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MyHome
Die Tür fiel hinter Gerrit ins Schloss. Noch etwas orientierungslos blickte er durch den Flur. In knappen fünfzehn Minuten war er mit seinem Hausarzt verabredet und ... er stutzte, in seiner Hand hielt er einen rostigen Eisenring, an dem gut zwanzig Schlüssel klimperten. Über seine Schultern war ein schwerer, nasser Lodenmantel geworfen und um seine Füße bildete sich eine langsam wachsende Wasserpfütze. Außerdem war es zu dunkel. Mit der Linken tastete er vorsichtig nach dem Schatten am oberen Rand seines Blickfeldes und erkannte verwundert einen durchnässten Schlapphut.
"Was zum ...", entfuhr es ihm.
Aus dem Wohnzimmer erklang ein unterdrücktes Lachen.
"Ach, ich hätte es wissen müssen," murmelte Gerrit und warf die Klamotten ungeachtet ihrer Nässe über die Garderobe, "ich darf ihn einfach nicht unbeaufsichtigt an meiner Wohnung programmieren lassen." Aber das war einfacher gesagt als getan, allein dass Daniel schon wieder in seinem Wohnzimmer wartete und sich einen Teufel um die Sicherheitsmaßnahmen gekümmert hatte - und dabei wusste, dass Gerrit ihm nicht böse sein konnte.
Außerdem ist er der Einzige, der mir in der Wohnung hilft.
Noch immer mit dem Schlüsselbund in der Hand, ging er zum Kalender und sah nach, ob der ihm neue Termine vorschlagen würde. Doch keiner seiner Bekannten hatte etwas Neues eingetragen. Gut, sehr gut, dachte Gerrit, er würde eh ein paar Tage für sich selbst benötigen. Hinter ihm klapperte der Briefschlitz und ein Bündel Werbesendungen fiel auf das Parkett. Die erste Sendung öffnete sich automatisch und eine Blondine mit überlangen Beinen und aberwitzig übertriebenen Brüsten sprang ihm in einem transparenten Badeanzug entgegen, ein filigranes Tribalmuster verdeckte gerade so eben ihre intimsten Stellen.
"Hey Süßer, probier aus unser virtuell Swimmingpools und Sexy Strands," plapperte die Blondine los. Bevor Gerrit sich entschließen konnte, wie er den ungebetenen Gast aus seinem Flur schmeißen konnte, explodierte im Stapel eine Spammine. Abertausende Flyer schossen durch die Blondine und tauchten sie in eine Wolke aggressiver Werbebotschaften. Gerrit konnte gerade noch die Arme vor sein Gesicht reißen, bevor auch er eingehüllt wurde. Zwischen seinen Hemdsärmeln hindurch beobachtete er, wie sich die Flyer langsam an Wänden und Einrichtungsgegenständen niederließen und die Gestaltung ihrer Umgebung imitierten. Fassungslos verfolgte er, wie sie sich in unzählige Bilderrahmen, Farbfotos und Notizzettel verwandelten, die nun in seinem Flur verteilt waren. Es würde Stunden dauern sie alle wiederzufinden und zu entsorgen.
"Hunderte nettes Mädchen erwartet dich. Schau dir an mit kostenlosem eintages Probezugang."
Frustriert schmiss Gerrit das Schlüsselbund durch die Blondine an die Haustür.
Draußen hätte ich den Wurf nicht mehr geschafft.
Gerrit trat ins Wohnzimmer, wo ihn sein ältester Urenkel grinsend erwartete. Er hatte beschlossen, das Chaos im Flur erst einmal zu ignorieren.
"Moin Paps, willkommen in der Gegenwart," Daniel blickte sich im Wohnzimmer um und ließ seinen Blick über den Holztisch, das Bücherregal und die indirekt beleuchtete Glasvitrine wandern, "oder besser der aktuellsten anachronistischen Darstellung einer verklärten Vergangenheit."
"Rede keinen Unsinn, Daniel, ich finde es hier gemütlich und es erinnert mich an unsere alte Wohnung. Warum siehst du eigentlich wie ein besoffener Troll aus? Das ist grässlich."
