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Nach Hause
Fast lautlos gleiten die Schleusentore auseinander und ich trete ein. Sofort danach schließen sie sich wieder und die Außenmikrofone meines Raumanzuges übertragen die typischen Luftabsauggeräusche der Vakuumpumpen. Ich habe den ehrenvollen Auftrag ICE-117a, einen kleinen, vereisten Gesteinsplaneten, in den Besitz der Bundesrepublik Deutschland zu bringen. Was heißt: Fahne aufstellen.
Er bewegt sich auf einer elliptischen Bahn um einen Kugelhaufen alter Sterne, im zentralen Bereich der Milchstraße, mit einer Umlaufzeit von 125.000 Jahren. Ein einziges Mal in dieser langen Zeit, taut die Oberfläche des Kleinplaneten für ein halbes Jahr auf. Nämlich dann, wenn er sehr dicht an Alpha Zewuhny, einer kleinen, versprengten, roten Sonne herankommt und eine halbe Umkreisung vollzieht. Danach gibt ihn der Rote Zwerg wieder frei und der kleine Planet wandert in entgegengesetzter Richtung zurück. Der Auftauprozess hat bereits begonnen. Die Außentore öffnen sich und ich gleite hinaus. Unter mir die rötlich-braun schimmernde, felsige Oberfläche. Der Bordcomputer meines Raumanzuges übernimmt die Navigation, so dass ich ein paar Minuten Zeit habe, zu entspannen, was mir in dem angenehmen Licht nicht schwer fällt.
Ich denke an den gerade zurückliegenden Unterricht mit den Kleinen, der mir trotz aller Schwierigkeiten im Umgang besonders intelligenter Kinder, immer viel Spaß macht. Die Statuten der Raumfahrtbehörde sehen vor, dass die begabtesten von ihnen, ab und an auf ungefährliche Raumfahrtmissionen mitgenommen werden. Und ebenso, dass man sie über alle Aktionen unterrichtet, um sie möglichst früh an das Leben im Weltraum heranzuführen. So halte ich die Kinder durch einen kleinen Vortrag darüber auf dem Laufenden, was aktuell anliegt.
"Warum musst du denn da hin?", die kleine Sophie hatte den Kopf auf beide Hände gestützt. Die langen blonden Haare schlängelten sich durch ihre kleinen Finger.
"Ja, weißt du", antwortete ich, "die Bundesrepublik hat ein Interesse daran, sich sämtliche noch freien Himmelskörper, an denen wir vorbeifliegen, anzueignen."
Sie sah mich mit großen Augen an: "Und wieso?" Fragte sie gedehnt. Alle zwölf Kinder in dem hellen und freundlichen Unterrichtsraum, sahen gespannt auf mich.
"Nun ja, man weiß nie so genau, welche Schätze auf einem Himmelskörper, wie zum Beispiel ICE-117a, verborgen sind. Und mit der Fahne wird gleichzeitig ein Sender positioniert, der allen vorbeifahrenden Schiffen signalisiert: Hände weg, ich gehöre zum deutschen Staatsgebiet." Verhaltenes Lachen. "Damit haben wir alle Rechte, aber auch Verpflichtungen, die diesen Planeten betreffen."
"Und wenn er einem anderen Planeten auf den Kopf fällt?" Sophie lächelte verschmizt und die Klasse explodierte vor Lachen.
"Dann ist Deutschland für die Folgen voll verantwortlich!" Ich musste schon ziemlich laut sprechen, um mir noch Gehör zu verschaffen.
"Ach", rief die Kleine, "und wir dürfen dann wieder mal alles bezahlen - herzlichen Glückwunsch!" Die Klasse tobte. Sophie schien das in der Bordkantine aufgeschnappt zu haben, ein nasses Stück Papier batschte an meine Stirn.
"So ist es", schrie ich und sah auf die Uhr, während ich mir das Spuckepapier aus dem Gesicht kratzte, "So Kinder, ich muss los, mein Auftrag wartet!" Versuchte ich mich zu retten.
"Aber warum schicken wir denn nicht einfach eine Sonde 'en passant', also ohne umständliches und zeitraubendes Landemanöver?" Sophie setzte sich auf und guckte mich triumphierend an. In der Klasse herrschte plötzlich wieder gespannte Ruhe.
"Technisch kein Problem", antwortete ich.
"Aber die Statuuuteeen!!", riefen die Zwölf im Chor und tobten.
"Genau!", brüllte ich, "es muss ein deutscher Staatsangehöriger persönlich vollbringen, ... aber das wisst ihr ja!" Meine letzten Worte gingen im Tumult unter. Das Papier klebte jetzt an meinen Fingern.
Es wurde immer lauter, da schreit ein anderes Kind: "Wir wollen mit!" Dann alle:"Jaaa, wir wollen auch mit!!"
