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Nächtliche Begegnung
21.48 Uhr und 13 Sekunden, ein Leben und noch einen kurzen Moment später:
Die Kugel hat soeben den Lauf des abgedrückten Revolvers verlassen und bahnt sich ihren zugegebenermaßen recht kurzen Weg in den Kopf einer zweiten Person, die weniger als einen halben Meter entfernt steht...
Noch hat der Schall das Ohr nicht erreicht;
für einen unendlich kurzen Moment scheint der Lauf der Dinge angehalten, die Zeit selbst nimmt sich offensichtlich eine Pause.
Dies wird die Geschichte einer nächtlichen Begegnung...
21.48 Uhr und 13 Sekunden
Zu behaupten, es sei einer jener magischen Partyabende gewesen, an denen alles unwirklich scheint, denn die Luft ist mild und die Stimmung ausgelassen, halte ich für etwas übertrieben.
Sicherlich war die Stimmung gut gewesen - jedenfalls bis ich die Party verlassen habe - aber so richtig mild war es nun auch nicht.
Es war eher schwül; man konnte das Gewitter schon förmlich riechen.
Es fehlten nur noch Mücken, und dann wäre das Bild perfekt gewesen, eine ruhige Sommerszene, in der vieles möglich und nichts unmöglich war.
Es fehlte jedoch etwas, um das Bild wirklich zu fixieren. Ich glaube, es war der Mond, der sich im Moment hinter einigen Wolken versteckt hatte.
Ein weiterer Punkt mischte sich in meine Betrachtungen ein: Es war ja auch noch gar kein richtiger Sommer, und vielleicht rührte ein Teil meiner Probleme daher.
Aber der Großteil meiner besten Freunde hatte sich versammelt um einen 18. Geburtstag zu feiern.
Einzig meine Drogenabstinenz -und damit schloss ich auch Cola ein, ausser Wasser nahm ich an dem Tag nichts zu mir- hätte die Stimmung kippen können, tat es aber nicht.
Das Problem lag eher an mir, aber so richtig klar werden sollte mir dies erst später - zu spät, in Retrospektive.
So wurde jedoch gefeiert, und allein die typischen Begrüßungszeremonien (Umarmung hier, Küsschen dort, usw. man kennt das ja) zogen sich sehr lang hin. Wahrscheinlich auch deswegen, weil keine feste Zeit ausgemacht worden war, wann die Party nun eigentlich los ging.
Somit trafen die meisten Besucher zwischen 19.00 Uhr und Mitternacht ein, einige schon vorsorglich mit irgendeiner Art bewusstseinserweiternder Substanz in Kontakt und damit selber entsprechend weggetreten.
Kernpunkt dieser Geschichte, die ich im Folgenden erzählen werde, ist jedoch die Tatsache, dass ich mich an irgendeinem Punkt der Feier genötigt fühlte, einen Spaziergang zu unternehmen.
Wenn ich jetzt erzähle warum, gebe ich eine ganze Menge meiner selbst preis, doch das ist nicht wichtig, nun nicht mehr.
Schriebe ich jetzt, dass dieser Abend ALLES änderte, so wird sich mancher Leser mit genervtem Blick abwenden und in den Schranken seiner Vorurteile für immer gefangen bleiben. Demjenigen jedoch, der tapfer weiter liest, verspreche ich eine gute Weile eventuell besserer Unterhaltung.
Alle anderen sollen fernsehen.
Tatsache ist nämlich, dass dieser Abend zumindest mein Leben drastisch ändern sollte, sofern man jedoch noch von "Leben" sprechen möchte. Aber dazu später mehr.
Tatsache ist nämlich auch, dass ich durch diesen Spaziergang in eine ziemliche Bredouille geraten bin und nicht glaube, jemals aus dieser Sache wieder herauszu- geraten. Jedenfalls nicht auf die Weise, wie ich hineingeriet...
Falls man mich fragen sollte, wie es überhaupt dazu kommen konnte -und weinende Gesichter an unzähligen Gräbern überzeugen mich davon, dass es IMMER so sein wird- dann werde ich nur mit meinen Schultern zucken und die Sache negieren können.
