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Nächtliche Begegnungen
Niemand bemerkte ihn. Den bleichen Finger, der sich langsam über den dunklen Marktplatz der verlassenen Innenstadt zog. Er legte sich lang, bog sich wie eine Raupe, grub seine hellgraue Kralle in ein Loch des Asphalts, kämpfte mit dem Gleichgewicht und zog den verkrusteten Rest hinterher.
Immer wieder fiel er, wenn er mit dem Gleichgewicht kämpfte, auf eine Seite.
Doch jedes Mal streckte er sich wieder aus und wiederholte den Vorgang geduldig von vorne.
Mit unzähligen Versuchen, dieser merkwürdigen Art der Fortbewegung, überquerte er innerhalb von ein paar Stunden den Marktplatz.
Er bewegte sich zielstrebig in die Richtung, in der er aufgrund sanfter Bodenschwingungen den Brunnen vermutete.
Plötzlich hielt er inne.
Heftigere, einzelne Bodenschwingungen verrieten ihm, dass Gefahr drohte.
Es mussten zwei Menschen sein.
Vier Füße gelangten bis in seine Nähe, dann stoppten sie.
Er wurde zwischen zwei warmen Fingern gegriffen und hochgehoben.
Instinktiv verhielt er sich ruhig.
Kreischende Schwingungen fuhren durch die Atmosphäre und erschreckten ihn.
In hohem Bogen wurde er durch die Luft geschleudert, landete an einer Wand und fiel auf den Boden. Schnell schaltete er seinen inneren Kompass ein. Er prüfte mit dem Eisen in seinem restlichen Blut die Richtung, in die er gefallen war, zählte die Sekunden, die er geflogen war, bezog die Höhe mit ein, auf die er angehoben worden war, überschlug die Werte gefühlsmäßig, da er kein vollständiges Gehirn mehr zur Verfügung hatte und kam darauf, dass er sich wohl etwa zwanzig Meter nordöstlich des Brunnens befand.
In verbliebenen Fetzen der unvollständigen und etwas breiigen Erinnerung sah er seine Unterkunft für den nächsten Tag. Etwas weiter nördlich, von seinem aktuellen Aufenthaltsort musste sich ein Tor zu einer Passage befinden die unter dem zweiten Stockwerk eines Gebäudes in den offenen Hof dahinter führte.
Ohne weiteres Säumen bewegte er sich dorthin.
Karl hatte Sandra in der RED-Lounge aufgegabelt. Seine Klassenkameradin und er waren sich zwar nicht sehr nahe, aber irgendwie vertraute sie ihm genug, sich von ihm nach Hause eskortieren zu lassen.
Er war niemand, der in einer finsteren, sternenlosen Nacht über ein Mädchen herfiel, um ihr etwas anzutun. Schon gar nicht Sandra, die gar nicht sein Typ war.
Sie war ihm zu klein und zu giftig. Aber ihr fehlte der Vorderbau, den gewöhnliche Jungen anziehend fanden. Dieser Mangel, war das einzige, was ihm an dem bleichen, schwarzhaarigen Mädchen gefiel.
Sandra hatte es ihm mit Küsschen gedankt, als er ihr angeboten hatte, sie heim zu geleiten und sich in seinem kräftigen Arm eingehängt.
Karl wusste, dass sie es nicht ernst meinte.
Wer auch immer Karl in dieser Herbstnacht über den Weg laufen mochte, würde ihnen ausweichen, aufgrund seiner stattlichen und finsteren Erscheinung.
Auch wegen seiner Vollglatze und dem schwarzen Mantel, den er trug.
Darum konnte sich Sandra auch vollkommen sicher fühlen.
Trotzdem stichelte sie ihn, als sie den Marktplatz überquerten.
„Man könnte fast glauben, du entführst mich und möchtest mich vergewaltigen!“
Sie kicherte.
„Hm? Ist das etwas, worüber ich lachen sollte? Ich dachte, du traust mir?“
Er ließ ihren Arm fahren.
„Ich mach nur Spaß! Blödmann...“
Sie ergriff seine Hand und grinste ihm ins Gesicht.
Plötzlich schaute sie zum Brunnen und zog ihn hinter sich her.
„Guck mal! Was ist denn das?“, fragte sie ihn und blieb genau davor stehen.
