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Närrisches Treiben
„Und ihr wollt allein auf diesen Kostümball gehen, ohne Begleitung? Mit sechzehn? Kommt überhaupt nicht in Frage, Astrid.“
Wenn Asters Mutter streng wird, benutzt sie den Namen Astrid. Den hat sie aus ihrer ostpreußischen Heimat mitgebracht. Hier, im Südwesten Deutschlands, klingt er alles andere als lieblich. „Aaschtrittle“ ist die hier übliche Version. Aster erinnert sich mit Schaudern, wie die Kinder an ihrem ersten Schultag auf dem Gymnasium kicherten und sich Zettelchen zuschoben.
Den Namen Aster hat Michael erfunden, Lauras ältester Bruder. Er studiert Germanistik und arbeitet bereits an seiner Doktorarbeit.
„Aster, Sternblume, na, das passt doch hervorragend. Du bist ja wohl ein Sternchen am Teenagerhimmel.“
Alle finden den Namen prima, nur Asters Eltern können sich nicht so recht damit anfreunden.
Aster reicht ihrer Mutter ein weiteres Leintuch zum Strecken. Bei dieser Arbeit lässt sich gut miteinander reden.
„Aber Mama, es ist im Kurhaus, am späten Nachmittag. Da sind ja sogar Kinder dabei, jedenfalls hat Laura das erzählt. Und sie muss es wissen.“
„Was Laura sagt, muss ja nicht unbedingt stimmen. Deine Freundin neigt schon mal zum Flunkern. Wenn ich daran denke, wie sie dich ...“
„Aber Mama, lass doch die alten Geschichten. Sie hat sich ja entschuldigt. Und überhaupt haben ihre Eltern gar nichts dagegen. Im Gegenteil. Sie haben mich sogar extra dazu eingeladen. Und ich brauche gar kein Geld. Laura sagt, sie muss noch ordentlich trainieren, wenn sie am Abschlussball den ersten Preis gewinnen will.“
Es ist nicht gerade geschickt von ihr, Lauras Tanzstunden zu erwähnen. Aster bereut es sofort. Ihre Eltern können sich nun mal keinen Tanzkurs für sie leisten. Der Vater schuftet auf dem Bau und die Mutter nimmt Bügelwäsche an, um den schmalen Geldbeutel aufzupolstern. Zum Glück ist das Schulgeld abgeschafft worden, sonst hätte Aster niemals aufs Gymnasium gedurft. Da hätte auch die flammendste Fürsprache ihres früheren Klassenlehrers nichts genutzt.
Aster nimmt ein weiteres Leintuch aus dem Wäschekorb. Sie hat nicht so oft Gelegenheit, im Haushalt zu helfen. Die Mutter meint, das Lernen gehe vor.
„Spätestens um zehn kommt Michael und bringt uns nach Hause. Laura musste hoch und heilig versprechen, dass sie keinen Aufstand macht. Bitte, Mama!“
Ihre Mutter antwortet nicht gleich. Sicher grübelt sie wieder darüber nach, ob es richtig war, die Tochter aufs Gymnasium zu schicken. Ein Handwerkerkind, dazu noch ein Mädchen. Und die Ansprüche werden immer größer. Bücher, Schulausflüge, Tanzstunden, jedes Jahr mehr. Andererseits ...
„Michael holt euch ab? Ist der über einundzwanzig?"
"Aber Mama, das weißt du doch!"
"Na ja, meinetwegen. Wenn das so ist …, aber frag erst nochmal deinen Vater. Er soll entscheiden.“
Aster atmet auf. Ihren Vater herumzukriegen, ist die leichteste Übung. In der Regel übernimmt er Mamas Argumentation und gibt sie als seine eigene aus. Aster trifft ihn im Keller, wo er am Werkeln ist. An ihrem Fachwerkhäuschen in der Altstadt gibt es ständig etwas zu reparieren. Sie muss brüllen, um sich gegen den Lärm der Kreissäge zu behaupten.
