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Nach dem Ende ist vor dem Ende
Rückblickend hätten wir dem irren Spinner im senfgelben Anzug glauben sollen, jetzt da die Welt im Arsch ist. Wir haben ihm aber lieber sein dämliches Schild auf die Rübe gehauen, auf dem in krakeligen Buchstaben Das Ende ist nah! geschrieben stand. Und wir haben gelacht wie in Clockwork Orange. Bestimmt hätten wir ihn ernster genommen, wenn sein schmutziges rotes Haar nicht so ikonenhaft seinen Kopf umkranzt hätte. Die abstehenden Haarbüschel erinnerten uns an Ronald McDonald. So haben wir einfach nur seine Taschen nach Kleingeld durchwühlt und uns Bier davon gekauft.
Das Ende ist gekommen, und Arne und ich sind die einzigen, die Senfanzug ausgelacht und verprügelt haben, und noch leben. Egal, wir haben neue Typen kennengelernt. Wir mögen sie zwar nicht, aber hey, wenn die Welt untergegangen ist, darf man nicht kleinlich sein.
Unsere postapokalyptische Gruppe besteht zum größten Teil aus Nerds, die allesamt so aussehen als machen sie Live-Rollenspiel. Die Jungen tragen alle lange, verfilzte Haare, und Kettenhemden. Ihre Bärte sind ebenso lang und verfilzt. Die Mädels haben sich alle in so Mittelalterkleider mit großzügigen Ausschnitt gezwängt, die um die Taille sehr eng, an den Ärmeln dafür aber ausladend weit sind. Dann gibt es da noch Glatze und die Aushilfskraft von Fleischpfanne Dubrovnik, Iwan. Und natürlich Dr. Wagner, der von sich behauptet ein renommierter Professor für Weltuntergänge zu sein, obwohl ich glaube, das er tatsächlich Zahnarzt ist. Niemand von uns nimmt Dr. Wagner ernst und wir sind uns im Stillen einig darüber, dass er der erste sein wird, den wir essen, wenn uns die Nahrungsmittel ausgehen.
„Habt keine Angst, meine Freunde. Das Schlimmste haben wir überstanden, nämlich die Katastrophe selbst“, doziert der Doktor.
„Was ist mit mutierten Bären?“
„Ich glaube, darüber müssen wir uns keine Sorgen machen ...“.
„Nicht solange ich die Blutaxt von Nimrod habe!“ ruft einer der Rollenspieler dazwischen.
Triumphierend hebt er ein undefinierbares Gebilde aus Schaumgummi in die Höhe. Nicht einmal seine Kollegen wagen es ihn anzuschauen.
„Sobald wir erst einmal eine neue Gesellschaft aufgebaut haben“, fährt der Doktor fort, der die Blutaxt von Nimrod entweder tapfer ignoriert oder gar nicht wahrgenommen hat.
Glatze dreht sich interessiert zu Dr. Wagner um, als sehe er ihn zum ersten Mal. Aber er fragt wider Erwartung nicht Wer bist du?, sondern: „Hier, mal zu deiner neuen Gesellschaft. Meinst du so was wie eine Herrenrasse?“
Glatze trägt nicht nur, sondern ist auch eine. Er und Iwan hassen sich wie die Pest, verständlicherweise. Nach Arnes und meiner Kalkulation, sind sie die ersten beiden, die draufgehen werden. Wahrscheinlich bringen sie sich gegenseitig um.
„Kein Nazi-Indoktrinierungs-Scheiß!“, rufen die Rollenspieler und schütteln warnend ihre massiven Köpfe wie bemähnte Bullen. Glatze weicht einen Schritt nach hinten.
„Besonders so lange ich die Blutaxt von Nimrod habe!“
„Wir dürfen uns nicht streiten!“, versucht Zahnarzt Wagner die Gemüter zu schlichten. „Wir müssen zusammenhalten. Das ist wichtig jetzt! Zu aller erst müssen wir nun eine neue Gesellschaft aufbauen.“
Zum ersten Mal scheint er die ungeteilte Aufmerksamkeit der ganzen Gruppe zu besitzen. Allerdings ist das nicht besonders gut.
„Wenn auch vielleicht nicht unbedingt eine Herrenrasse“, fügt er rasch hinzu, als er die Blicke richtig interpretiert hat. Er glotzt uns über seine randlose Brille an und sieht weniger denn je wie ein Bruce Willis aus, dem man ein Mindestmaß an Expertentum in Sachen Weltuntergang zugestehen würde, sondern mehr wie Christopher Walken.
