- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 15
Myriam und der Hase
Schlacht um Myriam (2.Korrektur)
Die Nugatpraline verfehlte Myriam nur knapp und zerschmetterte stattdessen das Haus direkt vor ihr. Fenster barsten. Überall um sie herum schlugen faustgroße Schokoladestücke lautstark in den staubigen Boden. Dann Stille.
Puh… das war knapp, fast hätte es sie erwischt. Sie blicke sich um, der aufgewirbelte Dreck versperrte jede Sicht. Für einen Moment war sie vor ihm sicher.
Gut, genug Zeit für eine kurze Verschnaufpause.
„Erstens: Ruhe bewahren!“, ermahnte sie sich selbst und atmete tief durch.
„Zweitens: Ausrüstung prüfen".
Was war noch übrig? Hm, Pogo, der Plüschhase mit den Lederhosen. Der hänselnde Junge. Eine Flasche Lebertran. Nicht viel, aber es musste reichen!
„Drittens: Lage erfassen und Position bestimmen“.
Die Lage? Sie wurde von einem übergroßen, pickligen Teenager verfolgt und mit zentnerschweren Pralinés beschossen. Und das alles nur, wegen einer kleinen Unaufmerksamkeit. Aber jetzt war kein guter Zeitpunkt, um sich darüber Gedanken zu machen.
Mit trainiertem Blick erfasste sie die Umgebung: Namenlose Kleinstadt, kein Zeichen von Leben, die Häuser verfallen, teilweise fehlten ganze Viertel, selbst der Himmel war farblos. Alt, alles bereits verblasst, keinerlei Details, hier war kein neues Material zu finden. Sie musste hier weg, schnellstmöglich.
„Viertens: Gegenschlag“.
Instinktiv betrachtete sie zuerst Pogo. Das war ihr Joker, aber um ihn auszuspielen brauchte sie Autos, Fahrzeuge, einen Lkw, einen Bus oder eine Ampel, Fußgängerstreifen, halt irgendwas! Die große Strasse von vorhin, wie weit war sie weg? Schätzungsweise fünf Minuten. Das war machbar. Sie musste nur noch an ihm vorbei.
Lächelnd nahm Myriam die Flasche Lebertran aus ihrer Tasche. So Kleiner, jetzt zeige ich dir mal deine Meisterin.
Sie erhob sich und lief in die Richtung, in welcher sie den Gegner vermutete. Nach wenigen Sekunden konnte sie seine riesige Kontur im immer dünner werdenden Staubnebel ausmachen. Mist, jetzt hatte er sie auch bemerkt. Er setzte zum Schlag an. Kurz vor ihm schlug sie eine Harke nach links und wich mit einem Hechtsprung seiner Faust aus, die, knapp hinter ihren Füssen, krachend den Boden spaltete. Rasch war sie wieder auf den Beinen und gab Fersengeld. Sie blickte über ihre Schulter, der Riese fluchte lautstark.
„Wir wollen dich nicht mehr!“, rief das Ungetüm unbeholfen, „Du nicht mehr die Herrin! Verschwinde! Lass uns allein!“. Er setzte zur Verfolgung an, der Boden erzitterte.
„Ja, irgendwann sicher, aber nicht heute!“, schrie sie zurück, „Noch bist du nicht so weit!“. Sie stoppte abrupt, drehte sich blitzschnell um und schleuderte die Lebertranflasche in einem hohen Bogen direkt in den Lauf des Hünen. Volltreffer! Die Flasche zerplatzte mitten auf seiner Brust. Verwundert hielt der Riese inne und verzog angewidert das Gesicht, als der Gestank des Lebertrans in seine Nase stieg. Einen Augenblick lang war es ruhig, nichts geschah. Hatte sie sich geirrt? Das wäre nicht gut, gar nicht gut!
Nein, da war sie: Tante Erna! In ihrer Rechten einen Löffel, in ihrer Linken die Lebertranflasche. Tante Erna war zwar ein gutes Stück kleiner als das Pickelgesicht, aber immerhin noch fast doppelt so groß wie Myriam. Sofort jagte das senile Weibsbild auf den Riesen zu. „Noch ein Schlückchen für Papilein! Noch ein Schlückchen für Mamilein!“, schrie sie und begann, wie von Sinnen, mit dem Löffel auf den Koloss einzustechen. „Noch ein Schlückchen für Papilein, noch ein …“. Rote Flecken auf seiner Kleidung.
„Schwesterchen, ich liebe dich!“; Myriam begann wieder zu rennen, sie hetzte weiter in Richtung Strasse.