„Soso, ins Kurhaus“, sagt er und stellt die Säge ab. Er bückt sich nach einem Handbesen und beginnt, ohne aufzuschauen, die Abfälle zusammenzukehren. „Die Leute können dich wohl gut leiden, wenn sie dich einladen.“
„Laura ist meine Freundin und wir lernen zusammen. Es hilft uns beiden.“ Pause. Aster betrachtet seine schütteren Haare und den gebeugten Rücken. Ein Leben, das nur aus Arbeit besteht. Und aus Entbehrungen, ihretwegen. Der Vater schüttet den Kehricht in einen Eimer, richtet sich auf, legt die linke Hand auf seine kaputte Hüfte und blickt Aster forschend an.
„Du gehst gern zu denen?“
Es ist mehr eine Feststellung als eine Frage. Aster nickt.
„Ja, dann kann ich wohl nichts dagegen haben. Und komm pünktlich zurück. Du weißt, Mutter kann nicht schlafen, bevor du in deinem Bett liegst. Aber pass auf dich auf.“
Aster weiß, was er damit meint. Sie freut sich auf die Abende bei Laura zuhause. Auf dem Esstisch stehen Blumen, und jeder hat seine eigene Stoffserviette, auch Aster. Nach den Matheaufgaben und den Vorbereitungen für den Bio-Test wird sie mit Laura die Tanzschritte üben. Vielleicht kommt sogar Michael dazu.
„Danke, Paps.“ Sie springt die Kellertreppe hinauf, nimmt nur jede zweite Stufe. Auf jeden Fall muss sie noch die Haare waschen.
Der Kostümball am Rosenmontag hat im Kurstädtchen Tradition. Die Eintrittskarten sind nicht gerade billig. 'Carneval in Venedig' ist dieses Jahr als Motto ausgegeben.
Laura schiebt Bücher, Hefte und Schreibmäppchen zusammen und fegt sie mit dem rechten Unterarm in ihre geräumige Umhängetasche.
„Mir reicht's. Hoffen wir, dass ich nicht an die Tafel muss. Ich kapier's einfach nicht. Ich wollte, ich wär schon auf einer Highschool, Sport gilt dort wenigstens was.“
„Wieso, heute lief es doch gar nicht schlecht. Du musst dich eben konzentrieren. Und denk dran, wenn das mit dem Austausch nächstes Jahr klappen soll, dann brauchst du anständige Noten.“
„Ja, ja, das weiß ich doch, aber ich hab ja dich, da wird es schon klappen.“
Laura macht ein paar Dehnungsübungen und lässt die schmalen Hüften kreisen. Aster weiß, dass langes Stillsitzen nicht Lauras Sache ist. Am liebsten klemmt sie ihre Füße auf dem Stuhl unter den Po und stützt sich mit den Ellenbogen auf die Tischplatte, um zu lesen oder zu schreiben. Oder sie setzt sich auf einen großen Medizinball vor ihren Schreibtisch und bleibt dabei ständig in Bewegung.
„Los, wir üben. Also, viele Jungs wird es da nicht geben. Ich bringe Benny und Dieter mit. Beide tanzen spitze, ich halte sie für die besten im Kurs. Und Micha kommt später auch mit seiner Freundin vorbei.“
Das versetzt Aster einen Stich.
„Michael hat eine Freundin? Kennst du sie?“
„Ha, sie ist eine blöde Gans, meinen Bruder himmelt sie weiß Gott wie an, aber mich behandelt sie, als wäre ich noch ein Baby. Keine Ahnung, was Micha an der findet.“
„Wie heißt sie denn?“
„Hab ich vergessen.“
„Ist sie hübsch? Kennt er sie vom Studium her?“
„Ja, wahrscheinlich, aber frag ihn lieber selber. Ich hab keine Lust, darüber zu reden.“ Kurze Pause. „Meiner Mutter bringt sie immer Blumen mit.“
Da muss etwas vorgefallen sein, wenn Laura so kratzbürstig reagiert. Michael, der Star der Familie, ist ihr Ein und Alles. Aster mag ihn auch, sehr sogar, obwohl er fast zehn Jahre älter ist. Oder gerade deswegen.
