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Na, was schleppst du so mit dir rum? Eine Geschichte zum Innehalten und Aufstehen.

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Na, was schleppst du so mit dir rum? Eine Geschichte zum Innehalten und Aufstehen.

Achtung: Text ist momentan geschlossen, solange bitte keine Kommentare beginnen, die werden vom System nicht angenommen. (Anmerkung von bernadette)

Meine Schuhe knirschen auf dem noch fest gefrorenen Boden. Bei jedem Schritt höre ich die feinen Eiskristalle, die mit einer unglaublichen Perfektion jeden einzelnen Grashalm und jeden auch noch so kleinen Stein bedecken, brechen. Doch es ist kein unangenehmes Geräusch. Ganz im Gegenteil. Es ist das einzige Geräusch, das ich gerade wahrnehme und das in meinen Ohren wie eine Melodie klingt. Die Melodie der Natur.

Es ist noch früh am Morgen. Noch nicht einmal die Hundebesitzer sind mit ihren flauschigen Vierbeinern unterwegs. Ich bin ganz alleine. Und ich genieße die Stille, die nur durch das regelmäßige Knistern meiner eigenen Schritte durchbrochen wird.
Ich lasse meinen Blick über die weiten Felder schweifen, die sich vor meinen Augen eröffnen je höher ich den Hügel hinaufsteige. Sanfte Nebelschwaden hängen über der Landschaft, als wollten sie die Verbindung zwischen Himmel und Erde noch so lange aufrechterhalten wie möglich. Doch ich weiß, dass sie es nicht können. Bald wird die Sonne zum Vorschein kommen, den Tau und den restlichen Schnee zum Schmelzen bringen und den Nebel verjagen, der düster und heimlich als letzter Wächter der Nacht verschwinden wird. Doch ich bin gerade nicht in der Stimmung, um an die Sonne zu denken. Die Sonne, die für unendliches Glück und Licht steht. Mir ist der Nebel gerade lieber. Er umhüllt mich, schließt mich ein und ich kann mich darin verstecken. Verstecken vor dem Alltag, der erbarmungslos immer weiter geht. Verstecken vor den glücklichen Gesichtern anderer Menschen, denen ich dieses Glück nicht missgönne, aber von dem ich mir selbst gerne eine Scheibe abschneiden würde. Verstecken vor den gut gemeinten Ratschlägen und dem alltäglichen Lügengespräch „Es geht mir gut.“.

Ich ziehe mir meine Kapuze noch tiefer ins Gesicht, als ich das Plateau erreiche und mich ein scharfer Windstoß erwischt als würde er mich ermahnen wollen. Mich zurechtweisen wollen. Mir sagen wollen, stell dich nicht so an. Das Leben geht weiter. Die Erde dreht sich immer weiter. Ob mit dir oder ohne dich. Und du alleine hast die Wahl, ob du dieses Leben so weiterleben willst oder nicht. Ob du in den Zug des Alltags wieder einsteigst oder ihn vorbeifahren lässt.
Ich seufze. Denn ich muss zugeben, der Wind hat recht. Ich sollte mich zusammenreißen. Ich sollte mich nicht dem Gift in meinem Herzen hingeben, das mir momentan das Leben so schwer macht. Und doch frage ich mich, ist es nicht normal, dass man diese Auszeiten immer mal wieder braucht? Dass man nicht immer so tun kann als wäre alles in Ordnung. Dass man sich auch mal gehen lässt, vielleicht auch mal ein bisschen das tödliche Selbstmitleid zulässt? Muss es denn immer sofort weitergehen? Ist es nicht besser auch mal zu weinen? Solange ich die Ehrlichkeit zu mir selbst noch aufbringen kann, sollte ich dies nutzen. Verdrängungsmechanismen werde ich mir noch früh genug selbst beibringen müssen.
Denn ich bin noch jung und das Leben hat hoffentlich noch viel zu bieten. Viel an Liebe und Glück, aber auch an Leid und Trauer. Doch damit muss jeder fertig werden. Es gehört zum Leben dazu. Manche Menschen können es besser, manche schlechter. Insgeheim weiß ich, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat. Jeder hat Probleme, die man einem von außen nicht ansieht.