Sein Urenkel betrachtete kurz seine gut zwei Meter große Statur, die quer über das Ledersofa ausgestreckt war und sich aus unzähligen rostigen Rüstungsteilen, wenigen vermoderten Lederstücken und ein paar durchscheinenden grünen Hautfetzen zusammensetzte. Lässig spielte er mit zwei abgeschlagenen Zwergenköpfen an seinem Gürtel.
"Orkkrieger, kein Troll. Wo ich doch die Waffen extra draußen gelassen habe," maulte er, "und vergiss nicht, immerhin hat eure Generation 'Die ewige Schlacht' erfunden, das spielen mehr als eine Milliarde aktive Charaktere."
"Ich habe ja auch nie den Fehler gemacht zu behaupten, damals sei alles gut gewesen, Daniel."
"Nicht Daniel, Ogh-Arkn-Tsa in diesem Skin, Hordenführer der 132ten Stufe."
"Dann herzlichen Glückwunsch großer Krieger," Gerrit lächelte schmal, "hast du in der wirklichen Realität eigentlich die einsfünfzig schon geschafft?"
"Du bist böse Paps. Meine chaosgeweihten Waffen werden meine Ehre fürchterlich rächen. Übrigens, die Blondine hättest du auch gerne mit reinbringen können, Ogh-Arkn-Tsa ist immer auf der Suche nach fetter Beute."
"Silikon, kein Fett, beziehungsweise Pixel, kein Silikon, aber für diese Diskussion bist du eindeutig noch zu jung," Gerrit blickte über seine Schulter in den Flur, "hast du zufällig ein Programm, mit dem ich den Mist aufräumen und den Posteingang versiegeln kann?"
Wie kann ich es ihm wohl erklären?
Daniel starrte abwesend ins Leere.
"Daniel?", Gerrit winkte mit der Hand vor Daniels Augen, "Hey Daniel!"
Der Orkkrieger schreckte auf. "Oh, entschuldige bitte, ja kann ich mich mal drum kümmern. Aber die WorldNet Games beginnen gleich, ein Kumpel hat einen Kontrollkanal des öffentlich rechtlichen Product Placement Departments geknackt, leider nur eine statische Kamera, aber immerhin live dabei."
"WorldNet Games?"
"SoccerPro, die haben in der letzten Saison neue Tricks entwickelt, einfach spektakulär. Hier, schau!" Daniel öffnete ein dreidimensionales Fenster. Kurz konnte Gerrit einen Blick auf seine Workbench erhaschen, hunderte von Displays und Monitoren hingen schwerelos in einem weit geschwungenem Halbkreis, dann schoss ein Bildschirm in den Vordergrund und sie blickten auf einen saftig grünen Fußballplatz. Zwei Orchester spielten gerade die Erkennungsmelodien der Teamsponsoren. Im Hintergrund spielten sich die Clans warm. Thomas sah Saltos und Überschläge, unmögliche Sprung-Doppelpässe und Torschüsse.
"Echte Pro!", kommentierte Daniel.
"Professionals?"
"Programmer. Die Matchengine und die Spielphysik dürfen sie natürlich nicht ändern, aber die gescripteten Special Moves und Defense Actions - einfach Weltklasse."
"Das soll also Fußball sein?"
Daniel sah ihn entrüstet an, "Paps, dass sind WorldNet Games, deine alte Firlefanz Fifa ist tot. Aber ich muss jetzt los, meine Kumpels warten."
"Gut, aber warte noch kurz, ich ... "
"Tut mir Leid, aber ich muss wirklich weg, ich besuche dich wieder."
"Gut, Daniel," doch der Junge war schon längst verschwunden.
Er saß alleine in seinem Wohnzimmer.
Hätte er es verstanden, wenn ich es ihm erzählt hätte?
Gerrit hatte angefangen im Flur aufzuräumen als es an der Haustür läutete. Er drückte sich möglichst weit an der Blondine vorbei, der er zumindest den Ton hatte abdrehen können und blickte durch den Türspion. Draußen stand sein Hausarzt in lockerer NetGolf-Freizeitmontur, Gerrit öffnete die Tür.
"Guten Tag Dr. Schmidt, treten Sie ein," begrüßte Gerrit den knapp fünfzig Jahre jungen Mann, der in der Realität wie Anfang dreißig wirkte und sich hier im Netz als knappe zwanzig ausgab.