Ihm zuliebe hat sie begonnen, Schiller und Goethe zu lesen, sogar Gedichte, nachdem sie von seiner Doktorarbeit über Brentano gehört hat. Laura hat sich an die Stirn getippt, als Aster ihr davon erzählen wollte.
„Mann, Aster, es reicht mir, wenn Mama ihren literarischen Salon pflegt. Diese Familie ist so was von gestern.“
Das findet Aster überhaupt nicht. Sie fühlt sich geschmeichelt, wenn sie zu den Abenden eingeladen wird. Lauras Eltern fördern die Freundschaft mit der Klassenbesten, seit ihre Tochter eine Ehrenrunde drehen musste. Lauras Vater ist der Kurdirektor. Da versteht sich von selbst, dass viele interessante Menschen bei ihnen ein- und ausgehen.
An solchen Abenden spielt Michael den Empfangschef. "Spät kommst du, doch du kommst", deklamiert er, wenn Aster von der schnellen Radfahrt abgehetzt klingelt. Oder auch: "Je später der Abend, desto schöner die Gäste. Das ist Aster, nicht zu trennen von meiner wilden Schwester Laura“, und schiebt sie unerbittlich vor das amüsierte Publikum. Beobachten und zuhören, glaubt sie, ist ihre Rolle. Aber ab und zu wagt sie es doch, die eine oder andere Bemerkung beizusteuern. Wenn Michael ihr dann zuzwinkert, ist der Abend für sie ein Erfolg.
Nach zwei oder drei Stunden mit Lesungen, Scharaden oder auch Kartenspiel, je nachdem, wer gekommen ist, bringt er Aster zur Tür. Das lässt er sich nicht nehmen.
Einmal nimmt Lauras Mutter Aster in den Arm und sagt:
„Ich bin froh, dass ihr Mädchen euch so gut versteht. Du weißt, dass du uns immer willkommen bist.“
„Ja, das kann ich bestätigen, Asterchen. Lass dich ja nicht einschüchtern von dem Volk da drinnen. Aber, aber, was ist denn?
Rosenblütchen, das gute Kind,
Ist geworden auf einmal blind,
Denkt, die Mutter sei Hyazinth ..."
Aster flieht hochrot und mit klopfendem Herzen die Treppe hinunter durch den Vorgarten, ihre blinden Augen sehen in den Beeten links und rechts nur noch Rosen und Hyazinthen, Rosen und Hyazinthen ...
Bei jedem 'Gute Nacht' hofft sie, Michael werde sie ein Stück begleiten. Aber das passiert nie. Na ja, es gibt dafür auch keinen Grund. Bis in die Altstadt über dem Fluss hat sie auf dem Fahrrad genug Zeit zum Abkühlen.
„Wir brauchen ein Kostüm, eins, mit dem wir auffallen“, sagt Laura und stöbert in den Schränken ihrer Patentante Erna. Sie hat auch eine Platte mit Tanzmusik dabei.
„Tantchen, du kennst dich doch mit Bühnenstücken aus. Hast du nicht mal das Gretchen gespielt?“
„Das Gretchen, das Käthchen, die Luise Millerin, Nora ... Hab ich eine vergessen? Wir können ja mal meine Fotoalben durchforsten. Stellt euch ans Fenster, wo es hell ist.“ Mit ihren kurzsichtigen Augen prüft sie die beiden Mädchen von allen Seiten.
