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Nach uns der Wald
Es war spät, die Kerze heruntergebrannt. Die Flamme machte ruhig ihre letzten Atemzüge. Judith konnte nicht aufhören, hineinzustarren. Mit den Fingern fuhr sie über die kleine, juckende Erhebung auf dem Schulterblatt. Früher hätte sie an einen Mückenstich gedacht. Aber sie wusste: Die Pilzsporen hatten einen Weg gefunden. Cordyceps glacialensis. Jeder kannte diesen Namen. Alle waren sie zu Experten geworden, seit der Pilz von Dr. Elena Kovenko im Jahr 2027 aus schmelzendem Permafrostboden der russischen Arktis isoliert worden war. Gerettet hatte all das Wissen niemanden. Nicht Jonna, die vor zwei Jahren starb. Nicht Chris, der fast tot im Schlafzimmer lag. Nicht sie. Obwohl sie nichts anderes erwartet hatte, schnürte ihr die Angst die Luft ab. Sie war müde und sollte aufstehen, die Kerze auspusten, schlafen, aber sie saß auf dem Sofa und starrte in die Flamme. Nach Chris‘ Tod würden Fruchtkörper aus seinem Körper wachsen, lange dünne Schläuche, die die Luft mit ihren Sporen füllten. Noch hatte sie genug Kraft, um Wohnung und Stadt zu verlassen – verseuchte Kadaver in einer verseuchten Welt. Sie könnte zum Forsthaus im Stoteler Wald gehen. Ja, im Wald zu sein, wäre schön. Sollte sie warten? Bis Chris tot war? Sie starrte in die Flamme, die schließlich erlosch.
Der nächste Morgen war grau. Regen prasselte gegen die Scheibe. Sie drückte den nassen Lappen auf Chris' spröde Lippen, beobachtete, wie er schluckte.
"Es tut mir leid!", sagte sie. Wie auch in den letzten Wochen trug sie den Sommermantel als Schutzkleidung und eine FFP-3-Maske, wenn sie bei ihm war und ihn pflegte.
„Hast du gesehen?“, flüsterte er heiser zwischen einzelnen Atemzügen. Seine Augen blickten zur Zimmerdecke, sahen etwas, das ihr verborgen blieb. „Die Bäume haben die Wolken gefressen.“
Judith wusste, dass es egal war, was sie sagte. Das Myzel hatte sein Gehirn erreicht. Sie wrang den Lappen aus und wischte den Schweiß aus seinem Gesicht. „Wirklich, wirklich leid!“, flüsterte sie.
Am Abend, nachdem die Kerze erloschen war und das Mondlicht durchs Fenster schien, hatte sie die Karte studiert. Es waren sechs, vielleicht sieben Stunden Fußmarsch bis zum Forsthaus. Sie musste gehen, solange sie noch bei Kräften war. Der Rucksack stand gepackt neben der Wohnungstür. Aber konnte sie Chris einfach so allein lassen?
„Es wird alles grün sein.“ Als ob er ahnte, was sie vorhatte. Sein Husten war rau und für einen Moment klang es so, wie sein Lachen geklungen hatte. Leise schloss sie die Schlafzimmertür, nahm die Maske ab und weinte.
Der Gestank im Treppenhaus war so dick, dass er durch die Maske drang. Womöglich kam er aus der Wohnung von Frau Meyer, die gegenüber wohnte – gewohnt hatte – und deren Wohnungstür offen stand. Etwas widerlich Süßes lag darin, wovon ihr übel wurde. Sie presste die Lippen aufeinander und hielt den Atem an, schlich durchs Treppenhaus vorbei an der Wohnung der Kosczinskis im Erdgeschoss. Es war ungewöhnlich still in der Wohnung der fünfköpfigen Familie. Ob sie die Stadt verlassen hatten? Sie wollte es glauben.
Die Haustür klemmte, aber gab schließlich ihrem Druck nach. Regen fiel in die Stille der Stadt. Sie setzte die Kapuze auf, zog die Träger des Rucksacks fester und schob einen verrosteten Einkaufswagen beiseite, der vor der Tür stand und scheppernd umfiel. Sie wollte die Stadt so schnell wie möglich hinter sich lassen. Die Straßen wirkten menschenleer, aber man konnte nicht wissen, wer sich in den dunklen Höhlen der geplünderten Läden herumdrückte.