"Moin Gerrit, es geht Ihnen wieder besser, oder wie soll ich die Dame und den 'paperdoll.world-Button' verstehen?"
"Den was?", Gerrit blickte an seinem Hemd hinunter, "ach so, verflixt, das Zeug ist aber auch überall." Er riss den Button ab und schmiss ihn in den Mülleimer. Mit einem scharfen Zischen löste sich die Werbung auf.
"Und die Dame werde ich leider gerade nicht los, sie passt einfach nicht in den Mülleimer. Der Formen wegen, ach, ignorieren Sie sie bitte."
"Schon gut Gerrit, so eine Spamattacke trifft jeden von uns. Ich wollte eh nur eine Sekunde reinschauen, ich muss gleich weiter, der Club eröffnet ein neues Paar 68 Loch."
"Äh, ja, Sie haben den neuen Bericht des Heimarztes erhalten?"
"Ja, ja, machen Sie sich keine Sorgen Gerrit," der Doktor klopfte ihm beruhigend auf die Schulter, "der üblich Kram, keine nennenswerten Abweichungen. Ich gehe da bei Gelegenheit noch einmal im Detail durch, aber, wie gesagt, machen Sie sich keine Sorgen."
"Ja, aber ... "
"Schon gut, mein Bester, ich muss wieder los. Wir sehen uns nächsten Monat in der Sprechstunde?"
Der Doktor gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, drehte sich um und ging aus der Tür. Auf dem Rücken seiner Freizeitjacke meinte Gerrit kurz den Äskulapstab als Logo erkennen, in Form einer Schlange, die sich mehrmals um einen Golfschläger wand. Die Haustür schloss sich und er stand wieder alleine im Flur.
Ich habe den Bericht gelesen, ich weiß seit gestern, dass ich Krebs habe.
Etwas unschlüssig ging Gerrit zurück ins Wohnzimmer, er fühlte, wie der Schock der Diagnose wieder spürbar wurde. Er setzte sich auf das Sofa, nahm das Telefon und ließ nachdenklich die Adressen durchlaufen. Schließlich gab er sich einen Ruck und wählte die Nummer seines Sohns. Die Verbindung wurde lautlos hergestellt und ein Standardfenster öffnete sich über dem Tisch. Wehmütig erkannte Gerrit die Terrasse über dem Meer und die Sonnenliegen an der hölzernen Brüstung. Die Kamera zoomte bis auf eine Armlänge an die vorderste Liege heran, sein Sohn lag darauf in der Nachmittagssonne. Ein leises Klingeln wies ihn auf die wartende Verbindung hin.
"Ach, hallo Paps." Er drehte sich auf seinen Ellenbogen und lächelte strahlend in die Kamera.
"Hallo Sohn, schön dass ich dich erreiche, ich ..."
"Leider bin ich gerade nicht erreichbar. Hinterlasse doch einfach kurz eine Video-Nachricht und ich melde mich dann sofort, wenn die Arbeit es zulässt." Sein Sohn, besser, die Aufnahme seines Sohnes starrte erwartungsfroh in die Kamera.
"Ähm, ja. Hallo. Ich wollte," Gerrit stockte, "ich wollte nur mal so hören, wie es euch geht. Ich melde mich dann später noch einmal. Tschüss."
"Tschüss Gerrit, vielen Dank für deinen Anruf. Ich erwische dich schon."
Und damit war die Verbindung unterbrochen.
Wirst du dich wirklich melden?
Gerrit saß auf dem Sofa und dachte kurz nach. Aber es fiel ihm nichts weiter ein, was ihn hier noch halten würde. Mit dem Gefühl der Enttäuschung im Magen erhob er sich und ging durch den Flur. Er zog die Haustür hinter sich zu und schloss die Tür mit dem klappernden Schlüsselbund ab. Danach dreht er sich langsam um und blickte in die endlosen Weiten des Netzes - und loggte sich aus. Vorsichtig richtete Gerrit sich im Datensessel auf, seine Hüfte schmerzte und die Hände zitterten noch stärker als sonst. Er brauchte einen Moment, um die Umgebung zu erkennen. Lange betrachtete er das Anschluss-Set, den Sessel und die klinisch weiß gestrichenen Wände. Er fühlte sich müde.
Und leer.