Ich weiß es nicht. Normalerweise strebe ich ja immer danach, Dinge zu durchblicken, aber dies hier übersteigt mich doch. Es irritiert mich festzustellen, dass ich es nicht in meinen Schädel bekomme, aber was soll man machen ?
"Sorge Dich nicht, lebe !" würde Carnegie sagen, und eine Million schlechter Bücher von noch schlechteren Autoren würden mir raten, täglich Dinge auswendig zu lernen oder Kreuzworträtsel zu lösen oder weiß der Teufel was sonst zu tun.
Mir selbst vertrauen, das werde ich, denn das ist, was eigentlich auch zwischen den Zeilen eines jeden dieser Papierhaufen steht.
Nun, ich werde mir nie wieder Sorgen über das Sein machen müssen...
Verwirrend, nicht wahr?
Was ich mit diesem Satz, werter Leser, aussagen will, ist, dass sich nach diesem Abend alle diese Fragen relativiert haben werden, und wenn du jetzt die Stirne runzelst und einige deiner Zeitgenossen die erste Hürde genommen und bis hier, aber nicht weiter gelesen haben weil sie entnervt das Buch aus der Hand legen, so bitte ich dich, lies weiter bis zum Ende, und du wirst verstehen. Ich verspreche dir, du wirst am Ende so perfekt verstehen, dass du dich wunderst, jemals unverständig gewesen zu sein. Nur ein kleines bisschen Vertrauen, dass ist alles was ich brauche.
Nur so viel Vertrauen wie es braucht aufzustehen und zu glauben, nichts würde geschehen, wenn man allein durch die Nacht läuft.
Denn genau das tat ich.
Ich erhob mich vom Sofa, auf dessen Rücken ich die letzten 11 1/2 Minuten damit verbracht hatte, die Salzstangenvorräte zu dezimieren (und anschliessend das Haus leerzusaufen, denn die Dinger machen verdammt durstig) und mich angeregt mit meiner Nachbarin zu unterhalten.
Ich glaube, die Ärmste war ganz froh, mich los zu sein, denn theoretische Überlegungen zu quantenphysikalischen Vorgängen in einem Joghurtlöffel gehören nun mal nicht zum Alltagsreportoire einer 19-Jährigen Schülerin, die von Physik verstand, was Beschleunigung und Kraft waren, ansonsten sich aber eher in künstlerische Gebiete verschlagen hatte.
Ich brauchte dringend eine Nichtraucherpause, und weil ich mit meinen interessanten neuen Erkenntnissen eine Weile allein sein wollte, beschloss ich, einen Spaziergang zu unternehmen, und zwar den eingangs erwähnten.
Ich ging also die Treppe hinunter, denn die Feier fand auf dem Dachboden einer alten Scheune statt, stolperte fast über ein innig knutschendes Paar (Moment mal, ich kannte beide, aber bis heute in einer anderen Konstellation, was soll‘s, Beziehungen ändern sich) und schaffte es gerade so nach draussen.
Dort waren etwa sieben Leute damit beschäftigt, Hackisack zu spielen, mindestens genauso viele versuchten sie davon abzuhalten, und hier und da waren einzelne rote Pünktchen zu erkennen, die in regelmäßigen Abständen aufleuchteten.
Doch das störte mich wenig, denn so langsam gewöhnte ich mich an den Rauch und empfand ihn schon fast als etwas Schönes; auf jeden Fall gehörte Zigarettenrauch zu einer Fete, wenn sie zünftig ablaufen sollte.
Ich finde es sehr interessant, dass ich als radikale Nichtraucherin ausgerechnet diesen kalten Qualm als schön empfinden soll, aber das war bestimmt wieder so ein daneben geratener Ich-Abwehrmechanismus und in Wirklichkeit habe ich etwas Unangenehmes zu etwas Schönem gemacht, aber ich nehme an, ich wäre schon längst komplett durchgedreht, wenn dem nicht so wäre.
Bestimmt wäre dieses Gefühl des Unangenehmen in einem schlimmen Alptraum aufgetaucht, aber nun gibt es keine Träume mehr, jedenfalls für mich. Wobei ich mich frage, ob ich anderen Alpträume bereiten kann.
Während ich also dahinging und über das Rauchen und Träume sinnierte, fragte ich mich, ob schon jemals jemand von mir geträumt hatte, so wie ich es auch von einigen Leuten tat.