Im Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr, ein Schatten nur, doch ehe sie sich umsehen konnte, zog jemand von hinten am Rucksack und riss sie fast um. Ein stechender Schmerz durchzog ihre Schulter. „Loslassen!“ schrie sie. Warum hatte sie das Messer in den Rucksack gepackt? Sie versuchte sich loszureißen, aber der Angreifer hielt sie fest. Sie drehte sich unter seinen Armen hindurch und stand ihm gegenüber. Er war noch ein Junge. Sie trat ihm ins Knie. Er schrie auf, fiel rückwärts, als sie ihn schubste. Sie rannte los, bog in die Dehmelstraße, dann in den Stichweg zum Buchenquartier, wo sie sich in den Büschen versteckte. Und wartete. Während ihr Atem sich beruhigte, sah sie sein Gesicht vor sich. Dünn, blass, nicht viel älter als fünfzehn. So alt wie Jonna gewesen war. Was wäre aus ihr geworden, wäre sie allein zurückgeblieben? Ein dünnes, blasses Mädchen, das in den Höhlen der Stadt ums Überleben kämpft? Kurz überlegte sie, den Jungen mitzunehmen. Aber was half es? Am Ende verlor er auch sie.
Von oben herab zerschnitt ein Krächzen die Stille. Die Krähe thronte auf einer Stromleitung, Zeugin in schwarz-glänzendem Gefieder. Judith nahm den Weg durch den Stadtwald bis zum Hochschulring, folgte dem Wümmeweg durch die überfluteten Wiesen des Blocklands, über die der Wind toste und sie vor sich hertrieb. Schneller als erwartet erreichte sie den Dammsiel. Das Restaurant „Zur Schleuse“ stand am Fluss wie ein Geist. Sie zögerte, bevor sie durch die halb geöffnete Tür trat. Der Gastraum war dunkel, Tische und Stühle umgestürzt. Sie ließ sich auf den Boden sinken und lehnte sich an eine Wand, die Beine lang ausgestreckt. Mit geschlossenen Augen atmete sie den Geruch von feuchtem Holz und Stein ein, sah Chris vor sich, wie er im Bett lag mit leerem Blick. Draußen prasselte der Regen über die verstopfte Dachrinne. Auf dem Campingkocher erhitzte sie eine Dose viel zu weicher Nudeln. Das warme Essen und die Ruhe taten gut.
Als sie das Restaurant verließ, hatte der Regen nachgelassen. Aber das Sitzen in der Kälte hatte ihre Glieder steif gemacht. Die Nässe war durch die Regenjacke gekrochen, das Shirt darunter klebte auf ihrer Haut. Der Rucksack scheuerte über die Stelle am Schulterblatt und es fiel ihr schwer, den Rhythmus ihrer Schritte wiederzufinden. Noch drei Stunden bis zum Forsthaus. Laut zählte sie Atemzüge und Schritte, wie sie es von ihrem Vater gelernt hatte: Ein, zwei, drei, aus, zwei, drei … Langsam fand sie in den Rhythmus zurück.
Es dämmerte, als sie das Forsthaus erreichte. Ihre Beine waren schwer, die Fußsohlen brannten. Der aufgeweichte Waldboden hatte das letzte Stück zu einem Balanceakt gemacht, mehrmals war sie fast ausgerutscht und sie merkte ein Ziehen im unteren Rücken. Das Forsthaus stand unberührt im Wald. Niemand hatte es geplündert oder zerstört. Es stand da, als habe es auf sie gewartet. Sie suchte unter den Töpfen und Steinen nach einem Schlüssel, fand keinen und schlug schließlich eines der Fenster ein. Innen war es kalt und feucht, aber im Wohnraum gab es einen Ofen, neben dem Holzscheite lagen. Sie hatte nicht zu hoffen gewagt, das Haus so unversehrt vorzufinden. Es war genauso friedlich wie in ihrer Erinnerung.
Sie heizte den Ofen ein. Wärme breitete sich aus und für einen Moment meinte sie, ihr Vater würde von draußen hereinkommen und den Geruch des Waldes mitbringen. Er hatte das Haus an Wochenenden und in den Ferien gemietet, nach der Scheidung der Eltern war es ihr gemeinsamer Zufluchtsort gewesen. Morgens begrüßten sie den Tag mit einer Tasse Kakao unter rauschenden Blättern, bevor sie durch den Wald wanderten und am Abend Rommé oder Halma gespielt. Einige Male hatte sie überlegt, mit Micha und Jonna hierher zu fahren, aber es war ein Ort, der ihrem Vater und ihr gehörte. Und jetzt war sie froh, dass dieser Ort frei von Erinnerungen an die beiden war.
