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Na also, geht doch!
Vincent ist ein schmächtiger Junge, vielleicht sechs Jahre alt, mit raspelkurzem blondem Haar und dem gleichen versoffenen Blick, den auch seine Mutter im Gesicht trägt: kleine, eng stehende Augen, zu einem Drittel durch das obere Lid verdeckt, unsteter Blick nach oben. Vincent ist kein hübsches Kind. Doch er hat es geschafft, im Fast-Food-Restaurant im Bahnhof eine Portion Pommes mit Ketchup zu essen, ohne sich dabei das Gesicht zu verschmieren oder gar die Kleidung zu verkleckern. Das ist groß für so einen kleinen Mann und zeugt entweder von einem natürlichen Talent, kleckerfrei zu speisen, oder von ausdauerndem Training in der Vergangenheit, was das Essen beim Schachtelwirt betrifft.
Vincents Mutter, blass, strohblonder Zopf, Anfang 30, versoffene Augen, sitzt mit ihm am viel zu kleinen Plastiktisch, der zwei Essenstabletts, eine große Handtasche, das Halstuch der Mutter, sowie die aufgetürmte Winterausrüstung des Jungen - Schal, Handschuhe, Mütze - trägt. Angesichts der kleinen Essfläche ist die kleckerfreie Leistung Vincents um so höher zu bewerten. Dennoch ist seine Mutter nicht zufrieden mit Vincent. Er hat seinen Cheeseburger nicht aufgegessen und sein Becher mit Cola ist auch noch mehr als halbvoll. "Vincent", schimpft sie, "es is imma das gleiche mit dir!" Vincent schaut schuldbewusst versoffen von unten nach oben, nimmt den Restburger und schiebt ihn sich langsam komplett in den Mund.
Mit seinen vollgestopften Backen erinnert er nun an eine Kröte, wobei seine drittelgeschlossenen Augen starr auf die Mutter gerichtet bleiben, während er kaut. Sie schaut ihn entzückt an. Fingert das Handy aus der Handtasche, tippt und wischt über das Display und hält das Handy mit aktivierter Kamera und spitzen Fingern leicht schräg etwa 40 Zentimeter vor ihre kaum vorhandene Brust. Ihr versoffener Zweidrittelblick, die Handykamera und Vincents aufgeblähtes Krötengesicht bilden eine Achse. "Vincent - kannst du nicht einmal normal gucken!", mosert sie. Der Junge verzieht keine Miene und stoppt sein Kauen. "Na also. Geht doch", freut sich die Mutter und tippt mehrmals auf den Auslöser.
Vincent mit den vollen Backen nimmt das Kauen wieder auf. Schluckt, kaut. Schluckt. Kaut. Schluckt. Schluckt erneut. Lässt dabei die versoffenen Augen nicht von der Mutter. Greift nach dem Becher Cola und saugt so lange an dessen Strohhalm, bis man die nackten Eiswürfel klackern hört. Sein Blick bleibt weiter auf sie gerichtet. Er setzt den leeren Becher ab, steht auf und geht langsam zu der Abfalltonne, die sich wenige Meter weiter links vom Tisch befindet. Dann holt er tief Luft, beugt sich nach vorne und, während seine Mutter versonnen lächelnd die Handy-Bilder betrachtet, die sie gerade von ihrer Kröte geknipst hat, erbricht sich Vincent in einem röhrenden, braun-bröckeligen Schwall neben den Müllkübel des Schnellrestaurants.