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Nach der Freiheit muss man greifen
Ich summe eine traurige Melodie vor mich hin. Warum? Weil mich die weichen Moll-Klänge beruhigen. Es ist eines der Beerdigungslieder – ich habe vergessen, welches.
Das Mädchen neben mir stiert mich böse an. Was sie hat, kann ich auch nicht sagen, aber ich bezweifle, dass sie in mir eine Konkurrentin sieht, so eingebildet wie sie ist. Trotzdem stiere ich wütend zurück und verlasse den Raum. Wir dürfen uns überall in der Akademie aufhalten, wir müssen nur rechtzeitig da sein, wenn wir dran sind.
Dennoch ist es ein Fehler gewesen, den Raum zu verlassen, denn vor der Tür steht mein persönlicher Drache – Frau Bertrom, die Lehrerin. Und ihrer so netten Ausstrahlung entsprechend faucht sie mich an: „Wenn Du versagst ….“
Ich ignoriere sie und gehe nach draußen. Dort beginne ich alle Stücke Note für Note noch einmal zu überdenken. Fünften Finger immer schön strecken…
Ich blicke nervös auf die Uhr. Jetzt bin ich doch tatsächlich noch aufgeregt. Und während ich versuche, mich zu beruhigen, spüre ich, wie etwas sehr, sehr Zorniges in mir an die Oberfläche will. Ich schlucke es hinunter und nehme mir vor, dem alten Drachen mal gehörig meine Meinung zu sagen – aber erst nach der Audition.
Warum muss sie mir auch immer alles vorschreiben und mir den Spaß an allem verderben? Es war ja meine Idee gewesen, an dem Musikwettbewerb für Jugendliche teilzunehmen, aber sie hat mich dazu gebracht, die Stücke anzumelden, die ich über alles hasse: Barock von Telemann. Bach hätte ich ja noch vertragen, aber Telemann? Noch dazu soll ich als „schmissige Nummer“, wie sie es immer so toll nennt, ein bayrisches Volkslied spielen! Schon allein der Rhythmus ist grausam!
Ich schaue wieder auf die Uhr. In fünfzehn Minuten bin ich dran.
Auch meine Eltern drängen mich den ganzen Tag lang, zumindest wenn sie zu Hause sind, Barock zu üben. Wenn sie nicht da sind, spiele ich meine Musik.
Meine Freundin unterstützt mich auch immer dabei und sie sagt mir jedes Mal, ich solle dem Ungeheuer endlich die Stirn bieten. Schade, dass sie heute nicht kommen kann, ich hätte sie echt gebraucht.
Noch zehn Minuten.
Ich drehe mich um und mache mich auf den Rückweg. Dabei fange ich an, Filmmusik zu summen. Ich beiße mir auf die Zunge und denke an das Volkslied. Schließlich überwinde ich mich doch und beginne, den Rhythmus zu klopfen.
Als ich in dem Raum ankomme, den ich vorher verlassen habe, schaut mich das Mädchen freundlicher an. „Sag mal, was hast Du denn für eine Lehrerin?“ Ich zuckte die Schultern und erwiderte: „Eine schrullige, Nerv tötende, alte Dame, die erfolgssüchtig ist und es selber zu nichts gebracht hat.“
Nächster Blick auf die Uhr: Noch zwei Minuten.
„Und Du lässt Dir das gefallen?“ Ich sage nur: „Ich bin gleich dran. Tschüs.“
Sie blickt mir mitleidig hinterher, während ich zügig den Raum wieder verlasse.
Vor der Tür: Schon wieder die liebe Frau Bertrom.
Nachdem ich ihren giftigen Blick in Empfang genommen habe, halte ich es doch nicht mehr aus und schreie sie an:
"Lassen Sie mich doch endlich in Ruhe! Was haben Sie denn für ein Problem damit, dass ich Ihre blöde Musik nicht ausstehen kann? Es ist meine Entscheidung, mein Wettbewerb und mein Leben! Bloß weil Sie nicht ehrgeizig genug waren, heißt das noch lange nicht, dass Sie Ihren ganzen Frust an mir auslassen können! Ich gehe da jetzt raus und spiele das, was ich spielen möchte."
"Du kleines, unverschämtes, undankbares Ding! Ich gebe Dir mein ganzes Wissen und zeige Dir den richtigen Weg, und so dankst Du mir? Das wirst Du büßen! Ich werde Deinen Eltern alles erzählen, dann wird man Dir schon noch zeigen, was Dankbarkeit ist!", erwiderte sie giftig.
Dann gehe ich, ohne mir ihr Geschimpfe weiter anzuhören, auf die Bühne, wo ich mit Applaus empfangen werde.
Ich verneige mich, dann halte ich inne: Von hinten winkt mir meine Freundin zu!
Ich lächle, setze mich auf den Klavierschemel, rücke ihn zurecht und hole noch einmal tief Luft. Meine Gedanken geben mir strikte Anweisungen. Linke Hand auf Kontra-C, die rechte auf C-Dur.
Als sich meine Finger dann auf die Tasten legen, spielen sie endlich MEINE Musik:
Zuerst Filmmusik, dann kommen meine klassischen und romantischen Lieblinge. Ich denke nicht mehr, sondern lächle nur noch. Nur noch ein Satz formt sich in meinem Kopf:
Ich bin frei.