Am nächsten Morgen weckten sie Sonnenstrahlen, die durch die kahlen Bäume bis zu ihr ins Wohnzimmer fielen. Staub schwebte darin. Es war einmal die Welt der Menschen gewesen, sie hatten der Schwerkraft getrotzt und waren durchs Leben getanzt. Jetzt gehörte die Welt dem Staub, dem Regen, den Krähen. Sie richtete sich langsam auf. Ihr Körper fühlte sich schwer an, schmerzte aber nicht mehr, bis auf das Ziehen im Schulterblatt. Die Stelle war noch immer hart und trocken. Das war gut. Dann fand ihre Hand eine zweite auf dem Oberschenkel. Sie wusste, dass die Infektion voranschreiten würde. Warum erschreckte die Stelle sie so? Wie dumm, zu glauben, es gäbe noch Hoffnung.
Mit einem Kochtopf ging sie zum Bach in der Nähe. Jeder Schritt verursachte ein Schmatzen, das die Stille des Waldes zerriss. Das klare Wasser des Baches stand und sie nahm sich vor, später nach der Blockade zu suchen. Sie kniete sich in den Matsch, spürte kalte Feuchtigkeit durch den Stoff dringen und hielt den Topf ins Wasser. Hinter ihr knackte es und sie fuhr herum. Doch da war nichts. Nur die Bäume und der mit Laub bedeckte Boden. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden, aber sie schüttelte es ab. Einsamkeit machte seltsam.
Im Forsthaus setzte sie Wasser auf. Sie hatte Kaffee gefunden und atmete das Kaffeearoma ein, als sie zwei Teelöffel Kaffee in eine Tasse füllte. Sie hatte mehr Hunger als in den letzten Tagen, wollte die vier Dosen im Rucksack aber aufheben. Sie nahm Schnur und Haken aus dem Rucksack und machte sich auf den Weg zum Teich. Früher war es verboten gewesen, hier zu angeln, doch es war niemand mehr da, der Regeln kontrollierte. Und sie brauchte etwas zu essen. Der Pfad zum Teich war von Unterholz bewachsen, Zweige strichen an ihrer Hose entlang und hinterließen nasse Streifen. Der Wald war merkwürdig still. Oder hallten ihre Schritte unnatürlich laut? Was, wenn der Wald sie nicht hier haben wollte? Und dann war da wieder das Gefühl, nicht allein zu sein. Sie drehte sich um, hielt den Atem an, aber da war nichts. Nur Bäume, die reglos in die Höhe ragten.
Der Teich lag vor ihr wie ein Spiegel, das Wasser dunkel und glatt. Kein Wind kräuselte die Oberfläche, keine Insekten schwirrten über das Wasser. Sie band die Schnur an einen Stock, fand einen Wurm in der feuchten Erde, spießte ihn auf den Haken und warf die Schnur aus. Mit einem dumpfen Laut tauchte der Haken ins Wasser. Sie wartete. Das Gefühl beobachtet zu werden brannte ihr im Nacken. Es war unmöglich, dass jemand da war. Sie hatte sich umgesehen, mehrfach. Niemand war ihr gefolgt. Ihre Hand umklammerte den Stock. Sie schloss die Augen und zählte ihre Atemzüge. Ein, zwei, drei, aus, zwei, drei…
Die Schnur bewegte sich. Ein leichtes Zucken. Sie öffnete die Augen und zog vorsichtig an der Leine. Nichts. Der Teich noch immer ein Spiegel. Sie wartete. Der Ruck kam plötzlich. Der Zug an der Schnur war so heftig, dass ihr der Stock beinahe aus der Hand glitt. Stück für Stück holte sie die Schnur ein, kämpfte gegen die Kraft unter der Wasseroberfläche. Als das Wasser brach, sah sie ihn – ein Karpfen, größer, als sie erwartet hatte. Sein Körper zuckte und schlug. Sie packte ihn hinter den Kiemen, die Flossen rissen an ihrer Hand, hinterließen brennende Kratzer. Sie setzte das Messer an, zögerte. Der Karpfen zappelte noch einmal, bevor er erschlaffte.