Karl folgte ihrem Blick auf den Boden, erkannte jedoch nur, dass etwas auf dem Boden einen Schatten warf.
„Wie hast du das überhaupt gefunden?“, fragte er sie.
„Es hat sich über den Boden bewegt, als wir zum Marktplatz gekommen sind!“
Was ging eigentlich im Kopf dieses Mädchens vor, wenn es nachts mit einem Jungen unterwegs war?
Sie bückte sich, griff danach, kreischte und warf es gegen eine Hauswand. Karl seufzte und zog sie vorsichtig davon. Er lächelte.
Sein richtiger Name war Peterchen, doch seine Herrschaften nannten den kleinen Dackel Stubie, weil er so gerne auf dem weichen Kissen in der Stube saß, neben dem der Eingang zum Wintergarten lag, den er so gerne tagelang beobachtete, weil darin ein herrlich bunter Paradiesvogel von Baum zu Baum flog, dem Stubis Frauchen gerne das Sprechen beibrachte...
Er vermisste den bunten Daseins-Kollegen, denn seine Herrschaften waren verschwunden, ohne ein Wort zu sagen. Ihr verzogener Sohn hatte Stubie schließlich vor die Tür gesetzt...
Dies war seine erste Nacht auswärts und Stubie versuchte verzweifelt, seine Instinkte zurück zu gewinnen, denn sie waren etwas eingegangen.
Schnüffelnd durchsuchte er die dunkle Stadt nach etwas essbarem.
Da hörte er einen Schrei, so hell wie die Stimme seines Frauchens, der ihn dazu veranlasste, sofort in die Richtung zu laufen, um ihr möglicherweise wieder begegnen zu können.
Seine ganze Freude war dahin, als er in der Entfernung zwei junge Menschen bemerkte, die ganz anders rochen, als seine Herrschaften.
Stubie verzog sich in den Schatten eines Gebäudes, als die beiden in seine Nähe kamen. Er war froh, dass sie ihn nicht bemerkt hatten. Noch einmal wollte er keinesfalls in die Hände von so jungen Leuten, wie dem verzogenen Sohn seiner verschwundenen Herrschaften, geraten.
Als sie vorüber waren, trottete er sich auf den großen Platz, von dem ihm ein bemerkenswert süßer Geruch entgegenkam, dem er nun folgte.
Wild schnüffelte er dem Duft hinterher, in die Mitte des Platzes. Er war enttäuscht, als der Duft plötzlich in einer Sackgasse endete.
Dies musste der Ort sein, wo er hergekommen war, dachte Stubie. Doch plötzlich wurde er aufmerksam. Aus einem finsteren Loch, das in einen Gang in einem Gebäude führte, kam ihm derselbe Duft entgegen und lockte ihn dorthin.
Stubie folgte kläffend der Verführung und fand dort auch tatsächlich etwas essbares vor: Etwas knochiges, mit Fleischstückchen daran, dass genau die Größe der kleinen Würste hatte, die er so gerne aß.
Nachdem er das Fleisch abgenagt und verzehrt hatte, rannte er ungestüm und knurrend, einem unbeugsamen Willen folgend ins Ungewisse und hielt erst in der Nähe des Friedhofes an.
Er sprang über die Mauer, misstrauisch, woher er soviel Kräfte besaß und verbrachte den Rest der Nacht damit, die Grabinschriften im fahlen Mondlicht zu betrachten.
Gemächlich streckte Malte seine ausrangierten Knochen auf dem Beifahrersitz, des ihm zur Verfügung gestellten Dienstwagens, der Sicherheitsfirma, für die er seit drei Wochen arbeitete.
Die Leuchtziffern seiner Armbanduhr verrieten ihm, dass es Zeit für die Ablösung seines Kollegen auf seiner Friedhofs-Runde war.
Er schaltete das Licht ein, um etwas sehen zu können und öffnete das Handschuhfach, dem er eine Schreckschusspistole entnahm, welche er in Eigenarbeit umgebaut hatte. Grinsend steckte er das Magazin ein, kontrollierte den Sitz und zog klackend den Ladeabzug zurück, um die erste Patrone in den Lauf zu transportieren.
Er gähnte, kramte seine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und öffnete die Beifahrertüre.