Das war schon mal nicht schlecht, dachte sie zufrieden im Laufen. Sicher, die alte Dame würde ihn nicht allzu lange aufhalten. Er war penetrant, das musste man ihm lassen. Die Zeit genügte aber hoffentlich, um die Strasse zu erreichen.
Sie spürte die Erschöpfung in ihren Beinen. Nicht daran denken! Jede Sekunde Vorsprung zählte. Wie hatte sie nur so unachtsam sein können? Gerade eben war sie noch damit beschäftigt gewesen in den hintersten Ecken nach brauchbarem Material zu suchen, als dieser unflätige Bub einfach in das Zimmer eingetreten ist. Hätte der Idiot nicht anklopfen können? So bekam sie zuerst nicht mit, wie er mit Ihr sprach und davon erzählte, wie leid Sie ihm täte, wie gerne er Ihr helfen würde und was für ein faszinierendes Wesen Sie sei. Das Kind hörte gebannt zu. Als sie ihn bemerkte, war er schon im Vorteil. Billige Pralinen auf dem Tisch hatten ihn wachsen lassen. Dabei hatte sie speziell für solche Gelegenheiten extra eine Mischung an - ein greller Todesschrei durchbrach ihren Gedanken, Tante Erna war nicht mehr.
Myriam blickte nach vorne. Da! Die Strasse! Nur noch ein paar Meter. Das Stampfen des Riesen hinter ihr wurde immer lauter. Sie warf einen kurzen Blick zurück. Dort war er: Definitiv kleiner als vorher - aber immer noch groß genug! Bewaffnet mit der verfluchten Pralinenpackung und bei Weitem näher als ihr lieb war. Er holte auf. Das würde knapp werden! Sie aktivierte ihre letzten Reserven. Auf keinen Fall durfte sie sich von so einem hohlen Möchtegernsamariter vertreiben lassen, denn noch war nur sie alleine dazu fähig, das Unerträgliche ertragbar zu machen!
Schnaubend erreichte sie die Strasse. Er kam immer näher. Keine Zeit mehr. Sie drehte sich um, holte Pogo aus der Tasche und hielt den Plüschhasen gut sichtbar vor ihre Brust.
“Hey Riesenbaby! Na, erkennst du ihn?“, rief sie ihm zu. Der Koloss stoppte, er war jetzt kein fünfzig Meter mehr entfernt.
“Du willst also das Hoppelhäschen?“, höhnte Myriam, „Hier hast du es!“. Sie schmiss Pogo unsanft auf den Asphalt.
Der Riese war verwirrt. Er betrachte zuerst sie, dann den Plüschhasen, dann wieder sie. Sie nutze die Gelegenheit um Distanz zwischen sich und dem Hasen zu bringen. Hauptsache runter von der Strasse.
Immer noch unschlüssig betrachte der Gigant die seltsame Szene vor ihm. Na, nun komm schon Kleiner, Pogo braucht dich! Jetzt endlich setzte der Koloss sich in Bewegung. Er hastete direkt auf den Hasen zu. In der Ferne, vertraute Geräusche. Es klappte!
Sie begann zu zählen:
„Fünf“
Sie konnte es nun deutlich hören, es wurde stetig lauter. Der Riese verstand jetzt auch das ganze Bild. Verzweifelt rannte er noch schneller, immer näher kam er Pogo
„Vier“
Da! Schwarz, Massiv. Es raste heran. Vor ihr auf der Strasse Pogo, hinter ihm der Riese, weit dahinter, eine Schachtel Pralinen, vergessen.
„Drei“
Das Ding rauschte an ihr vorbei, Motorengeräusche veränderten ihre Frequenzen. Er rannte, jetzt hatte er Pogo erreicht. Könnte er es doch schaffen, war er doch stark genug?
„Zwei“
Grelles Hupen. Der Koloss blickte erschreckt auf, Pogo in seinen Armen. Das unerträgliche Quietschen der Bremsen zeriss die Strasse.
„Eins“, Myriam schloss die Augen.
Dumpfes Aufklatschen, ein Geräusch wie von einem Mehlsack, der auf den Boden plumpst. Danach ein helles Klirren, ein kurzes Zischen, Pause, dann ein lauter Schlag. Jeder Ton perfekt wie immer.
Für einen Moment Ruhe, absolute Ruhe. Rauch stieg in ihre Nase und vermengte sich mit dem Geruch von Benzin und verbranntem Gummi. Als sie die Augen wieder öffnete, bot sich ihr auf der Strasse das vertraute Bild des Chaos: Glassplitter mischten sich mit den Resten von Pogo, ringsum Rückstände von Metal und Plastik.
