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Naara
Plötzlich war alles ganz still. Es fing wieder an zu schneien. Friedlich. Ruhig.
Ich stand am Rand des Sees. Dieser, bedeckt mit einer dicken, milchigen Eisschicht, begann nun unter einer weichen, weißen Decke zu verschwinden. Zu meiner Rechten lag der Hang, Spuren waren im Schnee, große Spuren.
Ich spürte mein Herz schlagen, mein Hals pochte. Doch mein Atem begann sich schon wieder zu beruhigen. Ich stieß hellblaue Wolken in die Nacht. Mir war heiß.
Der riesige Mond kam hinter einer dunklen Wolke zum Vorschein und sein Licht erhellte die Umgebung, brachte Einsicht unter die junge Eiche.
Dort lag sie, die offenen eisblauen Augen starr zum Himmel gerichtet, den Mund leicht geöffnet und ein sanftes Lächeln auf den Lippen. Ihr Haar war an einigen Stellen zerzaust. Eine feuchte, goldene Haarsträhne klebte als geschwungene Linie von der Stirn über die Augenbraue bis zur Nase. Der Schnee, der ihr ins Gesicht fiel, schmolz nicht mehr, stattdessen lief ein dunkelroter Streifen von ihrem Mund über ihre Wange und einige rote Tropfen fielen auf den weißen Grund.
Eine Böe kam auf, ergriff den Saum ihres Gewandes und wirbelte es umher. Für einen kurzen Moment war es, als würde sie sich bewegen, wie zu Musik so leicht. Wie die Schneeflocken, die mit dem Wind gingen. Vollkommen starr stand ich da, konnte nicht wegsehen, konnte nicht wegrennen. Bis der Wind abflaute und sich alles wieder beruhigte.
Ich schloss ihre Augen, ich konnte ihren Blick nicht länger ertragen, diesen unschuldigen Blick, diese feuchten Augen voller Liebe und Ehrlichkeit! Keine Gestalt dergleichen war mir je begegnet, kein Antlitz so rein, niemand so zart und dennoch so mächtig.
Mein Stahl ruhte neben mir im Schnee, heiß vom Kampfe hinterließ er eine dunkelrote Stelle als ich ihn wieder aufgriff. Ich hatte mein Schwert geliebt, gepflegt und geschliffen, so dass es mir treu zur Seite stand, immer und immer wieder. Nun war es stumpf, weich und stumpf. Es war nutzlos geworden.
Als würde sie schlafen...
Die riesigen Schwingen schlugen ein letztes Mal, einige Federn lösten sich und flogen davon. Morgen schon vielleicht würde sie ein Kind finden und für die einer großen, weißen Taube halten, sie aufheben und mitnehmen und sie all seinen Freunden zeigen.
Eine Sternschnuppe erleuchtete für einen kurzen Moment ein Stück des Nachthimmels. Nun war es vollbracht! Ich hatte einen Engel getötet.
(alle Rechte liegen bei mir)