Denn den Schein zu bewahren ist heutzutage wichtiger denn je. Doch was haben wir uns mit diesem Schein angetan? Wir haben die Ehrlichkeit gegenüber einander verloren. Keiner will sich mehr eingestehen, dass es einem schlecht geht. Vielleicht aus Scheu davor, weil man weiß, andere kommen damit besser zurecht. Vielleicht können diese anderen aber auch nur den Schein besser wahren. Vielleicht stecken sie tatsächlich manches besser weg. Dafür haben sie allerdings ein anderes Päckchen, das man selbst nicht auf dem Rücken trägt. Wir wissen es nicht und doch sind wir so begierig auf das Leben anderer. Doch wir wollen nicht nur sehen, wie gut und toll andere sind. Wir wollen andere auch fallen sehen. Wir wollen sehen, dass wir selbst besser sind. Dies sind keine lobenswerten Gedankengänge, die sich in jedermanns Unterbewusstsein abspielen. Und doch brauchen wir es für uns selbst. Für unsere Selbstbestätigung, unser Selbstbewusstsein.
Und es funktioniert. Es funktioniert so gut, dass sich ganze Industrien darauf aufbauen lassen. Die klassische Prominenten- Fabrik.
Eine weitere Möglichkeit sein Selbstbewusstsein aufzubauen ist nicht, sich die Fehler und das Leid der anderen anzuschauen, sondern selbst an sich zu arbeiten. Daran zu arbeiten, dass man selbst zu jemandem wird, zu dem andere empor sehen. Hört sich gut an nicht wahr? Schwierig, aber gut. Dieser Meinung verfiel plötzlich der gesamte Erdball. Was daraus entstand, kennen wir alle: Das Instagram- Prinzip.

Ich habe keinen Instagram- Account. Und auch keinen Youtube-Channel. Ich habe ein eher schlecht als recht gepflegtes Facebook- Profil, das ich schon mehr als einmal in die schönen Abgründe des Nimmerwiedersehens schicken wollte.
Nun da ich hier alleine auf dem noch immer vereisten Boden inmitten zart funkelnder Felder stehe, die allmählich unter dem Nebel hervorschlüpfen wie aus einer Bettdecke, da frage ich mich, ob ich mir nicht auch einen Account zulegen sollte. Ob es mir helfen würde, mein Selbstbewusstsein durch die Bestätigung anderer mittels „Likes“ aufzubauen. Oder ob ich mich in mein Zimmer vor eine Kamera setzen und beginnen sollte, Videoaufnahmen von mir zu machen. Etwas zu erzählen über Gott und die Welt, über Lippenstifte, Bücher, Musik oder ein neues Computerspiel. Doch ist das wirklich die Art Bestätigung, die ich für mich suche? Ist es das, was mich aufbauen könnte und mir den Glauben zurückgeben könnte, dass ich ein wertvoller Mensch bin? Die Antwort ist ganz klar: Nein.
Und doch beruht das Instagram- Prinzip auf der einfachen Grundlage der Bewunderung. Jeder will bewundert werden für das, was er getan hat, geschafft hat oder gerate tut.
Doch die wahre Bewunderung ist vor langer Zeit Hand in Hand mit der Ehrlichkeit von dannen gezogen.

Wir haben verlernt ehrlich einander gegenüberzutreten und damit auch andere in gewissen Dingen mehr wertzuschätzen. Denn wir wissen nicht, welche Kraft jeder einzelne aufbringen muss, um etwas zu leisten. Für die einen ist es leichter, für die anderen schwerer das gleiche Lächeln aufzusetzen, das jeden Tag verlangt wird.
Aber ich frage mich, ob es nicht noch eine andere Möglichkeit gibt, das Gift des Schmerzes selbst aus dem eigenen Herzen zu verjagen. Wäre es nicht toll, wenn es eine Wunderpille gäbe? Ein kleines Tablettchen, das man einmalig schlucken muss und das alle Sorgen mit sich nimmt?