Als ich die Tür hinter mir zuschlug hörte ich nur noch ein gedämpftes "Ooooch maaaaan, das ist gemein!"
Ich liebe die Kinder über alles, aber dieses mal hatten sie es übertrieben. Schmunzelnd sah ich zu, dass ich wegkam.
Ganz schön frech, die Knirpse, denke ich kurz vor der Landung. Ich werde mir da was überlegen müssen. Ein Piepsen zeigt mir an, dass ich übernehmen soll. Da die Oberfläche schon viele kleine Gewässer aufweist, markiere ich per Fadenkreuz eine trockene und gerade noch vereiste Ebene, auf der Gesteinsbrocken herumliegen. Die Fahne haftet magnetisch, senkrecht an meinem Rückentornister.
Ich bleibe eine Weile stehen und lasse die Stimmung für einen Moment auf mich wirken. Einen fremden Planeten zu besuchen, ist für mich niemals Routine geworden und immer noch etwas ganz besonderes. Ein paar Schritte vom Landeplatz befestige ich die Fahne im Felsgrund.
Da fährt ein Schreck durch meine Glieder.
Bewegungslos sitzt eine menschengroße, ameisenähnliche Gestalt auf einem Felsen in der Nähe. Der Raumanzug registriert sofort meine Aufregung und sendet automatisch eine Nachricht an das Mutterschiff. Mir läuft es heiß und kalt über den Rücken. Entgegen der Vorschrift nähere ich mich vorsichtig, meine Neugier ist einfach zu groß. Da erkenne ich: das Biest ist eingefroren und sitzt hier seit 125.000 Jahren als Denkmal.
Rette mich! ertönt es in meinem Kopf. Ein zweites mal geht mein Blutdruck in den Keller und meine Pulsfrequenz auf den Dachboden, ich weiche zurück. Bleib, bitte bleib!
Ein paar Schritte abseits des Monsters beobachte ich es und warte zögernd ab. Erste Pfützen entstehen auf der, gerade noch vereisten, Ebene.
Hilf mir, höre ich in meinem Kopf. Komm etwas näher, wir können uns dann besser verständigen. Ich bin schon sehr schwach. Zögernd komme ich etwas auf die Riesenameise zu, da plötzlich schnellen alle sechs dünnen Beinchen vor, sie sind unerwartet lang und packen mich fest an beiden Hand- und Fußgelenken. Ihr Griff ist eisern. Allein meinen Kopf, den ich reflexartig zur Seite gedreht habe, hält sie vorsichtig, ja zärtlich mit dem vorderen Beinpaar, und dreht ihn zu sich hin. Wir sind jetzt von Angesicht zu Angesicht.
Mein Körper fällt in eine Starre, während sich mein Geist, wie in Zeitlupe auf seinen Kopf zu bewegt. Langsam dreht sich meine Perspektive um hundertachzig Grad und ich sehe jetzt durch seine Facettenaugen in mein eigenes, blöde grinsendes Konterfei.
Hilfe! Hilfe! entfährt es jetzt mir in Gedanken. Ich will aufstehen, aber mein Ameisenhintern ist noch fest auf dem Felsen angefroren. Er weiß das.
Mein ehemaliger Körper steht provozierend nahe bei mir. Keine Angst, telepathiert er mir, du brauchst nur etwas Geduld. Er macht eine übertrieben nachdenkliche Geste. So etwa 125.000 Jahre. Er kann seine Freude nicht verbergen.
Da spüre ich, wie sich mein Hintern mit einem leichten Ruck vom Felsen ablöst. Schnell springe ich auf meinen alten Körper zu, will ihn packen ohne ihn zu verletzen, denn ich könnte ihn ja noch brauchen. Doch diese Gedanken wirken wie eine Bremse und der Fremde fliegt hoch und steuert auf das Mutterschiff zu. Während dessen ertönt in meinem Kopf ein fröhlich gepfiffenes Liedchen. Ohne sich noch einmal umzublicken schwebt er Richtung Basisschiff.
Ich bin allein auf einem fremden Planeten, der in einem halben Jahr, für eine kleine Ewigkeit wieder einfriert, ohne Chance auf Rettung. Ich überlege, wie es mit ihm weitergeht, also ... mit meinem Körper.
Er wird als erstes einen Einlauf von der Kommandantin bekommen, sich unerlaubt einem Außerirdischen zu nähern. Sie wird das Ameisenmonster untersuchen wollen. Aber das wird er ihr ausreden. Dann wird er auflisten: von wegen Verantwortung für die Kinder, gefährliches Biest, unberechenbarer Alien, bla, bla, bla. Alle würden ihm glauben. Schließlich hat er meinen Körper!