„Laura, du mit deinen langen Beinen solltest ein Kostüm für eine Hosenrolle haben. Ja, bestimmt finde ich noch eine Pluderhose und ein Mieder. Schau mal im Album von 1928, da muss es ein Bild von mir geben. Und du, Schätzchen, wirst ein Mädchen aus dem Biedermeier. Spitzen am Ausschnitt und die Locken hochgesteckt. Ha, am liebsten würde ich mit euch auf den Ball gehen. Wenn nur die Arthrose nicht wäre.“
„Untersteh dich, Tantchen, wir brauchen keine Anstandsdame. Es reicht, dass Micha den Aufpasser spielt.“
„Ist ja nur Spaß, Kindchen, ich versteh dich doch, war ja schließlich auch mal jung. Also dann, lasst mich nur machen. Wo hab ich denn meine Brille?“
„Wir üben noch ein bisschen hier. Du hast so schön viel Platz zum Tanzen. Aster, du brauchst noch Feinschliff beim Cha-Cha-Cha. Komm her, ich führe.“
Michael hat den Borgward seines Vater ausgeliehen und hält vor der Auffahrt zum Kurhaus. Schon hier kann man die an- und abschwellende Tanzmusik hören, auch Gelächter und die sonore Stimme des Maitre de plaisir. Die Dämmerung hat bereits eingesetzt. Soeben sind die Straßenlaternen angegangen und konkurrieren mit der bleichen Mondsichel. Zwei Gestalten in schwarzen Umhängen und silbernen Halbmasken huschen vorbei. Es reicht aber für einen interessierten Blick auf die Freundinnen.
„Bis später dann, ihr seht klasse aus. Aster, dreh dich mal. Fast wie Werthers Lotte. Oder ist das Biedermeier? Du solltest immer solche Locken tragen. Sogar du gefällst mir heute, Schwesterherz, wirklich, die langen Beine und das kurze Pluderhöschen! Nur in das Mieder musst du noch hineinwachsen. Da hat Erna aber wieder mal in Erinnerungen geschwelgt. Macht bloß keine Dummheiten. Bonne chance.“
Er hat es eilig. Wahrscheinlich wartet seine Freundin auf ihn.
Der Eingang zum Kurhaus ist hell erleuchtet. Bunte Lampions und reiche Kaskaden von Papiergirlanden schmücken den Rahmen des Portals zum Foyer. Eine breite, geschwungene Treppe führt zum Kursaal hinauf. Es herrscht einiges Gedränge. Aster bleibt stehen und schaut sich um. Hier ist sie noch nie gewesen. Sie ist froh, die ersten Schritte auf dem ungewohnten Parkett im Schlepptau ihrer Freundin gehen zu können. Laura packt sie am Ellenbogen und dirigiert sie zur Garderobe.
„Hoffentlich ist wenigstens Benny schon da. Ich hab ihm gesagt, er soll einen Tisch für uns reservieren. Du siehst ja, es ist ganz schön viel los.“
Am Saaleingang werden sie durchgewinkt. Eintrittskarten brauchen sie nicht. Man kennt die Tochter des Direktors.
Benny entpuppt sich als langmähniger Schlacks im Winnetoukostüm. Aster wundert sich. Nicht gerade passend zu Lauras historischem Outfit und schon gar nicht zum Motto des Balls. Aber das scheint ihre Freundin nicht zu stören, jedenfalls sagt sie nichts dazu. Hauptsache, sie haben ihr Tischchen ganz nahe an der Tanzfläche.
„Was ist mit Dieter? Wieder mal zu spät, was? Ach so, das ist Aster, wir gehen in die gleiche Klasse. Aster, hier siehst du den künftigen deutschen Meister in den Standardtänzen. Der Tisch ist okay. Hast du schon was zum Trinken bestellt? Sprudel? Schorle? Gut. Ganz schön heiß hier. Wo bleibt denn Dieter?“
„Ich sag's dir, wenn du mich zu Wort kommen lässt. Dieter hat abgesagt, sie haben unerwarteten Besuch bekommen, aus Köln. Und die möchten die hiesige Fasnet kennenlernen, durch Kneipen ziehen. Da kann er nicht kneifen, sagt er.“
„Verdammt, was machen wir jetzt mit dir, Aster?“
Benny lächelt Aster zu.