Ich schmunzele. Ich stehe ein Jahr vor meiner Abschlussprüfung des Medizinstudiums. Und ich habe in den letzten fünf Jahren einen guten Eindruck davon bekommen, was die Medizin heute leisten kann. Es ist nicht wenig. Aber für vieles ist es auch noch nicht genug. Doch jeden, dem ich jetzt gerade Hoffnungen mit dieser Wunderpille gemacht habe, muss ich leider enttäuschen. Es wird nie solch eine Tablette geben können. Ein vor seelischen Schmerzen brennendes Herz wird man nie in seiner Ursache durch ein Medikament bekämpfen können. Denn die Medizin hat Grenzen. Und die größte Grenze ist die Psyche und der Verstand des Menschen.
Dies ist eigentlich nichts Schlechtes. Denn es gibt so viele Menschen, die wirklich Großartiges durch ihren Verstand geschaffen haben. Und doch besitzt er auch die Fähigkeit, uns bei wirklich Großartigem im Wege zu stehen.

Ich bin an meiner Lieblingsbank angelangt. Ein erster Sonnenstrahl hat sich durch die Wolken gekämpft und fällt genau auf den Rand der morschen, am Waldrand stehenden Sitzgelegenheit. Ich setze mich, schließe die Augen und sauge den Geruch des frischen Waldes hinter mir ein.

Es gibt so viele Fragen und Antworten. Doch nicht auf jede Frage können wir eine eindeutige Antwort geben. Doch wir Menschen wollen alle Antworten und das am besten jetzt sofort. Wir wollen erforschen, wissen, verstehen. Doch wie viel Wissen tut uns wirklich gut? Macht es uns nicht alle im Inneren langsam aber sich kaputt zu viel zu wissen? Sei es die grenzenlose Fächervielfalt in unserem Beruf, seien es die endlosen Promi-Schlagzeilen, die Kriegsberichte oder die Politik-Satiren. Es wird in unserer Welt verlangt, dass wir so viel wie möglich an einem Tag aufnehmen, dass wir immer auf dem neuesten Stand sind und perfekt informiert. Doch bleibt bei alldem Informationsfluss noch die Zeit etwas zu hinterfragen? Die Zeit für unsere Gefühle, Nachrichten und Stimmungen zu verarbeiten? Die Zeit, die wir brauchen um Kraft zu schöpfen, wenn uns etwas verletzt hat? Die Zeit, um sich bewusst zu werden, wie gut es uns hier wirklich geht? Die Antwort auf diese Frage ist eindeutig: Nein. Doch ist dies nicht unter anderem genau das, was uns dazu treibt nur noch mit „es geht mir gut“ zu antworten? Andere nicht mehr an sich heranzulassen, weil man selbst nicht damit fertig wird, wieso es einem gerade nicht gut geht? Sollte nicht allerspätestens das die Alarmglocke in uns auslösen, die uns dazu bringt, uns Gedanken zu machen? Gedanken über uns selbst, unsere Einstellung, unser Selbstwertgefühl. Gedanken zuzulassen, die uns auch mal traurig machen, aber dafür freier, statt sich immer nur der Schnelllebigkeit der Welt hinzugeben? Immer nur dem Gefühl des Mithalten-Wollens nachzuhasten?
Früher mussten die Menschen warten. Sie mussten auf Briefe und Antworten Wochen- oder sogar Monatelang warten. Eine Reise war früher eine Lebensaufgabe. Doch heute steht dies auf dem Pflichtprogramm eines jeden. Wehe es folgt nicht schnell genug eine Antwort. Wehe man hat noch nicht die ganze Welt bereist und ist dementsprechend nicht weltoffen genug. Es wird verlangt, schneller wieder aufzustehen. Uns der Schnelllebigkeit unserer Welt zu stellen. Wer nicht mithalten kann, bleibt auf der Strecke.

Doch ist das die Absicht des Lebens? Ist es uns Menschen möglich immer nur einzustecken ohne zusammenzubrechen? Probleme, für die wir uns keine Zeit nehmen und die uns doch stetig wie ein Virus unser Immunsystem tief im Inneren belasten. Doch irgendwann ist es zu spät. Irgendwann ist die Viruslast so groß, dass wir sie nicht mehr bekämpfen können. Dann haben wir verloren. Verloren, weil wir nicht rechtzeitig in uns hineingehört haben. Vielleicht haben wir versucht die Symptome zu bekämpfen. „Likes“ und Bewunderung von außen haben die Schmerzen gemildert. Sie haben das Gift in unserem Herzen von schwarz nach grau verfärbt, aber nie vertrieben.

