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Nächtliche Malstunde
Im Kinderzimmer war es dunkel. Nur durch einen schmalen Schlitz zwischen den schweren Vorhängen schickte der Mond einige helle Strahlen in den Raum. Sie trafen genau auf den Schreibtisch.
Dort herrschte ein heilloses Durcheinander. Kreuz und quer lagen die Buntstifte zwischen Papierbögen und Schulbüchern und langweilten sich.
„Kann mir jemand sagen, warum wir hier noch auf dem Tisch herumliegen?“, fragte der kleine Rotstift, der unter einem Bogen Papier herausschaute. Dann blies er so kräftig, dass das Blatt sich hob und langsam auf den Fußboden segelte.
„Sandra hätte wirklich aufräumen können, bevor sie ins Bett gegangen ist. Jetzt schaut sie euch an, wie friedlich sie schläft“, brummte Braun, der am Rand des Schreibtisches lag und freie Sicht auf das schlummernde Mädchen hatte.
„Sie wollte doch das Bild mit dem Regenbogen fertig malen, dann kam aber ihre Mutter herein und hat sie schleunigst ins Bett geschickt.“ Der gelbe Buntstift sprach mit sehr undeutlicher Stimme, denn ein schweres Buch lag quer über ihm, so dass er kaum Luft bekam. Mit einem Ruck befreite er sich aus dieser Lage und stellte sich auf seine Spitze.
„Was haltet ihr davon, wenn wir das Bild selbst malen?“ Grünstift, der auf der einen Seite schon etwas angenagt war, hüpfte über den Tisch und stellte sich auf den Bogen Papier, auf dem schon ein paar Bleistiftstriche zu sehen waren. „Und wie es aussieht, stehe ich hier an der richtigen Stelle, denn da sollte wohl ein Rasen entstehen.“
„Bist du dir da sicher?“, fragte Dunkelblau, der etwas verschlafen hinter der Tischlampe hervorschaute. „Es könnte doch auch Wasser sein, das Sandra hier malen wollte.“
„Nein, auf gar keinen Fall! Das wird Gras und Gras ist nun mal grün, so wie ich!“ Stolz reckte sich der Farbstift in die Höhe und begann sofort, lauter klitzekleine Strichelchen auf das Blatt zu zeichnen.
„Aber … aber“, stotterte Gelb, „da wollte ich doch ein winziges Küken mit gelben, weichen Federn zeichnen, das auf dem Wasser schwimmt. Jetzt geht es nicht mehr.“ Trotzig zog er sich auf die andere Seite des Tisches zurück.
„Du kannst die Kleinen auch auf die Wiese setzen“, bestimmte der braune Farbstift und begann einen braunen Weg quer durch die Wiese zu zeichnen. „Hier auf dem Weg zum Beispiel ist genug Platz für eine ganze Entenfamilie.“
„Aber sie sollten auf dem blauen Wasser schwimmen.“ Gelbstift hielt beharrlich an seiner Meinung fest.
„Jetzt sei nicht beleidigt, Gelbling“, beruhigte ihn Grün. „Ich lasse am Rand ein bisschen Platz, da kann unser lieblicher Bläuling seine Farbe setzen.“
Die nächste Zeit herrschte Ruhe auf dem Schreibtisch. Lediglich das Kratzen der Buntstifte war zu hören.
Hin und wieder huschte der kleine Rote über die grüne Wiese und setzte hier und da ein paar rote Farbtupfer hinein, die Mohnblumen sehr ähnlich sahen.
Am oberen Rand des Bildes wuchs nach und nach ein riesiger Baumstamm in den Himmel, den der dunkelbraune Farbstift zeichnete. Nachdem Grün die Wiese vollendet hatte, hüpfte er hinüber zu dem dicken Baum und gab ihm lauter kleine Blätter, die an den vielen Ästen hingen.
Als der gelbe und der rote Farbstift begannen, bunte Äpfel an die Zweige zu malen, protestierte Braun.
„Um Gottes Willen, hört auf! Das soll kein Apfelbaum werden, sondern eine alte Eiche. Schluss mit dem Malen!“
Gelb und Rot sahen den Braunstift erschrocken an.
