Nach dem Tod
Es gibt immer Tage im Leben, an denen man Melancholie verspürt, dann wenn man sich am liebsten unter der Decke verstecken möchte.
Wenn ich in einer melancholischen Stimmung bin, dann fühle ich mich hin und her gerissen zwischen Freude und Betrübtheit; zwischen Leben und Tod. Aber im Prinzip sind das nur Tage und Tage vergehen, so wie auch diese Stimmung von Melancholie vergeht. Dann ist alles vergessen, jeder Gedanke an Selbstmord und jede Träne. Schließlich erkennt man dann, dass man stark war, dass man stark ist. Doch was passiert, wenn man nicht stark genug war? Schwer zu sagen, wenn man das noch nicht erlebt hat!
Es gab einen Tag in meinem Leben, an dem ich nicht stark war, an dem ich stand zwischen Standhaftigkeit und Fall; ich fiel, nachdem meine letzte Träne gefallen war. Ich glaube es war ein Freitag, um genau zu sein: Freitag der sechste Oktober 2000. Wie schon so oft begegnete ich dem Wunsch etwas Geborgenheit, etwas Liebe zu empfangen. Es gab dort einen Jungen in meiner Schule, ich will seinen Namen lieber nicht nennen, damit er sich nicht verantwortlich für meinen Tod fühlt. Ich sträubte mich immer dagegen zu glauben, zu erkennen, dass ich ihn liebe und ich mich nach seiner Zuwendung sehnte. Doch an diesem Freitag musste ich verzweifelt das Gegenteil feststellen. Ich weiß nicht, warum mir diese Erkenntnis kam, doch sie zerbrach alles. Denn wie viel Ablehnung kann ein Mensch ertragen, der sich nichts sehnlicher wünscht als etwas Liebe?! Wahrscheinlich öffneten die Tagträume meine Augen; jedenfalls war der Gedanke da, wie es doch wäre, wenn er mich in die Arme nehmen würde, mir in die Augen sähe und allen Schmerz lindern würde. Welch eitle Phantasie, doch viel zu fern um jemals Realität zu werden.
Doch es ist nur Melancholie, die wie Tage vergeht, denn Zeit heilt alle Wunden. Doch meine Wunden heilt selbst der Tod nicht, noch würde ich alle Liebe der Welt empfangen. Vielleicht war es meine Unfähigkeit einfach zu denken aufzuhören und diesen Jungen Junge sein zu lassen und die Wolken verziehen zu lassen, weswegen ich fiel. Vielleicht habe ich mich nur in die Rolle, in die Liebe zu diesem Jungen hineingesteigert, zu sehr, dass ich es wirklich glaubte.
Aber es gab keinen Halt mehr um stark zu sein. Meine Tränen vernebelten meine Vernunft oder zerbrachen mein Herz endgültig in Stücke. Ich konnte nicht mehr glauben: "Es wird schon Einer kommen der dich liebt, wenn du erst mal aus der Schule raus bist und in ein anderes Umfeld kommst!" Nein, wirklich nicht. Zu schön war doch der Gedanke, dass er mich ebenfalls lieben könnte und zu klar die Erkenntnis, dass das nie der Fall sein würde. Jedenfalls fiel ich sehr tief, von Melancholie in die schwärzeste Betrübtheit, die ich jemals in meinem Leben verspürt hatte.
Nein; ich würde alles für ihn tun, doch ich konnte nichts mehr außer sterben; ich war zu schwach um zu kämpfen, ich war endgültig am Ende meiner Kräfte.
Also stürzte ich mich aus dem Fenster, im freien Fall. Stell man sich vor wie das so ist, wenn man auf den Boden zu rast. Ich dachte nur an ihn und mir schien es bis zu letzt, selbst in der letzten Sekunde meines Lebens, wertvoll zu sein. Als ich auf dem Boden zerschmetterte war ich frei, von der Dunkelheit einer Sekunde bis zum Aufatmen meiner gepeinigten Seele. Es war freier Atem, der die Welt anders aussehen ließ; heller, froher. Ein Leben nach dem Tod, ein Leben mit dem Tod. Mein erster Gedanke war, sobald man es Gedanke nennen kann: "Ich tat es für dich!" Natürlich konnte mein Wunsch jetzt wahr werden, ganz nahe bei ihm zu sein, sein Gesicht zu berühren, ohne dass er es mir verbieten konnte. Ich durfte ihm nahe sein, so nahe wie ich es im Leben nie durfte. Sterben lohnt sich!
Doch ich sah ihn, wie er so glücklich war, mit diesem Mädchen. Er freute sich und ich lag tot auf der Straße. Jetzt wusste ich, dass selbst der Tod meine Wunden nicht heilen und meine Tränen nicht trocknen kann. Doch man kann nur einmal sterben und wenn es möglich wäre, selbst dann würde niemand um mich weinen.
Was wäre passiert, wenn ich stark gewesen wäre? Hätte er mich dann doch irgendwann geliebt oder hätte sich mein Tränenmeer noch weiter gefüllt? Ich dachte immer, es wäre wert
zu sterben für die Liebe, doch ich musste erkennen, dass selbst der Tod für die Liebe das Leben nicht ersetzen kann.