Zurück am Forsthaus briet sie die Filets in einer Pfanne über dem Lagerfeuer im Garten. Sie saß auf einem Baumstumpf, den Teller auf den Knien. Der Rauch des Feuers stieg hoch in den Himmel. Das Fleisch war weich und saftig, schmeckte wie der Teich, der Wald, die Erde. Bissen für Bissen aß sie den Fisch, den Wald, die Erde.
Am Abend saß sie auf dem Sofa, den Schlafsack locker über die Beine geworfen, und starrte in das Feuer, das im Ofen loderte. Ihr Schulterblatt schmerzte, aber es war nicht das brennende Ziehen, das sie kannte, sondern ein Pochen. Vorsichtig fuhr sie mit den Fingern über die Stelle. Ein leichter, feuchter Hyphenflaum hatte sich gebildet.
Sie holte den Spiegel aus dem Badezimmer und schaffte es im Licht des Feuers einen Blick auf die Schulter zu werfen.
„Was...?“ Ihre Hände zitterten, als sie die Stelle erneut berührte, dabei in den Spiegel starrte und etwas zu erkennen versuchte. In der Mitte war ein Schatten. Bewegte der sich? Oder war das das flackernde Licht des Feuers?
Alle Cordyceps Arten waren parasitär, auch die eng verwandten Ophiocordyceps bei denen es welche gab, die Ameisen infizierten und die Kontrolle über deren Muskeln übernahmen. Die Ameisen bissen sich an Orten fest, die dem Pilz optimale Lebensbedingungen boten, an Blättern oder Baumrinden. Dort starben die Ameisen. Der Gedanke vom Pilz kontrolliert zu werden, nagte an ihr, während das Feuer erlosch und Dunkelheit den Raum füllte. Sie schloss den Schlafsack und versuchte, nicht nur die Kälte, sondern auch die Fragen auszusperren.
In der Dunkelheit des frühen Morgens, nach einer unruhigen Nacht voller Fragen und Träume, wachte sie auf. War der Wald eine Bedrohung, das Forsthaus ein Käfig? Wie ein Wächter stand der Wald um das Forsthaus herum. Sie stand auf, zündete eine Kerze an und breitete die Karte auf dem Esstisch aus. Ihre Finger folgten den dünnen Linien, die Wege und Pfade markierten, doch ihre Gedanken schweiften ab. Sie fragte sich, ob Chris noch lebte, wie viel Zeit ihr noch blieb. Es war diese unnatürliche Stille, in der selbst ihr Atem laut wirkte. Es war das Gefühl beobachtet zu werden, als wäre der Wald nicht nur still, sondern wachsam. Was, wenn sie sich das alles nicht nur einbildete?
Ihr Blick wanderte zurück zur Karte. Mit dem Finger markierte sie die Heidhorner Fischteiche, zwei bis drei Stunden Fußmarsch entfernt. Dort gab es eine Hütte, die als Pausenraum für Forstarbeiter diente, und ein Schullandheim in der Nähe. Aber sollte sie das Forsthaus wirklich verlassen? Hier hatte sie ein Dach über dem Kopf, einen Ofen, ein Bett, ein Sofa. Doch das Gefühl von Sicherheit war brüchig geworden. Ihr Finger folgte den Linien zwischen Forsthaus und Teichen. Der Weg würde zum großen Teil durch Wald führen und beschwerlich sein, mit matschigen Boden und überwucherten Pfaden. Sie wusste, was sie erwartete, aber je länger sie auf die Karte starrte, desto klarer wurde ihr, dass sie von hier weg musste. Als es hell wurde, hatte sie ihren Rucksack gepackt und machte sich auf den Weg.
Noch immer war die Luft schwer von Feuchtigkeit. Diffuses Licht kämpfte sich durch die Wolkendecke. Wegen der infizierten Schulter trug sie den Rucksack auf nur einer Seite. Der Gedanke, diesen Ort zu verlassen, trieb sie voran. Die Wanderstiefeln sanken in den weichen Boden und lösten sich mit einem leisen Schmatzen. Nach einer Stunde erreichte sie eine Weggabelung und sah zwischen den Bäumen das Forsthaus. Das war unmöglich. Sie hatte die Karte studiert. Sie hatte sich nicht verlaufen. Der Weg hinter ihr zeigte keine Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmte. War sie doch im Kreis gegangen? Ärgerlich ging sie erneut los, langsamer, konzentrierter, suchte nach Wandermarken, überprüfte die Karte an jeder Gabelung. Doch nach einer Stunde sah sie das Forsthaus zwischen den Bäumen. Eine Krähe krächzte vom Dach herunter.
