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Nach Gilead 4
Nach Gilead 4
„Die Straße ist mir schlicht unheimlich, doch ich weiß nicht, wieso. Vielleicht, weil ich sie immer nur im Dunkeln befahre. Oder, weil sie durch eine morastige Gegend verläuft und man im Nebel dort selten weiter als ein paar Meter sehen kann. Vielleicht aber auch, weil ich dann einen Verirrten hinten im Wagen habe.
Die Straße beginnt in der Stadt, doch es dauert nur kurz, bis Du die dichter besiedelten Gebiete verläßt. Vereinzelt noch von Wohnhäuser gesäumt, verliert sich die Straße im massiver werdenden Nebel. Die Wiesen dort sind tropfenverhangen, schneidend kalt; und zwischen den Halmen lauern die Gefühle, die die Wirklichkeit zerreissen; und das ist die Strafe des Lebens für Deine Eitelkeit: Dich auf den Weg nach Gilead zu schicken.
Die Anwohner dort sind furchtsam und vorsichtig geworden, sie sind von der Art Mensch, die Ihre Kinder zur Schule fahren, nach Einbruch der Dunkelheit die Türe nicht mehr öffnen und die immer ein Auge nach draußen gerichtet haben, wo die Straße ins Nichts führt. Dort liegt die Gefahr, die mein einziges Ziel ist, weil die von einst verloren sind und alles Selbstbewußtsein gestorben.
Noch weiter draußen reihen sich Laternen an die Straße, aber ihr verwischtes Licht auf der von Wasser überfluteten Windschutzscheibe kann doch nicht verhindern, dass Du Dich in einem eisigen, grauen Traumland verlierst und die Gefahr besteht, nie wiederzukehren. Bösartige Bäume strecken ihre bizarren Äste auf die Straße, als wollten sie Dich vom Weg verdrängen, die feindselige Straße schlägt Buckel und reißt Löcher auf, um Dich in den Graben zu werfen. Die Welt und das Leben sind Dein Feind, Du bist in ein Schicksal in der Nacht gesandt.
Das Armaturenbrett strahlt auf Dein Gesicht ein farbiges Muster, Zeiger drehen sich auf Deiner Stirn, Nase, Deinem Hals. Der Sekundenzeiger der Digitaluhr blinkt in Deinem Auge. Aus dem ambienten Grau schließlich gewahrst Du dann, in der immerwährenden Kälte schwitzend, eine diffuse, doch so freundliche Leuchtschrift, die verkündet: „GILEAD 4“. Du bist am Ziel, am Ursprung der Gefahr hast Du eine kurze Pause errungen. Trotzdem ist es nur eine Frage der Zeit, bis das Schicksal wieder in Dein Leben hereinbricht und Dich in die Nacht schickt, bis Du Buße getan hast.“