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Nächtlicher Besuch
Nächtlicher Besuch
Ein kleines Erlebnis aus meiner Kindheit
Zu diesem Zeitpunkt, als es passierte, war ich wohl vierzehn oder fünfzehn Jahre alt.
An jenem Tag hatte meine Mutter Spätschicht und so war ich mit meinem Bruder allein zu Hause. Am Nachmittag ging ich in unsere Dorfbibliothek und lieh mir ein Buch aus.
So früh wie möglich zog ich mich ins Kinderzimmer zurück. Denn ich konnte es kaum erwarten, das Buch zu lesen.
„Heute Abend wird es klar und wir kriegen den westen, “ meinte mein Bruder.
„Es liegt nicht am Wetter, das wir keinen Westsender hier empfangen. Du weißt doch die Helpter Berge. Wir liegen im Tal. Und wenn du in der Schule aufgepasst hättest, wüstest du etwas von den verschiedensten Wellen, die ein großer Sendeturm ausstrahlt, “entgegnete ich.
„Doch. Klaus und ich, haben eine zweite Antenne angebaut, “ trumpfte Ralf siegessicher auf.
„Das glaubst du wohl selbst nicht“, frotzelte ich und ging nach oben ins Kinderzimmer. Aber warum sollte es mit einer zweiten Antenne nicht funktionieren, dachte ich noch. Hauptsache sie stand richtig und hatte die richtige Höhe. Ich schaltete das Radio ein, um passende Musik für mein Buch zu finden, aber fand nichts. Schließlich blieb ich an einem interessanten Hörspiel hängen. Na dann muss das Buch eben noch warten, dachte ich. Ich war so in das Hörspiel vertieft, dass ich meinen Bruder nicht kommen hörte.
„Haste wieder mal Recht gehabt“, knurrte er verdrossen. Und schon war meine Stimmung fürs Hörspiel dahin.
„Haste nicht gehört, was ich gesagt habe?“
„Doch, doch“, entgegnete ich mürrisch. Dabei freute ich mich in Wahrheit diebisch, weil ich doch angeblich nur ein Weib bin und von nichts Ahnung habe. So jedenfalls, redete mein Vater immer, als er noch lebte und wir Frauen – Mutti und ich – mal Recht hatten. Nun ja Männer, Vater und Bruder - konnten es wohl nicht ertragen, wenn wir es besser wussten. Kein Wunder, dass Ralf mürrisch war.
Ich konnte meinem Bruder nie lange böse sein, deshalb las ich ihm eine Geschichte vor. Als Trost sozusagen, denn er liebte Geschichten. Er selbst aber mochte nie lesen, obwohl er es konnte.
Nach einer Weile merkte ich, dass Ralf eingeschlafen war. Meine Stimme war vom Vorlesen schon heiser geworden.
Ich holt mir das Buch das ich am Nachmittag ausgeliehen hatte hervor und las.
Kaum hatte ich einige Seiten gelesen, war ich in einer völlig „anderen Welt“. Vor meinem geistigen Auge lief die Geschichte, wie auf einer Kinoleinwand ab. Ich meinte sogar, Stimmen und Geräusche zu hören, aber davon stand nichts im Buch.
Ein Blick auf den Wecker sagte mir, dass es kurz vor Mitternacht war. Kein Wunder, dachte ich und legte seufzend das Buch beiseite. Es dauerte schon eine Weile, bis ich zurück in die Gegenwart war. Irgendwann musste ich doch eingeschlafen sein.
Plötzlich hörte ich Geräusche. Es hörte sich an, als wenn jemand das Schlüsselloch nicht finden konnte. Im Nu war ich hellwach und lauschte angestrengt.
Nichts.
Wieder war ich eingeschlummert. Jetzt klapperte etwas in der Küche. Ich sprang aus dem Bett, setzte mich auf die Bettkante und lauschte abermals. Wieder nichts.