Sie drehte sich um, lief einfach los, wählte einen Pfad, der nicht auf der Karte war. Vielleicht war es nicht einmal ein Pfad. Sie kämpfte sich durchs Unterholz, Äste peitschten ihr ins Gesicht. Es war ihr egal. Sie wollte nur weg. Doch dann: stand sie wieder vor dem Forsthaus. Sie ließ sich in den Matsch sinken, Tränen brannten in ihren Augen, sie presste die Hände auf den Boden. Sie wollte nicht bleiben. Aber sie konnte auch nicht gehen. Sie saß in der Falle.
Am Nachmittag, kurz vor der Dämmerung, brach die Wolkendecke auf. Sonnenlicht fiel durch die Bäume und tauchten das Forsthaus in goldenes Licht. Sie saß auf der Eingangsstufe und weinte. Wieder und wieder hatte sie versucht zu entkommen, wieder und wieder war sie zum Forsthaus zurückgekehrt. Jetzt war nichts mehr übrig. Keine Kraft. Kein Plan. Nur das Forsthaus und der Wald, der sie umschloss wie die Wände eines Kerkers. Sie richtete sich auf und ließ den Blick über die Bäume wandern, dunkle Striche in der Dämmerung. Bald wäre sie tot. Alle wären bald tot. Aber der Wald nicht. Sie spürte alles deutlicher als zuvor – das Pochen in ihrem Schulterblatt, ihren Atem, den Boden unter ihren Füßen. „Warum ich?“, flüsterte sie. Sie hätten es besser machen können. Aber sie hatten es nicht getan.
Am nächsten Morgen weckte sie ein Pochen, das aus der Tiefe ihres Körpers kam. Wellen aus Schmerz brachen über sie herein. Dann wurde alles schwarz. Als sie wieder zu sich kam, schleppte sie sich zum Spiegel. Mit zitternden Fingern schob sie den Stoff ihres Hemdes hoch. Ihr gesamter Rücken war von hellem Hyphenflaum bedeckt, die Haut darunter nicht mehr zu sehen. Ihr stockte der Atem, als sie weitere Stellen an ihrem Körper entdeckte: am Hals, am Oberschenkel, an der Innenseite ihres Arms. Sie taumelte zum Tisch, sein Holz fühlte sich seltsam an – rauer als sonst, feucht. Es roch intensiv. Sie zog die Hand weg. Ein feuchter Abdruck blieb zurück. Sie stolperte zum Fenster, öffnete es und hörte den Wald atmen. Ein langsamer, gleichmäßiger Rhythmus. Und ob sie wollte oder nicht, ihr Herz nahm den Takt auf.
Sie griff nach ihrem Rucksack, als könnte sie einfach weglaufen. Doch der Schmerz zwang sie in die Knie. Sie krümmte sich, riss das Hemd vom Körper, um sich der Luft kühlen zu lassen. Als sie mit den Händen den Boden berührte, ließ der Schmerz nach und feuchte Abdrücke blieben zurück. Auf dem Tisch hatte sich bereits ein Geflecht auf dem Abdruck gebildet. Sie wusste, es würde sich ausbreiten, Boden und Wände entlang, bis es das ganze Forsthaus verschluckt hatte.
Sie trat hinaus in den kühlen Morgen, die Luft feucht und schwer, der Wald lebendig, die Stille verschwunden. Es summte und knackte und pochte und zog sie tiefer hinein. Ihre Beine entschieden, wohin sie ging. Der Wind wehte durch ihr Haar wie durch die Äste der Bäume. Wieder fragte sie: „Warum ich?“, aber die Frage verlor sich im Rauschen des Waldes. Um den Schmerz zu lindern, legte sie die Hände an die Rinde einer Birke, schloss die Augen und lauschte. War sie noch ein Mensch? Judith? Schwer hing der Gedanke zwischen den Bäumen, bis er in der Tiefe des Waldes verschwand. Die Menschen gab es nicht mehr.