Just in dem Augenblick wurde er geblendet, von der Taschenlampe seines Kollegen. Herr Schäfer grinste ihn an und meinte: „Ausgeschlafen, hm?“
„Wachablösung!“, antwortete Malte, so wie jede Nacht. Er hasste dieses der Worte entbehrende Ritual. Doch Herr Schäfer war noch verschwiegener, als Malte selbst.
Treu nahm Malte den Befehl ernst, erhob sich, begann seine vorgeschriebene Tour, welche zehnmal über den nächtlichen Friedhof und fünfmal darum herum führte, und überließ Herrn Schäfer dem Engel der Nacht.
Bei seiner zweiten Runde, über den Friedhof selbst, hörte er ein merkwürdiges Rascheln.
Er leuchtete mit der Taschenlampe in die Richtung und sah, dass Erde hinter einem Grabstein in die Höhe schoss.
Sofort bekam er es mit der Angst zu tun, denn was immer dort buddelte, war so schnell bei der Sache, dass es sich niemals um einen Menschen handeln konnte.
Malte prüfte den Sitz seiner Waffe und entsicherte sie. Vorsichtig lugte er um die Grabsteine herum und entdeckte schließlich erleichtert einen grabenden Dackel, im Licht des Mondes.
Malte hob den Arm in die Luft und gab einen Warnschuss ab, um den kleinwüchsigen Grabschänder zu verjagen.
Doch, der Dackel buddelte nur noch schneller. Unsicher, was er tun sollte, wartete Malte dem eifrigen Schausspiel bei, bis der Dackel sich tief in das Grab hineinbewegt hatte. Schließlich kam er auf die Idee, einfach das Loch hinter dem Dackel zu verschütten und grinste schamlos.
„Das hast du jetzt davon,“, sprach er zu dem Hund, „dass du nicht einfach deinen Instinkten gefolgt und weggerannt bist, wie es sich für dich und deine Artgenossen geziemt!“
Malte wartete noch, bis weniger Erde aus dem Loch nach oben geworfen wurde, näherte sich dem Loch, blickte hinein, zielte in die Laufrichtung des Loches und drückte eiskalt ab.
Umstandslos kickte der Hobbyfußballer die aufgehäufte Erde zurück ins Loch, trat die Erde fest, als er fertig war und lockerte die Oberfläche leicht auf, bis er zufrieden war.
Er steckte die Knarre zurück ins Halfter, nickte, lächelte und führte seinen gewohnten Gang fort.
Gerade hatte er sich eben zwanzig Schritte von dem Grab entfernt, da ruckelte die Erde und er stürzte beinahe. Ein besonders grausiges, kahles Krächzen zerriss die Nacht und Maltes Nerven lagen auf einmal blank.
Die biblische Warnung: „Du sollst nicht töten“, erschien in seinem Kopf, doch galt das auch für einen dummen Dackel?
Da die Erde nicht aufhörte, leicht zu beben und ein immer stärker wehender Wind sich langsam in einen Sturm verwandelte, der an seiner Kleidung und an seinen Haaren zog, blickte Malte zaghaft zurück und traute seinen Augen nicht mehr.
Die Erde, welche er festgetreten hatte, kam unaufhörlich aus dem Grab geschossen, wirbelte nach oben in die Luft und bildete eine Art Windhose.
Das untere Ende bewegte sich nach oben, als keine Erde mehr heraus kam. Darunter kam eine flüssige, lebendige Finsternis hervor, die ständig waberte und Wellen schlug.
Aus dem Wabern stieg ein schwarzer, nebliger Kegel auf, in dem Malte fast nichts mehr erkennen konnte. Der Sturm legte sich und es begann Erdbrocken zu regnen, vor denen er sich unter einem nahen Baum in Deckung begab.
Das Grauen zog sich so schnell in das Grab zurück, wie es herausgekommen war und Malte erblickte einen lebendigen Leichnam, der im fahlen Mondlicht aus dem meterweiten Loch auf die Erdoberfläche kroch.
Malte kreischte, zog seine Waffe und drückte panisch ab. Da er jedoch vergessen hatte, sie zu entsichern, geschah nichts. Er bekam es mit der Angst zu tun, als der widerliche Zurückkehrer oben stand und ihn erblickte. Der Widergänger öffnete seine Hand. Malte entsicherte seine Waffe und drückte ab.