Hinter mir erwacht der Wald allmählich aus seinem Schlaf. Ich höre einzelne Äste knarzen. Ich spüre, wie die Sonne an Kraft gewinnt und sehe, wie sich der Nebel allmählich gänzlich von den Feldern gelöst hat. Ich öffne die Augen und drehe mich um. Sehe die stummen, Jahrzehnte alten Bäume, die meinen Gedanken gelauscht haben. Und ich wüsste zu gerne, was sie davon halten. Von diesen kleinen, nichtigen Problemen von uns Menschen. Was würde die Natur uns sagen, wenn sie mit uns direkt sprechen könnte? Würde sie uns das Geheimnis des Lebens preisgeben? Oder sind wir Menschen noch nicht so weit, es zu erfahren? Doch werden wir jemals so weit sein? Werden wir jemals den Sinn des Lebens begreifen, den wir alle wissen wollen, und den diese stillen Naturgiganten in sich tragen? Werden wir jemals eine einzige richtige Antwort auf diese Fragen aller Fragen haben? Ich glaube es nicht. Und ich glaube es ist gut so.
Für mich ist der Sinn des Lebens, seine innere Zufriedenheit zu finden.
Momentan bin ich weit davon entfernt.
Ich habe einen Menschen verloren, den ich geglaubt habe, geliebt zu haben. Ich habe ihn unter anderem auch aus eigenem Verschulden verloren. Mein Verstand weiß, dass dies kein Grund ist, die Grundsätze des Lebens in Frage zu stellen. Er weiß auch, dass es so viel Schlimmeres gibt auf unserer Welt und er sagt mir, dass tausende Beziehungen jeden Tag zerbrechen und dass sich auch nur daraus wieder etwas Neues entwickeln kann. Doch dieses Wissen hilft mir gerade nicht. Meine Gefühle betäuben noch immer all meine Sinne. Ich fühle mich einsam, zurückgelassen, wertlos.
Und trotzdem will ich mein Ziel nicht aus den Augen verlieren. Das Ziel der eigenen, inneren Zufriedenheit.
Ich blicke auf den Boden. Ein frisches, grünes Grasbüschel hat sich unter dem vom Winter mitgenommenem Holz hervorgestohlen. Glücklich und stolz ragt es zwischen den noch zart weiß bedeckten Blättern und Ästen hervor. Welche Kraft haben diese Grashalme gebraucht, um heraus zu wachsen? Welche Stärke war nötig, um so stolz den Frühling anzukündigen wie sie es gerade tun?
Ich weiß, dass dies alles vergänglich ist. Dass die Bewunderung und der Stolz nicht so lange anhalten wie es dieses kleine Grasbüschel verdient hätte. Doch ich sehe, dass es weiter geht. Dass die Natur genau wie wir Menschen jeden Tag kämpfen muss. Dass es nichts bringt, den Kopf hängen zu lassen. Es vergeht alles zu schnell. Die Gedanken müssen auch mal Achterbahn fahren dürfen und sie dürfen sich auch vom Herzen leiten lassen, aber dennoch dürfen die Zweifel nicht siegen. Das Leben hat noch so viel zu bieten, was wir nicht erwarten. Der zu lange Blick zurück lässt uns die Schönheit genau vor uns oft übersehen.

Ich habe beschlossen mir keinen Instagram-Account anzulegen und auch kein Youtube-Channel. Ich weiß, dass es nichts gibt, um das brennende Herz zu beruhigen. Ich warte darauf, dass die Zeit sich mir annimmt. Denn sie ist die einzige, die die tiefen Wunden reinigen und nähen kann. Doch sie kann sie nicht heilen. Nichts und niemand kann das.
Das eigene Bewusstsein kann das Gift aus dem Herzen vertreiben, damit die Zeit es schlussendlich so gut wie möglich verschließen kann. Das eigene Bewusstsein darüber, dass wir uns nicht zu wichtig nehmen sollten. Dass das Leben nicht einfach ist und jeder zu kämpfen hat. Dieses Bewusstsein, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat, aber dass es nicht auf die Schwere des Päckchens ankommt, sondern alleine auf die Art und Weise wie man es trägt.
Ich stehe auf, streife meine Kapuze vom Kopf und fange die ersten Sonnenstrahlen des Tages auf.

 

Bis zur Klärung im Team geschlossen, der Autor erhält danach Meldung. Bitte solange abwarten :)

 
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