Arne beginnt eine Unterhaltung mit einem der Rollenspieler und seiner dickbusigen Freundin. Typisch Arne, die Erde liegt in Trümmern und er macht sich gleich an die nächste ran. Ich gehe zu ihnen hinüber, schon allein damit ich den gewichtigen Quark vom Wagner nicht mehr anhören muss.
„Und du bist also ein Barbarenkrieger der vierten Stufe?“, frage ich den hünenhaften Mann in Blechrüstung und würde ihm sogar kameradschaftlich auf die Schulter hauen, wenn er nicht drei Köpfe größer wäre als ich.
„Nee, Informatiker“, antwortet er irritiert, während ich seine Freundin in Augenschein nehme. Bei ihr muss ich etwas nach unten schauen, denn wir haben die gleiche Größe.
„Geile Brüste“, verspreche ich mich freudsch.
„Was?“, bellt entweder er oder sie scharf, aber ich achte nicht darauf wer von beiden.
„Geile Rüstung.“
„Alter, was machst du denn da?“, zischelt Arne, der ja auch noch da ist. Anscheinend findet er es nicht so cool, dass ich ihm in die Parade fahre.
Widerwillig wende ich mich ab und teile ihm meine neuste Beobachtung mit, die uns, wie ich meine, vielleicht noch einmal nützlich werden kann.
„Ey, der Wagner sieht voll aus wie Christopher Walken.“
Arne patscht begeistert auf seinen Schenkel. „Weiß ich, Mann. Total cool, oder?
„Ja.“
„Wenn er bloss nicht so'n Stuss labern würde.“
Damit ist das Wichtigste für den Moment besprochen und mein Sendeempfang will sich wieder auf mittelalterliche Möpse umschalten. Aber die Freundin hat sich mitsamt ihrem Informatiker schon wieder zur restlichen Gruppe verzogen. Auch Arne macht Anstalten zurückzugehen und ich folge ihm, während ich Glatze brüllen hören kann.
„Trau dich doch du beschissener Balkan-Bubi.“
Ich glaube, er meint Iwan.
Eine Stunde später sitzen wir um ein improvisiertes Lagerfeuer und trinken warmes Dosenbier von unserer letzten Supermarktplünderung. Ein Rollenspieler, der im alten Leben Geologiestudent war und sich „Logischer Geowulf“ nennt, spielt sogar Gitarre. Eine eigenkomponierte, pseudonordische Melodie, die er stolz Schlange von Midgaard nennt. Anbetracht des angebrochenen Weltuntergangs wirken wir recht entspannt. Nur der Doktor rauft sich frustriert die Haare, weil wir chillen und keine Fortschritte machen, die neue Gesellschaft aufzubauen. Erstaunt blinzele ich zu Iwan, der es sich neben Glatze bequem gemacht hat. Noch erstaunter klappt mir die Kinnlade runter, als Glatze Iwan eine Zigarette anbietet. Und der nimmt sie auch noch an!
„Weißt du eigentlich bin ich gar nicht aus dem Balkan. Sondern aus Polen.“
„Polen, hm? In Polen wollte ich auch immer schon mal einmarschieren“, verspricht Glatze sich deutsch. „Äh, Urlaub machen.“
Wir alle rücken ein Stückchen von ihm ab. Auch Iwan, der sich aber nicht zu fein ist seine von der Hitlerjugend gesponsorte Zigarette weiterzurauchen.
„Ist doch eigentlich gar nicht so schlecht bisher“, sagt plötzlich eine der Rollenspielerinnen. „So'n bisschen wie Camping.“ Das klingt super fröhlich. Sie zieht aber ein Gesicht, als hätte sie gerade an das Ekelhafteste gedacht, das sie je im Mund hatte. Vielleicht die Schlange von Geowulf.
„Wir könnten was singen“, schlägt jemand vor, natürlich auch ein Mädel.
Und dann artet das Ganze ziemlich aus. Die bärtigen Nerds grölen unbekannte Lieder über Odin, Zwerge und Met. Kann sogar sein, dass sie sich die Songs selbst ausgedacht haben. Die Mädels singen nur Nightwish. Iwan wimmert etwas, das als Folklore durchgehen könnte, aber nicht als Gesang. Glatze begnügt sich zunächst damit, den Takt bei den Odin-Liedern mitzuhalten, möchte dann aber ernsthaft das Horst-Wessel-Lied anstimmen. Mehrere zerdrückte Bierdosen gehen als wütendes Bombardement auf ihn nieder. Wir würden ihn wahrscheinlich noch vor Dr. Wagner essen, wenn nicht die Möglichkeit bestünde, sich an seinem braunen Fleisch den Magen zu vergiften.
