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Nach unten gesagt
Sie steht da unten. Das Mädchen, das Marie heißt. Sie ist glücklich. Das sehe ich, weil sie lacht, weil sich Grübchen auf ihren Wangen bilden. Ihr Gesicht sieht natürlich aus, ungeschminkt und wahr. Ihr formloses Kleid weht im Wind. Ihre blasse Haut harmoniert mit dem weißen Stoff. Ich liebe sie.
Marie kennt mich nicht, hat mich nie wahrgenommen. Und alles, was ihren Sinnen entgleitet, existiert nicht. Ich fühle mich tot. Nichts ist in mir.
Heute spricht sie mit einem anderen Jungen. Es ist der Sohn des Direktors. Er fährt einen BMW. Dem Gefährt ist anzusehen, wie teuer es ist und wie schnell. Ich fahre Rad. Er trägt Bart, ich leide Akne. Eine Kontaktlinse löst sich. Ich weine.
Die beiden reden kaum. Er grinst falsch, küsst sie, lacht dann. Marie auch. Ich sterbe.
Zwei Monate später küsst sie ihn immer noch. Er grinst weiter falsch, lacht aber nachher nicht mehr. Maries Augen funkeln. Sie küsst ihn innig und mit Gefühl und mit geschlossenen Augen. Ich schließe meine auch.
In der Physikstunde werde ich nach dem Trägheitssatz gefragt. Ich antworte langsam, zaghaft. Ich sage, er sei Grund unserer Unbeweglichkeit, wenn wir erstarren und unserer Hilflosigkeit, wenn wir stürzen. Der unzufrieden, überraschte Ausdruck im Gesicht des Lehrers kümmert mich nicht. Mir wird bewusst, wie viel Physik in meinem Leben steckt.
Auf dem Heimweg verirre ich mich. Sackgasse. Zurückgehen will ich nicht. Ich klettere über einen Zaun, durchquere fremde Gärten, besteige eine Mauer, durchwandre einen Park, schlüpfe durch ein Tor. Zuhause werde ich gefragt, mit welchem Mädchen ich denn aus gewesen sei. Ich wiederhole: Mit welchem Mädchen. Ich lächle und gehe in mein Zimmer.
Ich denke an Marie, schlafe ein. Als ich erwache, fühle ich mich leer. Im Anblick meines Spiegelbildes wünsche ich mir, ein anderer zu sein. Einer, den Marie lieben kann.
Marie steht unten. Ein Junge bei ihr. Nicht aber Kanthagen, der Sohn des Direktors. Es ist ein Schüler aus der Mittelstufe. Einer dieser ausdruckslosen Typen mit fettigen Haaren und ohne Gespür für Kleidung. Einer dieser nichts sagenden Streber, die trotz Lernaufwand durchschnittliche Leistungen erzielen. Einer dieser Müttersöhnchen, die sich das Pausenbrot von Zuhause mitnehmen. Einer der Jungen, die nicht rauchen, nicht trinken, weil sie keine Gruppe haben, die sie dazu zwingt. Einer von denen, der Marie nie haben kann.
Der Junge wirkt auf seltsame Weise abwesend. Er begrüßt Marie mit ihren Namen und sagt, er sei Jonas. Ob sie Kanthagen liebe, möchte er wissen. Sie will sich schon wieder von ihm abwenden, da fragt er sie, ob ihr die Kratzer aufgefallen seien. Auf dem BMW. In seinem Gesicht, und darunter. Ob sie genau hingesehen habe, möchte er wissen. Seine Worte wirken. Sie verharrt nachdenklich, schaut zu Boden. Ich liebe dich, Marie.
Am nächsten Tag steht Marie wieder unten. Allein. Als sie mich erblickt, zwinkert sie mir zu. Ich lächle umständlich zurück und frage mich, ob ich das gestern tatsächlich zu ihr gesagt habe ...
Sie nickt.