So sind meine Gedanken, und ich krabble planlos zwischen den Felsen herum, während die Pfützen wachsen.
Nun sitze ich hier fest. Unterdessen führt er mein schönes Leben auf dem Schulschiff, mit all den Kindern, die ich so liebe und niemals wiedersehen werde.
Nach einiger Zeit jedoch, beginne ich mich, mit der Situation zu arrangieren.
Mein neuer Körper ist fantastisch. Es fühlt sich göttlich an, mit etwa einhundertundfünfzig Kilometern in der Stunde über diese Felsenlandschaft zu sausen. Völlig mühelos tragen mich meine Ameisenbeine über die schroffen Felsen. Dabei wird mein Körper wie eine Sänfte getragen. Als Energiequelle nutze ich die Mineralien, die sich in den unzähligen Pfützen, im Laufe der Zeit, gelöst hatten. Ich brauche nur zu trinken!
Körperlich fehlt es mir an Nichts. Es ist warm, ich habe Wasser, Nahrung und fühle mich gesund und stark. Außerdem habe ich den ganzen Planeten für mich alleine. Er ist in vollem Auftauprozess, da er seiner Stiefsonne immer die gleiche Seite zuwendet. Überall Bäche, Seen, Tümpel und Flüsse. Das ablaufende Tauwasser gibt immer mehr Boden frei.
Da schaue ich auf einen großen Maulwurfshügel vor mir und denke war der eben auch schon da?, als plötzlich ein Wesen ohne Augen sein Schnäuzchen herausstreckt, schnuppert, gänzlich herausschlüpft und sich schüttelt. Es sieht aus wie ein Dackel ohne Fell, hat Fledermausohren und eine durchsichtige Haut, so dass die Organe hindurchschimmern. Aus Erfahrung klug, halte ich Abstand. Er kommt auf mich zu, schnüffelt und knurrt mich an. Da nehme ich wie ein scheuendes Pferd Reißaus, er verfolgt mich ohne Eile. Immer die Nase hoch im Wind, weiß er offenbar genau wo ich bin. Ich stolpere ... über einen Maulwurfshügel! ... und noch einmal! Immer mehr davon erscheinen und immer schneller. Nach kurzer Zeit ist mir eine durchsichtige Dackelarmee auf den Fersen.
Noch trabe ich energiesparend vor ihnen her, aber der Leitdackel wechselt ständig, so dass mir immer ein ausgeruhtes Wesen folgt. Sie teilen ihre Kräfte ein. Immer mehr dieser Kreaturen kommen jetzt auch von vorn. Ich kann ausweichen, aber wie lange noch? Irgend etwas muss geschehen.
Ich könnte durch einen Spurt außer Sichtweite gelangen, wenn das jedoch misslingt, bin ich geschwächt. Oder ich könnte in eines der vielen Gewässer springen. Kann sein sie sind wasserscheu ... nein, zu riskant. Sie würden den See umzingeln und dann? Es werden immer mehr und das Leittier kommt langsam näher. Ich schätze die Anzahl meiner Verfolger auf mittlerweile einige hundert. Bisse jeder nur ein winziges Stück von mir ab, wäre ich in Sekunden nicht mehr da. Und die Armee der Piranha-Dackel wächst immer schneller.
Vor mir erscheint ein reißender Fluss. Ich könnte beidrehen und an seinem Ufer entlang weiter flüchten, aber was bringt das schon. Spränge ich jedoch hinüber ...
All meine Kräfte mobilisierend beschleunige ich auf etwa einhundertundsiebzig Km/h und mache einen mächtigen Satz über den Fluss. Jetzt wollen wir doch mal sehen wie es weitergeht. Ich lande sicher am anderen Ufer, drehe mich um und richte mich auf. Ich kann nicht glauben, was ich sehe. Auch die Dackel haben beschleunigt und nutzen geschickt am Ufer liegende Felsen als erhöhten Absprung...und setzen mir nach!
Im Fluge spreizen die kleinen Teufel alle viere weit von sich und offenbaren Flughäute, mit denen sie völlig mühelos über den Fluss gleiten. Dabei machen sie sogar noch Faxen, drehen Schrauben, machen Loopings oder fliegen majestätisch Figuren. Es macht ihnen Spaß! Warum auch nicht? Schließlich wartet ein Festmahl auf sie. Das Schauspiel fasziniert mich, es ist ihr Planet, sie sind perfekt an diese Umgebung angepasst. Weiter geht es und hinter mir trappsen tausend kleine Pfötchen.