Ein schöner Gedanke, der dem Leben doch einen viel besseren Sinn gib.
Ich lebe, weil jemand sonst nicht von mir träumen könnte. Was für ein schöner Gedanke, so uneigennützig und friedlich.
Nach Ablauf der Zeitspanne, die ich benötigte um vom Hof zu kommen, hatte ich mit diesem Gedanken abgeschlossen. Nun sei es Zeit für einen Neuen, aber ich hatte noch keine Idee, in welche Richtung er gehen sollte.
Vielleicht sollte ich diesen Moment nutzen um mich bei allen jenen zu entschuldigen, die sich Sorgen um mich gemacht haben.
Denn diesen Abend waren jegliche Sorgen absolut berechtigt, im Gegensatz zu sonstigen Abenden, an denen man annahm, mir sei sonstwas passiert, und dabei war ich doch bloß zu Fuß vom Bahnhof gekommen und nicht mit dem Rad wie sonst.
Dem aufmerksamen Leser wird aufgefallen sein, dass ich viel vom Spazierengehen rede. Nun, das ist meine Art, die Geschwindigkeit dieser Welt ein wenig erträglicher zu gestalten, denn manchmal brauche ich die Langsamkeit wie ein Glas Wasser. Kein großartiger Geschmack, nicht viel Besonderes, aber es löscht den Durst.
Mir fiel auf, dass der Abend doch recht schön wurde, einerseits weil so viele tolle Leute dort waren, andererseits weil der Vollmond hinter den Wolken hervorkam und sein silbrig glänzendes Licht überall dorthin verteilte, wo sich der Schatten vertreiben ließ.
So starrte ich in den Mond, und das sollte sich als wichtig entpuppen, denn hätte ich nicht nach oben geschaut, wäre einiges anders gelaufen.
Zunächst hätte ich das kleine Grüppchen Klingelstreichler bemerkt, die sich davonstahlen, um einige Leute aus dem Bett zu holen. "Wie infantil" , hätte ich gedacht, "ich selber würde soetwas ja niemals machen".
Mit einem leisen Lachen hätte ich meinen besten Freund mitten unter ihnen entdeckt und hätte mit ihm wohl eine ganze Menge Quatsch angestellt, doch so ging ich in die Gegenrichtung.
Als ich das Gefühl hatte, von der Straße genug zu haben, ging ich in einen kleinen Waldweg.
Hier war es nun wirklich dunkel, man konnte ja gerade so noch die Schatten von den Bäumen erkennen.
Nach einer Weile jedoch erkannte ich einen winzigkleinen, sich bewegenden Lichtschein.
Er kam von ungefähr daher, wo ich ein kleines Häuschen vermutete, und ich dachte komischerweise an das Märchen von Rotkäppchen.
Jedenfalls war dort ein kleines Lichtchen sichtbar, und es bewegte sich. Meine Neugier war geweckt...
So langsam nähern wir uns dann auch dem Ende, denn von da an ging eigentlich alles sehr schnell.
Mich dem Hause nähernd, vergass ich, dass Diebesbanden oft, wenn sie denn in Banden arbeiten, Schmiere stehen. Dies hatte ich total verdrängt. Ach, hätte ich es nicht.
Vor allem hätte ich es aus unzähligen B-Movies, die sich in meinem Leben schon angesammelt haben, wissen müssen.
So jedoch bemerkte ich den Revolver in meinem Nacken erst nach bemerkenswert langer Reaktionszeit. Zunächst war ich von einem Regentropfen ausgegangen, doch die sind im Allgemeinen eher selten ringförmig...
...ja, lieber Leser, du bist der Auflösung des Rätsels nahe. So langsam solltest du dir denken können, was mir geschehen ist, welcher mittlerweile schon menschliche Akt (oder, in deiner Sicht, perverse Akt menschlicher Handlung) mein Leben verändern sollte. Eine Pistole im Nacken, was folgt in jedem Film darauf ?
"Keine Bewegung und Maul halten, sonst hast du deinen letzten Atemzug getan !" zischte eine Stimme, die ich als die des Besitzers interpretierte.