Mein Gott, dachte ich, die Geschichte muss sich aber ganz schön im Kopf festgesetzt haben.
Jetzt kam jemand die Treppe rauf. Flugs war ich vollends aus dem Bett gesprungen und schlich mich leise zur Tür. Die Mutter konnte es nicht sein, dazu war es noch zu früh.
Blitzschnell, schnappte ich mir den Besen, den ich vergessen hatte wegzuräumen.
Na warte, dachte ich. Dir werde ich es zeigen. Von wegen Angst machen.
Ich wartete noch einige Sekunden, versuchte den Atem anzuhalten. Das Blut rauschte in meinen Ohren. Länger konnte ich nicht warten. Egal was passiert, dachte ich, denn der Überraschungseffekt war auf meine Seite.
Mit einem heftigen Ruck riss ich die Tür auf. Vor mir stand ein großer schlanker Mann und fummelte mit Streichhölzern herum. Erstaunt sah er mich an.
„Pst, pst.. Nicht böse sein,“ flüsterte er den Finger auf seinen Mund legend.
Im ersten Moment war ich zu keiner Reaktion fähig. Instinktiv knallte ich die Tür zu. Mein Herz pochte wie wild. Es war, als hätte ich einen Marathonlauf hinter mir. Unzählige Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ein Gedanke saß besonders fest. Ein alter Spruch von meiner Oma Anna.
„Alles, was spukt, ist lebendig. Davor brauchst du keine Angst zu haben.“
Hat es tatsächlich gespukt. War es Einbildung oder Realität?
Wieder riss ich die Tür mit einem Ruck auf.
Nichts.
Oh, oh, dachte ich. Jetzt hat’s dich aber erwischt.
Ich weckte Ralf und erzählte ihm, was ich soeben erlebt hatte.
„Ach hör auf. Du hast eine rege Fantasie. Haste wieder mal solange gelesen“, knurrte er und drehte sich auf die andere Seite, zur Wand hin.
Na dann eben nicht, dachte ich und legte mich ins Bett.
„War es wirklich so?!“
„Hm“, bestätigte ich knurrend und wollte mich auf die Seite drehen.
„Willst du nicht mal nachsehen. Kann ja sein, dass es doch ein Einbrecher gewesen war. Der hat bestimmt das Radio und den Fernseher mitgenommen.“
„Na klar doch. Deswegen kommt er erst nach oben, um bescheid zu sagen. Ha, ha. Dass ich nicht lache, “ sagte ich ironisch.
„ Erst mir erzählen, dass ich zuviel Fantasie habe und dann doch glauben, dass es vielleicht ein Einbrecher gewesen ist.“
„Kann doch sein“, entgegnete Ralf.
„Also gut, damit du Ruhe gibst“, sagte ich seufzend und stand auf. Kaum hatte ich die Treppe betreten, war Ralf auch schon hinter mir.
„Hast’ Angst?“
„Nein.“
Ich glaubte ihm nicht. Wir machten überall Licht, fanden aber nichts Verdächtiges. Nur einen umgekippten Stuhl und Fußspuren auf dem Fensterbrett in Mutters Schlafzimmer. Dann gingen wir wieder nach oben. Ich lag noch eine Weile wach und überlegte, was überhaupt geschehen war.
„Was meinst du. Kommt der Einbrecher wieder?“
„Nein,“ murmelte ich.
Am kommenden Morgen, bevor ich zur Schule ging, erzählte ich meiner Mutter, was sich in der Nacht abgespielt hatte. Auch sie schenkte mir keinen Glauben.
Ein paar Tage später erzählte man im Dorf, dass jemand bei uns durchs Schlafzimmerfenster eingestiegen war. Es war ein Bewohner des Gutshofes. Er hatte am Abend in der Dorfkneipe Skat gespielt und dabei einen übern Durst getrunken und war, statt zum Gutshof zu gehen, auf unseren Hof gelandet.