„Ich glaube, du findest genügend Tänzer, so wie du aussiehst. Außerdem kann ich ja abwechseln. Vielleicht zur Erholung, wenn Laura mir genügend auf die Füße getreten ist.“
Laura lacht, knufft ihren Tanzpartner in die Seite und schiebt ihn Richtung Tanzfläche. Sie scheint nicht beleidigt. Na klar, sie sind Sportskameraden eben, Kumpel, mehr ist da nicht. Und sie wollen keine Zeit verlieren.
Aster setzt sich. Sie legt ihren bestickten Stoffbeutel auf den freien Stuhl neben sich, dann auf den Tisch, schließlich wieder auf den Stuhl. Genau das hat sie befürchtet. Laura und Benny widmen sich ihrem Training, sie als Mauerblümchen klebt auf dem Stuhl, angewiesen auf völlig fremde Tänzer. Wenigstens bringt der Kellner sofort das Mineralwasser, so dass ihre Hände sich am Glas festklammern können. Aster sucht in ihrem Stoffbeutel. Ein Glück, dass Patin Erna in weiser Voraussicht beiden Mädchen eine Halbmaske mitgegeben hat. Darunter lässt sich Asters Unbehagen halbwegs verbergen.
Nach der ersten Tanzrunde kommt Benny kurz an den Tisch zurück. Er stürzt im Stehen ein Glas Wasser hinunter. Laura steht bei einer Gruppe Harlekine und winkt von weitem.
„Wir haben noch Leute vom Kurs getroffen und wollen für morgen einen Auftritt organisieren. Die übernächste Runde gehört dir, Aster, Laura will sowieso noch mit Bekannten ihrer Eltern reden.“
Das Kurorchester beginnt wieder zu spielen. Donauwalzer. Sofort springen einige ältere Herren auf. Wiener Walzer ist kein Lieblingstanz von Aster. Bei den schnellen Umdrehungen wird ihr leicht schwindlig. Besonders, wenn es erst rechts, dann links herum geht. Sie will erst mal zuschauen und erkennt beruhigt, nicht alle sind beim Walzer begnadete Tänzer.
Sie beobachtet, wie ein weißhaariger Mann mit einem breitrandigen Hut sich durch das Gewühle kämpft. Vor ihrem Tisch bleibt er stehen.
„Mein schönes Fräulein“, sagt er und verbeugte sich kurz, „darf ich wagen, meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?“
Aster würde lachen, wenn sie weniger schockiert wäre. O Gott, ein so alter Mann, wohl ein Goethefan, sie sieht ihre Reclamheftchen auf dem Nachttisch. Ablehnen kommt nicht in Frage. Das wäre ziemlich unhöflich. Und schließlich ist sie ja zum Tanzen gekommen. So steht sie stumm auf und lässt sich auf die Tanzfläche führen.
Der Mann mit dem berühmten Goethehut ist kein ungeübter Tänzer. In korrekter Haltung führt er Aster übers Parkett. Allmählich gewinnt sie Sicherheit und kann sich etwas entspannen.
„Sie tanzen wunderbar, wie eine Feder. Darf ich fragen, wo Ihre Begleiter sind? Eine so junge, hübsche Frau sollte nicht allein am Tisch sitzen.“
„Ich bin mit meinen Geschwistern hier, mit meiner Schwester und meinem großen Bruder.“ Aster weiß nicht, warum sie lügt.
„Nun ja, heutzutage sind die Sitten etwas anders. Erzählen Sie doch ein wenig von sich. Ich habe leider kaum Kontakt mit jungen Leuten.“
Damit kann Aster dienen. Also spricht sie über ihren Schulalltag, über ihre sportbesessene 'Schwester', auch über ihre Begeisterung für klassische Literatur. Nach dem Walzer kommen langsamere Rhythmen, Slowfox und Blues. Herr Goethe lächelt milde und hält die Konversation durch kurze Einwürfe in Gang. Aster hätte niemals gedacht, dass sie sich als eine solche Plaudertasche entpuppen würde. Nach exakt drei Tänzen führt er sie zurück und rückt ihr den Stuhl zurecht. Das Orchester spielt noch einen Tango.