Dies allerdings- das muss ich hinzufügen- erst, nachdem mir ein so ordentlicher Schreck in die Glieder gefahren war, dass mein Herz wie wild anfing zu rasen, und ich einen Augenblick lang keine Luft bekam.
Ich war in eine Falle geraten!
Ruhig bleiben! Was konnte ich tun? Nicht viel. Entweder das Spiel mitspielen, oder das Risiko eingehen, und mich dieses
eine Mal, nur ein winziges kleines Mal, nicht von meinen Freunden verarschen lassen.
Der eben erlebte Schreck machte langsam Platz für die entschlossene Wut, die sich in mir breit machte.
Klang die Stimme nicht wie die des besten Freundes meines Freundes? Hatten sie so etwas nicht schon oft getan?
"Was, willst du mich erschießen?"
Offensichtlich hatte ich ein Wespennest aufgescheucht, denn dieser Mann mit seinem Revolver ließ nicht mit sich reden, was ich bis zu dem Zeitpunkt nicht gewusst hatte.
So sprach ich ihn dann auch recht respektlos an-ich hielt bis zu dem Zeitpunkt die Geschehnisse für eine Farce, irgendwie unwirklich. Es konnte nicht wahr sein, dachte ich mir, die spielen einen Streich mit dir -das hatten insbesondere die Jungs in meiner Schule schon so oft getan, wie gesagt.
Doch waren Zweifel berechtigt?
"Maul halten, hab‘ ich gesagt !"
Ich gebe zu, ich unterschätzte ihn.
"Wer seid ihr? Bist du das, Michael? Deine Stimme ist aber tief geworden! Und dein Auftreten so chalant."
Er sprang erschreckt einen halben Meter von mir weg. Das hatte er wohl selten gesehen. Ein Mädchen, noch dazu so leicht bekleidet wie ich, das ihm, den Herrscher der Kanone, die Meinung sagte?
Er konnte das unmöglich auf sich sitzen lassen!
Ich hätte niemals gedacht, dass er tatsächlich abdrücken würde. Doch dann tat er es! In diesem Moment ging mir eine ganze Menge durch den Kopf, man kennt das ja: "Das ganze Leben, oh mein Gott!".
Innerlich schrie ich. Nach Außen hin wohl auch. Ich weiß es nicht. Mein Bewusstsein verlor sich im Laufe der folgenden Geschehnisse.
Vielleicht auch mein Leben.
Ich war geschockt. Es war doch einer meiner Bekannten, der mir hier einen Streich spielte? Das war doch nichts anderes als vor zwei Wochen- nur dass ich nicht das Opfer war, sondern eine Schulfreundin.
Mein Leben, weggeschmissen, weil ich einmal frech war? Ich konnte es nicht glauben.
Und doch musste ich. Ich weinte. Schemenhaft konnte ich den Körper meines Mörders erkennen.
Hielt er etwas in den Händen? Eigentlich den Revolver.Es sah eher aus wie-wie Besteck! Wollte er mich etwa fressen? Himmel hilf, bitte nicht!
Es ist erstaunlich, dass ich noch so viele Eindrücke aufgenommen habe.
Vielleicht ist das so, wenn man stirbt.
Ich dachte an meine Familie.
Meinen Freund am Grab, meine Mutter mit einem Weinkrampf.
So sinnlos. Ich höre das Pfeifen der Kugel.
Das Schlimmste am Sterben ist die Emotionslosigkeit. Ich berichte dies fast neutral, und doch würde ich am liebsten heulen-
nur dass ich es nicht kann. Ich habe keine Emotionen mehr, und doch weiß ich, dass ich welche hatte.
Sollte ich so für immer sein? Ich musste mich ablenken-irgendwie.
Ich überlegte, wie man daraus wohl eine Geschichte machen könnte.
Sie sollte so beginnen :
"Zu behaupten, es sei einer jener magischen Partyabende gewesen, an denen alles unwirklich scheint, denn die Luft ist mild und die Stimmung ausgelassen, halte ich für etwas übertrieben.
Sicherlich war die Stimmung gut gewesen - jedenfalls bis ich die Party verlassen habe - aber so richtig mild war es nun auch nicht..."
Rauschen.
Rot beflecktes Rauschen.
Blutrot beflecktes Rauschen.
Diesmal war der Wolf schneller...