„Die sind doch alle bekloppt hier“, flüstere ich Arne zu. „Das Ende der Welt kannste echt voll in die Tonne kloppen.“
„Naja, weiß nicht. Ich seh ehrlich gesagt kein Unterschied zu vorher. Wir sitzen rum und trinken Bier.“
Ich muss das sacken lassen und rülpse nachdenklich. „Stimmt.“
Die Rollenspieler krakeelen eine wahnsinnige Version von Aramsamsam.
„Aber die sind trotzdem alle bekloppt“, beharre ich bockig.
„Naja“, hebt Arne an. „Auch nicht bekloppter als die Idioten, mit denen wir früher abgehangen haben. Erinnerst du dich daran, wie Malte sich einen Igel in den Schritt gesetzt hat?“
„Ja, zugegeben - das war ziemlich blöd.“
Ich ordne meine Argumentation neu und wende mich mit einem nächsten Versuch an Arne, aber der vollführt jetzt inbrünstig Gulli-Gulli-Bewegungen. Glatze schmollt, weil ihm das Lied zu arabisch anmutet. Dr. Wagner springt auf die Füße und fuchtelt mit den Armen. Er sieht überhaupt nicht aus wie Christopher Walken, er sieht einfach nur aus wie ein schäbiger Zahnarzt.
„Haltet ein, Freunde. Hört auf zu singen!“
Daraufhin singen alle noch lauter, zumal sein Armgefuchtel weniger einem Protest denn einem Arabi gleicht.
„Wir sollten jetzt wirklich noch mal über eine neue Gesellschaft nachdenken.“
Dr. Wagner wird praktisch niedergesungen. Auch ich denke jetzt was soll's und schmettere mit.
„Bitte, Leute. Euer Gesang könnte mutierte Bären anlocken.“
Schlagartig verstummen alle. Die Gitarre gibt ein abruptes Sproing von sich.
„Ehrlich?“, haucht Iwan ängstlich.
„Ja, theoretisch.“
„Was denn nun? Sind die mutierten Bären jetzt eine Gefahr, oder nicht?“, schreit der Informatiker böse.
„Ja.“ erwidert Dr. Wagner und macht eine kurze Pause. „Das heißt, nein. Vielleicht. Wenn keine mutierten Bären, dann was anderes. Der Punkt ist, wir wissen nicht, was hier draußen lauert. Wem wir schutzlos ausgeliefert sind. Nur weil das Ende schon eingetreten ist, sind wir nicht aus der Gefahrenzone, Freunde. Das Ende ist nah. Gerade jetzt. Das Ende ist immer nah! Aus diesem Grund brauchen wir eine neue ...“.
Dr. Wagner sackt ohnmächtig zusammen wie ein Sack nasser Kartoffeln, als die Blutaxt Nimrod auf seinen Kopf klatscht. Wir haben die Waffe unterschätzt. Eines der Mädels lacht schrill, die männlichen Rollenspieler murmeln anerkennend und geben Hochrufe auf die Blutaxt Nimrod. Dann klingen wieder ihre Lieder lauthals durch den Wald.
„Außerdem sah er gar nicht wie Christopher Walken aus“, sagt Arne befriedigt. „Sonst hätte es keiner gewagt, dem eine überbraten.“
„Du hast recht“, sage ich zu Arne und lächele. „Kein Unterschied zu vorher.“ Zufrieden greife ich nach einer weiteren Dose Bier.
Rückblickend hätten wir auf Dr. Wagner hören sollen, jetzt da die mutierten Wiesel die Hälfte unser potentiellen neuen Gesellschaft und ihren größten Befürworter gefressen haben. „Seht ihr keine mutierten Bä-“, waren seine letzten Worte. Glatze haben sie als ersten erwischt, das ist aber auch die einzig positive Wendung der Ereignisse. Ein Wiesel hat sich mit seiner Nase direkt durch seinen Hals gebohrt. Arne sieht gar nicht gut aus und die Blutaxt Nimrod haben wir auch verloren. Ich kann das Getrappel von Pfoten im Unterholz hören. Die Wiesel sammeln sich zu einem neuen Angriff. Fiese, zähe kleine Biester. Hätten wir den renommierten Weltuntergangsexperten nur ernster genommen, selbst wenn er nur ein verfluchter Zahnarzt war.
So haben wir einfach immer weiter gesungen. Wir haben Dosenbier getrunken und weiter gesungen bis zum nächsten Ende.