Der Sicherheitsmann starrte Noctor und seinen menschlichen Verschmelzungspartner an, und wagte nicht, sich zu bewegen. Den Schuss hatte Noctor mit den Zähnen abgefangen und Miguel spie ihn aus, da er nach Schwefel schmeckte.
„Danke für't ausbuddeln Noctor!“, sagte Miguel.
„Und für die abgefangene Kugel bedankst du dich nicht?“
Grinsend antwortete Miguel: „Du has' sie mit meinen Zähnen abgefangen. Also... Nein!“
Darauf hob Miguel wieder seine Hand und blickte den bleichen Kerl mit der Knarre eiskalt an.
Der gab noch zwei Schüsse ab, die Miguel jedoch nicht verletzen konnten, da er Noctors dunkle Kraft dazu benutzte, die Kugeln abprallen zu lassen, bevor sie ihn treffen konnten.
„Scheißverdammter Vampir!“, schrie der Sicherheitsmann und feuerte nochmals.
Da wich Miguel aus, formte die Dunkelheit zu einer Hand an einem langen Arm und entriss dem entsetzten Kerl die Waffe schneller, als dieser reagieren konnte, um sie festzuhalten.
Er nahm die Waffe in seine Hand, legte sie an, zielte auf den Entwaffneten und drückte ab.
Weil ein weiterer Wachmann erschien, ließ er die Waffe fallen, löste sich schnell in Finsternis auf und entfloh in den Nachthimmel hinein.
Es war eine Weile hergewesen, dass er während seines Fluges die Lichter der Stadt unter sich sehen konnte.
„Also Miguel“, fragte der Finsternis-Naturgeist, „Willst du dich an deinem Mörder rächen?“
„Keene Lust! Er kann mich meinetwegen so oft töten, wie er will! Dank dir stehe ich ja sowieso immer wieder auf...“
„Meine Energie reicht nicht für alle Ewigkeit und die Wiederbelebung eines verstorbenen Paktpartners kostet mich mehr, als du in hundert Jahren ersetzen könntest!“
Miguel lachte höhnisch.
„Ich habe keine Angst vor dem Tod! Soll er kommen und mich holen. Ich habe immer so gehandelt, dass ich nichts bereuen muss. Ich werde mich durch Notwehr verteidigen, wenn es mir ans Leder geht, aber ich kenne keinen Rachedurst. Es ist mir lieber den Angsthasen zu vergeben, die in meinem Schatten leiden und sich Luft verschaffen, indem sie mich töten“
"Was soll's, Ich verstehe dich zwar nicht,", gab Noctor zu, "aber ich habe keine andere Wahl, als demjenigen zu gehorchen, der sich mit mir verbunden hat. Bis du wirklich tot bist, werde ich bei dir bleiben und alles tun, was du befiehlst... Übrigens, habe ich dieses Mal das Leben eines Dackels benutzt, um dich wiederzubeleben!"
Miguel wurde sauer.
"Musst du mich unbedingt aufklären! Das ist ja widerlich!"
"Hähä, Deine Schuld Miguel!"
Miguel hätte Noctor gerne geschlagen, doch Noctor bestand nur aus Finsternis und lebte außerdem in seinem Körper. Auch er hatte keine Wahl, als sich mit seinem Partner abzufinden. Das war es gewesen, auf was Noctor ihn in Wirklichkeit hatte hinweisen wollen.
Geräuschlos setzte er seinen Trip in die dunkle Ungewissheit fort, alles ignorierend was ihm missfiel. Er war wieder am Leben, nur das zählte.
Es war ein Leben in Finsternis. Ein Leben, ohne Freundschaften. Doch, da er und Noctor nichts und niemanden brauchten, als sich selbst, war es für ihn akzeptabel, solange er tun und lassen konnte, was er wollte. Nur ab und an forderte Noctor Miguels Einsatz für das Gleichgewicht zwischen Finsternis und Licht, damit die Natur nicht aus dem Gleichgewicht geriet. Es interessierte ihn nicht wirklich, wer sein Feind war und was er trieb. Doch, sollte er ihm und Noctor einen Grund liefern, würde er, unter Einsatz seines Lebens, kämpfen. So wie sonst auch.