An welche Umgebung bin ich angepasst? Was, außer weglaufen, kann eine Ameise? Manche haben Flügel! Ich schaue auf meinen Rücken: Fehlanzeige. Meine Kräfte lassen jetzt nach, während die Dackel eine neue Strategie haben: Sie laufen über die Rücken ihrer Vorderen und übernehmen so die Führung, um dann sofort selbst als Springbock zu dienen. Dadurch verkürzt sich der Abstand der Meute zu mir, ohne dass auch nur ein Tier weiter beschleunigen muss, das bleibt an mir hängen. Ich bekomme Panik. Seit vielleicht einer Stunde bin ich auf der Flucht mit etwa einhundert Stundenkilometern. Ich schätze meine Kraft ein. Ein kräftiger Spurt und ich bin am Ende. Aber wohin? Ich sehe nur Felsen, Wasser, ein Raumschiff, Bäche, wieder Felsen ...
Wie bitte!? Was!? ... bin ich an einem Raumschiff vorbeigesaust?
Einen weiten Bogen ziehend, habe ich es wieder in Sicht. Jetzt setze ich alles auf eine Karte. Meine restlichen Kräfte stecken in diesem finalen Spurt. Der Abstand zur Dackelarmee wächst schlagartig auf etwa einen halben Kilometer, das gibt mir einige Sekunden, mehr nicht. Die Brocken fliegen, als ich dicht vor dem Schiff zum Stehen komme.
Es handelt sich um einen kleinen Mannschaftstransporter des Ameisenvolkes. Verzweifelt suche ich in deren lückenhaften Erinnerungen. Riegel hoch? runter? Knopfdrücken? ... verdammte Scheisse, wie kriege ich den Einstieg auf? Ich kann schon das Jappsen der beißwütigen Meute hören. Panisches Rütteln am Öffnungsmechanismus bringt nichts. Mit übermenschlicher Kraft zwinge ich mich zur Ruhe. --- Telepathie? --- die Luke fliegt auf und während der Leitdackel nach meinen Füßen schnappt, befehle ich noch im Hineinstürzen gedanklich das Verriegeln. Die Luke schließt sich blitzschnell und trennt dem Tier den Kopf ab. Er zappelt noch mit dem Kiefer schnappend umher, bis er schließlich erlahmt.
Da knallen die Dackelleiber gegen die Bordwand. Sie schaben, kratzen und beißen in die Außenwand, aber gegen dieses Material haben sie keine Chance. Es gibt nicht mal einen Kratzer. Sie lassen davon ab und umringen knurrend das Raumschiff.
Da sehe ich einen grünlichen Schimmer auf der Oberfläche: zartes Gras. Der Planet erwacht. Es wird nicht lange dauern und die hungrigen Wesen finden ihre natürlichen Beutetiere.
Ich riskiere nun nichts mehr und gehe in einen Orbit. Warum ist mein ‚Ameisenfreund’ nicht so verfahren? Haben 125.000 Jahre des Eingefrorenseins die entscheidenden Synapsen untergehen lassen, so dass er gar nicht mehr wusste, wie er hier her kam? Es mag so sein.
Der Check sagt mir: alle Systeme okay. Auf dem Navi tippe ich 'nach Hause' an. Aber ich starte nicht. Da ist etwas, das mich zögern lässt. Wie konnte ich so dumm sein, dieses 'nach Hause' auf dem Navi würde mich ja zum Ameisenvolk führen. So gehen meine Gedanken hin und her.
Da beginnt die Umgebung zu wabern, wie Wasser nach einem Steinwurf und urplötzlich schlägt eine göttliche Physik mit aller Macht zu.
Unsere beiden Seelen sind wie durch ein Gummiband mit unseren natürlich angestammten Körpern verbunden. Es dehnt sich eine Weile, aber zerreißen kann es nicht. Im Moment größter Anspannung zieht es uns beide aus den falschen Körpern, und während wir im Licht der Liebe baden, fallen wir durch Raum und Zeit. Als wir aneinander vorbei gleiten, dehnt sich versöhnend die Zeit - schenkt uns Gelegenheit einander zu verstehen. Wir wünschen uns gute Reise.
Gleich wird er in seinem startbereiten Raumschiff sitzen.
"Durch das Möhre-Esel Prinzip" Ich schaue in Sophies fröhliches Gesicht, sie strahlt mich an. Jetzt heißt es schnell schalten und sich nichts anmerken lassen.
"K ... kannst du das näher beschreiben?", frage ich sie, und gewinne etwas Zeit.
"Ja ... ", antwortet sie, "der Antrieb fliegt mit Überlicht separat vorneweg und zieht das eigentliche Raumschiff mittels Schwerkraft hinter sich her", sie lehnt sich zufrieden zurück, sie weiß, dass sie gut ist.
Batsch, ich kratze mir seufzend das Spuckepapier von der Stirn. Aber besser das, als von hungrigen Dackeln gefressen zu werden.