Nach Hause
„Nicht mehr genügend Guthaben vorhanden. Bitte nachladen“
Wütend stampfe ich auf den Boden. „Nein, das darf nicht wahr sein!“, sage ich verärgert.
„Komm nicht zu spät nach Hause!“ Die Worte meiner Mutter wiederholen sich in meinem Kopf. Meine Uhr zeigt schon 2:27 Uhr und da sich ein „netter Mitmensch“ mein Fahrrad „ausgeliehen“ hat, werde ich wohl zu Fuss nach Hause gehen müssen.
Der schnellste Weg führt direkt durch einen Wald.
Am Waldrand bleibe ich kurz stehen.
Die dunkle Baumreihe vor mir wirkt beängstigend.
„Ach komm! Sei jetzt kein Feigling!“, sage ich zu mir selbst und laufe in den Wald hinein. Ein dicht bewachsener Wanderweg liegt vor mir. Ich entferne mich immer weiter vom hellen Waldrand, zuerst mit sehr vorsichtigen Schritten, dann immer entschlossener. Je weiter ich gehe, desto dichter wird es. Nur noch vereinzelte Mondstrahlen finden den Weg durch die Baumkronen auf den Waldboden. Meine Sinne sind geschärft und meine Augen gewöhnen sich langsam, aber sicher an die Dunkelheit. Es riecht nach feuchtem Moos. Die Blätter rauschen im Wind und von weitem nehme ich das beruhigende Plätschern eines Brunnens war.
Immer wieder blicke ich mich hastig um, um mich zu versichern, dass ich nicht verfolgt werde. Ich habe das Gefühl, von allen Seiten beobachtet zu werden.
Nach einiger Zeit komme ich endlich an eine Lichtung. Diese ist wie eine Befreiung von der Enge, der Dunkelheit und von dem Ungewissen. Doch der Weg führt wieder tiefer in den Wald.
Auf einmal streifen mir dürre Finger über die Brust. Erschrocken springe ich zur Seite. Mein Puls schiesst schlagartig in die Höhe. Mit der Beleuchtung meines Handydisplays versuche ich, etwas zu erkennen. Zu meiner Erleichterung sehe ich nur einen dünnen Ast, der über den Weg hängt. Beruhigt stecke ich das Handy wieder ein.
Langsam fühle ich mich wieder wohler. Ich habe mich an das ständige Rascheln im Gebüsch gewöhnt und lasse mich nicht mehr davon beirren. Es beginnt leicht zu regnen, doch ich befinde mich zum Glück im Schutz der Bäume.
Plötzlich höre ich einen unbeschreiblich fürchterlichen Laut, gefolgt von einem dumpfen, hastigen Getrampel, das die Äste auf dem Waldboden zum Bersten bringt. Ich bin wie gelähmt und bleibe angewurzelt stehen. Ich spüre meinen ganzen Körper. Vom Herz bis in die Beine durchfliesst mich ein Strom von Energie. Es fühlt sich an, als ob sich alles in mir zusammenziehen würde. Erst jetzt spüre ich meinen hohen Puls. Das Herz rast. Immer und immer wiederholt sich der Laut. Ein ekelerregendes Bellen, wie ich es noch nie gehört habe. Es wird immer lauter. Ich renne los. So schnell wie nur möglich. Ich keuche vor Anstrengung, doch mein Körper rennt von alleine weiter. Plötzlich stolpere ich. Mit meinen Händen kann ich den Aufprall im letzten Moment noch bremsen. Da springt direkt vor mir ein Reh über den Weg. Es bleibt am Rand stehen, bellt mich noch ein letztes Mal an und verschwindet dann ins dunkle Nichts.
Es ist wieder still und ich höre nur noch, wie die Regentropfen auf die Blätter prasseln.