Überall Blut. Alles wie immer.
Nur zwei Dinge waren anders: Dort, mitten im Zentrum der Verwüstung, lag er und kein kleines Mädchen und hinter ihm konnte man den Schatten einer weiteren Person auf der Strasse erkennen. Immerhin, jedes Mal wieder ein kleines Detail mehr. Irgendwann würde sie da liegen, um diesen Schatten mit Leben zu füllen, doch jetzt waren andere Dinge wichtiger.
Der einst so gewaltige Koloss war nun kaum noch größer als Myriam. Blutflecken auf seiner Kleidung, das rechte Bein unnatürlich verdreht, aus seiner linken Schulter ragte nur noch ein blutiger Stumpf. Jetzt war Myriam an ihn herangetreten. „Pogo…“, stöhnte er traurig. Er lebte noch. Respekt. Die picklige Fresse, ja alles Kindhafte an ihm, war verschwunden. Da vor ihr lag ein junger Adonis im Staub, aus dem dreckigen Gesicht blicken sie nun tiefblaue Augen überrascht an. Lange, blonde Haare bedeckten den Asphalt. Makellose weiße Zähne. Ein dünner, roter Faden hing aus seinem Mund. Trotz seines miserablen Zustandes war er schön anzusehen. Das war es also, dachte sie erstaunt, deswegen hatte er solange durchgehalten. Er war ein Prinz. Einer, der die Prinzessin retten würde! Sie lachte, es hätte sie nicht gewundert, wenn gleich ein weißer Wallach wiehernd um die Ecke getrabt wäre. Aber kein Prinz dieser Welt kann dir hier helfen mein Kind, dachte sie traurig, wann wirst du das akzeptieren?
Der Schönling versuchte sich aufzurichten, doch weiter als auf seine Knie kam er nicht mehr. Hass lag jetzt in seinen Augen, er fixierte Myriam und zückte mühsam sein Schwert. Ein letztes Aufbäumen, wie süß! Aber zu spät, Kleiner.
Sie hatte den hänselnden Jungen bereits in den Händen und stellte ihn direkt vor sich. Dieser begann sofort mit seinem vernichtenden Werk. Verzweifelt schlug der Prinz mit seinem Schwert nach ihm. Vergeblich, der hänselnde Junge war viel zu flink und wusste, wie er einen Gegner am Boden zu bearbeiten hatte. Jeder Hieb ein Treffer - Weniger eine Schlacht, als eher ein Schlachten war es.
Vom edlen Retter war nun nichts mehr übrig. Vor ihr wälzte sich nur ein mitleiderregender, schmächtiger Teenager, wimmernd vor Schmerzen, im eigenen Blut. Wie armselig! Der hänselnde Junge setzte den Todesstoss an.
„Geh!“, sagte Sie ruhig, „und nimm deine Pralinen mit, ich brauche weder sie noch dich!“
Es war vorbei.
Erschöpft setzte sich Myriam an einen Stein am Wegesrand.
Sie hob die Erinnerung an den gebrochenen Jüngling vom Boden auf und lies diese zwischen ihren Fingern kreisen. War er einfach verzweifelt auf der Suche nach Nähe gewesen - oder wollte er Ihr wirklich helfen? Konnte oder wollte er keine andere Freundin finden, als jenes verkrüppelte, einarmige Mädchen, welches nun wieder alleine in ihrem Zimmer saß und leise anfing zu weinen? Eigentlich war das egal. Myriam verstaute den gebrochenen Jüngling in der Tasche. Hauptsache neues Material, falls wieder mal ein Hoffnungsschimmer versuchen würde, zu früh und zu unbedacht, die Mauern niederzureißen, welche jedes Gefühl vom Zentrum dieser Welt fern hielten.
Dann kam die Dunkelheit, mit ihr das Meer.
Die aufkommende schwarze Flut verdrängte jede Spur von den Ereignissen auf der Strasse, Wogen des Vergessens umspülten sanft ihren Körper. Myriam wusste, irgendwann würde sie gehen. Eines Tages wäre ihre Tochter bereit, die Mutter dort auf der Strasse endlich sterben zu lassen und sich den Dämonen der Schuld zu stellen. Noch aber war dies ihr Reich, noch war es ihre Aufgabe, alle Wege zur Seele zu verschließen. Sie nahm eine Hand voll Wasser und führte sie zum Mund, es war salzig. Langsam ließ sie den Geschmack des Sieges auf ihrer Zunge zergehen, für den Augenblick war ihr Schützling sicher.