„Es war mir ein Vergnügen, liebes Fräulein, ich danke Ihnen.“ Aster sieht ihm erleichtert nach. Das ist ja gar nicht so schlecht gelaufen. Sie steckt die Halbmaske zurück in ihren Stoffbeutel, der zum Glück noch unversehrt zwischen mehreren halb gefüllten Flaschen und Gläsern liegt. Wahrscheinlich haben Laura und Benny nach ihr gesucht. Nun, Winnetou hat ihr ja auch einen Tanz versprochen.
Benny erscheint nicht. Weder bei der nächsten, noch bei der übernächsten Runde. Dafür taucht Herr Goethe wieder auf. Sie wagt nicht, ihn zurückzuweisen. Aufs neue Plauderei, diesmal erzählt Johann, wie er sich lächelnd vorstellt, von seinen Reisen. Er ist viel herumgekommen. Italien ist sein Lieblingsland, und dort vor allem die Toscana. Asters Reiseerfahrungen beschränken sich auf einen Schulausflug ins Elsass. Also schweigt sie meistens. Sie gibt vor, einen Austausch in die USA zu planen. Allmählich langweilt sie sich, mehr noch, sie fühlt sich unbehaglich. Johanns Hand ist inzwischen von ihrem Schulterblatt am Rückgrat entlang nach unten gewandert. Dadurch muss sie näher an Johanns Brust heranrücken. Kein angenehmes Gefühl. Aber so tanzen die meisten um sie herum, manche noch viel enger. Sie sucht nach einer Ausrede, um den Tanz zu beenden. Aber es fällt ihr keine ein. Übung in Ausreden hat sie keine. Wo nur Laura und Benny sich herumtreiben? So war es nicht verabredet gewesen. Michael würde sie bestimmt retten, aber mit Michael kann sie so schnell nicht rechnen.
Aster entkommt ihrem Verehrer nicht. Bei jeder neuen Runde steht er sofort an ihrem Tisch. Kein anderer hätte eine Chance, falls es einer wagen würde. Schließlich fragt er höflich, ob er Platz nehmen dürfe. Aster resigniert. Herr Goethe bestellt zwei Gläser Sekt. Aster nippt nur ein klein wenig daran.
Wieder zwingt er ihre Hand auf seinen Arm und führt sie wie ein Brautvater zum Altar.
„Sie haben mir noch gar nicht Ihren Namen genannt. Aster? Ein ungewöhnlicher Name. Wenn Sie erlauben, möchte ich Sie lieber Ulrike nennen. Ulrike, ja, das passt.“
Er wirbelt sie mehrmals herum, so dass er fest zupacken muss, damit sie nicht stürzt.
„Ach, Ulrike, Sie lieben doch Gedichte, haben Sie gesagt. Da möchte ich Ihnen eines schenken. Vielleicht verstehen Sie mich dann besser.“
Und er fängt an zu zitieren:
„Was soll ich nun vom Wiedersehen hoffen,
von dieses Tages noch geschlossener Blüte?
Das Paradies, die Hölle steht dir offen;“
Das Orchester spielt bekannte Operettenmelodien. Der Geräuschpegel steigt gewaltig an, nicht wenige im Saal singen oder summen mit, auch ältere Herrschaften gehen auf Tuchfühlung.
Johann zieht Aster näher an sich heran.
„Verstehst du nun, mein Mädchen, geliebte Ulrike?“ Johanns Gesicht kommt Aster gefährlich nahe. Sie kann seine Alkoholfahne riechen. Sein Arm liegt wie ein Eisenring um ihre Taille.
Und da versteht Aster endlich.
„Aber soweit ich weiß“, sagt sie und legt all ihre Abwehr in die Stimme, „hat diese Ulrike Goethe nie erhört. Es ging ihm ziemlich schlecht danach.“
Johann bleibt abrupt stehen. Sein Gesicht, gerade noch vor Erregung und freudigem Erwarten gerötet, wird kreidebleich.