„Aber das sieht doch viel schöner aus, wenn ein paar rotgelbe Kleckse in den Ästen sitzen.“
„Nein, ich will das aber nicht!“ Wütend stampfte Braun mit der Spitze auf dem Tisch auf, so fest, dass sie abbrach. „Oh nein, auch das noch! Bleibt mir denn heute gar nichts erspart?“ Weinend sah der Buntstift auf seine stumpfe braune Spitze.
„Jetzt weine nicht“, versuchte Blau seinen braunen Kollegen zu beruhigen. „Wir nehmen den Radiergummi und im Nu ist alles wieder weg.“ Wütend sah der Blaustift auf Gelb und Rot, die schleunigst stiften gingen.
„Ich habe schon überall auf dem Tisch nachgesehen“, keuchte der Bleistift, der durch das laute Gezeter wach geworden war. „Ich kann den Radiergummi nirgends finden.“
Da kam Bewegung in die Buntstifte. Alle rannten hin und her, hoben Papierbögen an, stemmten Schulbücher und sahen darunter. Doch der Radiergummi war nicht zu sehen.
Plötzlich rief der Bleistift: „Ruhe! Seid mal alle leise! Ich glaube, ich habe etwas gehört.“
Im nächsten Augenblick herrschte eine unheimliche Stille im Kinderzimmer. Nur ein gleichmäßiges, sägendes Geräusch war zu hören. Lautlos schlichen die Buntstifte an den Rand des Schreibtisches und beugten sich hinab. Gerade erfasste der schmale Streifen des Mondlichtes einen länglichen Gegenstand, der mutterseelenallein auf dem Teppichboden lag.
„Da, da ist der Radiergummi“, rief Rot erfreut. Doch wie sollten die Buntstifte den schlafenden Radiergummi aufwecken?
Da hatte Grün eine glänzende Idee. Alle Stifte stellten sich in einer Reihe auf und trommelten mit ihren Spitzen so laut auf die Tischplatte, dass der Radiergummi hochschreckte.
„Was … was ist denn los?“, fragte er schlaftrunken. „Warum macht ihr so einen Krach. Da kann man ja nicht schlafen.“
„Du sollst auch nicht schlafen, sondern zu uns nach oben kommen und die Äpfel aus dem Baum entfernen“, antwortete der Bleistift.
„Ich soll mitten in der Nacht Äpfel pflücken. Seid ihr noch ganz bei Trost?“
„Frag nicht so viel und komm rauf. Da wirst du sehen, was du tun sollst.“ Der Bleistift wurde langsam ungeduldig und trippelte nervös auf seiner Spitze herum.
„Wehe, wenn es nichts Wichtiges ist, dann radiere ich euch alle miteinander aus und dann habe ich wenigstens meine Ruhe. Immer müsst ihr Blödsinn malen oder schreiben und ich muss die Fehler dann wieder wegradieren“, brummte der Radiergummi, während er bedächtig am Schreibtisch hinaufkrabbelte. Als er endlich oben angekommen war, gähnte er und streckte sich ausgiebig. Dann fragte er: „So, wo werden meine Dienste gebraucht?“
Braun führte ihn zum Baum, der jetzt noch ein Apfelbaum war, und befahl: „Die Äpfel müssen da weg. Es soll eine alte Eiche sein, die hat nun mal keine Früchte.“
„Aber die Farbtupfer sehen doch sehr schön aus zwischen dem Grün.“
„Die sollen aber weg!“, schrie Braun ärgerlich. „Jetzt fang du nicht auch noch an zu meckern!“
„Ist schon gut, ich mache es weg.“
Und - Schwuppdiwupp – waren die Äpfel verschwunden. „Ist nun alles wieder in Ordnung? Kann ich jetzt weiterschlafen?“
Als Braun nickte, rollte der Radiergummi an die Kante des Schreibtisches, ließ sich nach unten fallen und während er noch ein paar Mal aufdopte, war er schon wieder eingeschlafen.
Es dauerte nicht mehr lange und das Bild war vollendet. Jeder Farbstift hatte mitgemalt. Und nun spannte sich ein schöner Regenbogen über eine bunte Landschaft.