grandioser Schlachtplan gediehen?“
„Endlich erhält Er die Ehrerbietung, welche Ihm gebührt.“
Irene kratzfußte und applaudierte. Die Mittagssonne schien durch die Fenster. Irenes Erscheinung wirkte präsenter als am Morgen, warf jedoch nach wie vor keinen Schatten und ihr Händeklatschen war nicht zu hören gewesen. Berühren war vermutlich immer noch keine Option. Man konnte eben nicht alles haben. Jedenfalls nicht sofort.
„Der Bürgersmeister spielt regelmäßig Lotto.“
Frank überlegte einen Moment. „Eine Spielernatur. Das ist günstig.“
„Und er hat sich mit einigen Anschaffungen mehr als nur ein wenig überhoben.“
Das war ja aufschlussreich. „Wir haben ihn fast in der Tasche!“
„Und ganz sicher hat er eine Offerte der Feudal- und Zweckbau AG in seiner Geheimschublade. Es gab vor einem dreiviertel Jahr einige seltsame Treffen.“
„Woher weißt du davon?“
„Ach, die Geheimschublade war nur Scherz.“ Irene winkte lässig ab. „Die Treffen, wenigstens drei, haben einige von unseren Leuten beobachtet und eines davon konnten sie sogar belauschen. Unsere Clique war nicht so harmlos wie eine Strick- und Häkelgruppe.“
Das wurde ja immer mysteriöser. In was für einen obskuren Verein war sie da geraten? War sie etwa schon die ganzen Jahre mit den Haien geschwommen, ohne es ihm zu sagen? „Was waren das für Leute und wie oft warst du um eine Verhaftung herumgekommen?“
„Lass uns lieber nach vorne blicken. Was wirst du tun?“
Dir den Hintern versohlen. Aber das ging ja nicht. „Er hat also ein Angebot des Bauträgers. Gut, dann werde ich unseren sauberen Herrn Bürgermeister nach dessen Höhe fragen und die Summe verdoppeln.“ Frank räumte die Kontounterlagen wieder zusammen, trug sie zum Sekretär und verstaute sie im Schließfach. Als er sich umdrehte, war Irene verschwunden. Diese Frau durfte man einfach nicht aus den Augen lassen.
Es fiel schwer, sich zu entscheiden. Zuerst die Küche putzen, das Bad aufwischen oder das Wohnzimmer aufräumen. Der Rest des Hauses konnte bis morgen warten. Das Wohnzimmer gewann letztendlich. Nebenher wollte er sich eine Strategie für das Gespräch mit dem Bürgermeister zurechtlegen und anschließend zur Bank gehen. Und dann, von wegen nur nach vorne blicken, Irenes Machenschaften gehörten aufgedeckt. So ging das nicht weiter.
Als der Abend dämmerte, das Erdgeschoss bis in den letzten Winkel nach Putzmittel duftete, saß plötzlich Irene auf dem frisch polierten Esstisch und grinste zufrieden wie ein Delfin. Sie besaß eine beinahe sagenhafte Präsenz. Irene schien, ja, fast greifbar zu sein. Und Frank wollte in dem Augenblick nichts anderes als sie berühren.
„Morgen ist dein großer Tag. Ich bin gespannt“, sagte sie.
Warum musste sie immer gleich zur Sache kommen? „Ich habe aufgeräumt, bekomme ich keine Belohnung?“
„Mehr als ein `fein gemacht´ kann ich dir nicht geben. Ich bin ein Geist, schon vergessen?“
„Wie wäre es mit einer Art telepathischen Telefonsex?“
Irene verdrehte die Augen und stöhnte auf.
„Das war doch schon ein Anfang. Mit ein bisschen Übung …“
„Und vielleicht auch noch einem Striptease …“
„Und los geht’s!“
„Eines nach dem Anderen.“
„Okay, womit willst du anfangen?“
„Damit, dass ich dir die Adresse einer Freundin verrate. Die solltest du vorher unbedingt aufsuchen. Überzeuge Sie, dich zu begleiten. Sie kennt sich mit solchen Angelegenheiten aus.“
Frank grinste über das ganze Gesicht. „Du meinst, mit …“
„Denk nicht mal dran!“
„Entschuldige. War nur ein Scherz“, sagte Frank geknickt. Warum rutschte ihm laufend so ein Unsinn heraus? Irene hatte mehr Respekt verdient.
„Okay. Kerstin ist die Chefin und ein verdammt hartes Mädel. Du wirst sie brauchen.“
„Deine Freundin, die Clique und du, erzähl mir davon. Schließlich soll meine Zukunft auf sicheren Boden stehen, oder?“
„Kerstin wird dich bestimmt einweihen, nachdem ihr morgen beim Bürgermeister wart.“
„Du hast nie von einer Kerstin gesprochen und bei deiner, du weißt schon, war auch keine Kerstin.“
„Das hoffe ich doch, denn so war es abgesprochen.“
„Ihr – wart ihr so was wie Terroristen?“
„Im Grunde waren wir ein paar Haie, die den Sardinenschwarm hin und wieder aufgescheucht haben. Sardinen denken von alleine nicht über das Veranstalten nutzloser Lichterketten und Schweigemärsche hinaus. Na ja, manchmal haben wir auch einen stinkenden Rückenschwimmer kräftig in den Arsch gebissen.“
„So wie ich morgen?“
„So wie du morgen, mein Tigerhai.“
„Tigerhai klingt gut. Das wird mein Deckname in Kerstins illustren Verein sein. Sie benutzen doch Decknamen, oder?“
Irene erhob sich von ihrem Stammplatz.
„Wirst du jetzt wieder hinter mir verschwinden?“
Irene nickte. „Mich vor deinen Augen aufzulösen wäre mir unangenehm.“
„Okay, dann schaue ich jetzt nach vorn.“
„Ich weiß. Und mehr habe ich nie gewollt.“
„Kommst du morgen zum Frühstück?“, fragte Frank noch schnell, bekam jedoch keine Antwort.
Irene war fort.