Er verschränkt sein Arme hinter dem Rücken, deutet ein Verbeugung an, murmelt etwas wie „Verzeihung“ und wankt mit zuckenden Schultern davon, ein alter, geschlagener Mann. Ein kleiner Kreis von Neugierigen hat sich um sie herum gebildet. Manche kichern. „So ein blöder Lustmolch“, hört sie eine jugendliche Stimme sagen, „lässt sie einfach stehen!“
Wenige Minuten später findet sie sich im Säulengang vor dem Portal wieder, Stoffbeutel und Mantel hat sie bei sich. Sie atmet tief durch und die kalte Luft bringt ihre Besonnenheit zurück. Was soll sie jetzt tun? Am liebsten möchte sie sofort nach Hause. Muss sie nach Laura suchen, um ihr Bescheid zu geben? Die hat sich ja den ganzen Abend nicht blicken lassen. Aster ist im Moment nicht besonders gut auf ihre Freundin zu sprechen. Auf Michael warten, im Foyer? Auch nicht gerade angenehm. Wer weiß, ob auf ihn Verlass ist, und wenn er dann noch seine Freundin mitbringt …
Aster kramt seufzend nach dem Geldbeutel. Vater hat ihr heimlich noch einen Schein zugesteckt, den wird sie jetzt wohl für ein Taxi ausgeben müssen. Noch einen letzten Blick auf den Eingang und sie bewegt sich Richtung Taxistand. Da sieht sie Michael die Auffahrt heraufkommen. Er ist allein, und er ist auch nicht kostümiert.
„Was ist passiert? Wo sind die anderen?“
„Es geht mir nicht so gut. Laura hat, glaube ich, noch ein paar Leute getroffen. Ich kann mit dem Taxi heimfahren.“
„Kommt überhaupt nicht in Frage. Du steigst jetzt in mein Auto. Um Laura kümmere ich mich später. Die kann was erleben.“
Aster setzt sich erleichtert auf den Beifahrerplatz. Es ist das erste Mal, so nahe und allein neben Michael. Die Heimfahrt ist kurz, beide schweigen. Vor Asters Häuschen stellt Michael den Motor aus.
„Willst du mir nicht erzählen, was passiert ist?“
Aster zögert. „Ich hab mich blöd benommen.“
„Du? Aster, das glaub ich nicht. Du benimmst dich nie blöd. Das ist eher Lauras Spezialität.“
„Ich hab nicht gewusst, dass Worte so verletzen können.“
Aster wartet auf eine Antwort, aber Michael bleibt erst einmal stumm und schaut links zum Seitenfenster hinaus. Dann dreht er sich zu Aster herum.
„Doch, Aster, Worte sind scharfe Waffen, besonders, wenn sie von unerwarteter Seite kommen. Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe es heute selbst zu spüren gekriegt. Komm, erzähl mir, was dir passiert ist.“
Und Aster erzählt.
„Er hat mir ja nicht wirklich was getan. Ich meine, vielleicht war ich ja auch nur wütend auf Laura, und das hab ich diesen alten Mann spüren lassen.“
Michaels Blick hat sich verändert. Aster liest Anteilnahme darin und, ja, einen Hauch Schmerz. Der ist neu. Aster könnte lange so im Auto sitzen bleiben. Vielleicht wird ihr Michael auch erzählen, was ihn verletzt hat.
Michael hilft ihr galant beim Aussteigen. Er küsst sie leicht auf die Wange und sagt:
„Ach Aster, ich wünschte, es gäbe mehr Mädchen wie dich.“
Als Aster auf Zehenspitzen durchs Treppenhaus schleicht, hört sie ihre Mutter aus dem Elternschlafzimmer rufen:
„Bist du das, Astrid, ist alles in Ordnung?“
„Ja, Mama, alles in Ordnung, du kannst jetzt schlafen.“
Alles in Ordnung, denkt Aster, und mehr als das. Morgen wird sie ihre Haare wieder offen tragen.