My Heart will go on
Ich liege im Bett und denke über Karl Marx nach. Draußen applaudiert kühler Regen. Da ich letzte Nacht vergessen habe den Vorhang zu zuziehen, kann ich durch das Fenster verschwommen sich im Winde wiegende Bäume sehen. Unzählige kleine Regentropfen mäandern sich von außen mein Fenster hinab und die Stille ist durchsetzt mit der ernstfrohen Musik rauschenden Windes und der des Regenprasselns. Mein kleiner Digitalwecker auf dem Nachttischchen zeigt 09:34 Uhr. Samstag. Karl Marx feiert seinen 200. Geburtstag. In seiner Heimatstadt Trier wurde eine Bronzestatue enthüllt, geschaffen von einem chinesischen Künstler. Die AfD veranstaltet einen Schweigemarsch unter dem Motto „Marx vom Sockel holen“ wogegen wiederum die Linken demonstrieren. Verfolgte Chinesen, junge Katholiken, Tierschützer und Hebammen protestieren auch für irgendwas. Im ehemaligen Marxschen Wohnhaus befindet sich heute ein Ein-Euro-Discounter. Was für eine unfreiwillig ironische und irrwitzige Pointe!
Ich lasse diesen Gedanken vorbei ziehen. Neben mir leises Rascheln. Eine kurze Bewegung. Ich wende meinen Blick vom Fenster ab und beobachte sie. Mein Blick ist gefangen und gleichzeitig befreit. „Dein Herz ist mein Ankerzentrum! Du bist mein Fixstern am Horizont dieser verwirrenden und wüsten Welt!“ denke ich. Im trägen Licht erkenne ich die weichen und doch wohl und klar definierten Züge ihres Gesichts. Der kleine Tragus-Ring an ihrem Ohr. Die trotz tiefen Schlafs leicht geöffneten Augen. Die Haarsträhne, die auf ihrer Stirn ruht und die Andeutung von Grübchen in ihren Wangen. Ihr leises, rhythmisches Atmen vermischt sich mit dem feinen Rauschen des Windes und dem Prasseln des Regens zu einer mich ganz ausfüllenden Lebensmusik. Ich möchte jetzt augenblicklich auf Pause drücken. Das Leben anhalten. Den Moment konservieren. Einfach hier in meinem Bett, in dieser traumgleichen Kulisse liegen bleiben. Ich könnte mir nichts Schöneres und Erfüllenderes vorstellen!
Aber das Leben verlangt nun mal nach Fortsetzung. Ich schäle mich aus dem Bett und versuche dabei so leise wie möglich zu sein, um ihren friedlichen Schlaf nicht zu stören. Nachdem ich mich ins Badezimmer geschlichen habe, putze ich mir die Zähne und starre dabei abwesend in den direkt vor mir befindlichen Spiegel.
Gestern war Herrenrunde. In unregelmäßigen Abständen wird sich getroffen und amtlich amüsiert. Aber nicht einfach so. Es gibt Regeln. Wenn auch nur wenige: Es wird Dosenbier getrunken (kleine sentimentale Huldigung an die Jugend). Es wird gute Musik aufgelegt (Vorzugsweise Punkrock. Vorzugsweise Vinyl). Frauenintegration findet an diesen Abenden nicht statt. Es ist immer wieder schön, sich alte Geschichten von längst vergangenen Zeiten zu erzählen und dabei die Bierdosen aneinander klatschen zu lassen, während im Hintergrund die Schallplatte den Soundtrack dazu liefert. Die Wirkungsstätte unserer Anekdotenrunden variiert bei jedem neu angesetzten Termin. Jeder ist mal Ausrichter. Dabei werden die Ansprüche an die eigene Planungsfähigkeit mit fortschreitendem Alter immer höher. Ohne Terminplaner und To-Do Listen, völliges Versagen der persönlichen, inneren Strukturgebung. In der Jugend war Planen ein Fremdwort. Kein Internet. Kein Mobiltelefon. Kein WhattsApp. Kein Terminkalender. Nur kurzes, auf Übermittlung der wichtigsten Daten beschränktes Telefonieren:
„Der Steff hat heut Abend sturmfrei!“
„Geil! Dann lass uns um acht vorm Spar treffen, Bier kaufen und dann da hin latschen.“
„Alles klar! Bis später.“ Tut-tut-tut.
Es war eine Zeit, in der die Tätigkeit „leben“ intensiv betrieben wurde. In der man das Meiste unmittelbar und ohne technische Umwege wahrnahm. Wenn die Kids heute auf ein Konzert gehen, sind sie mehr damit beschäftigt, an ihren Smartphones rum zu nesteln, um Fotos oder Videos zu machen und direkt zu verschicken, als die Schönheit und Intensität des Augenblicks da vorne auf der Bühne überhaupt richtig und ungefiltert wahrzunehmen. Schnittstellenfrei.
Wir erinnern uns gemeinsam an eine bestimmte Party. Auf Festivitäten gab es ein ungeschriebenes Gesetz: Wer Alkohol-induziert einschläft, wird angemalt. Gnadenlos. Nico wurde sehr oft angemalt. Eigentlich regelmäßig. Er hatte nun mal die von uns schamlos ausgenutzte Gabe, von einer Sekunde auf die andere, in einen wie von einem Hypnotiseur herbeigeführten Tiefschlaf zu verfallen. Man hätte ihn kopfüber bei Rock am Ring auf der Center-Stage aufhängen können, während Slayer „Raining Blood“ intonieren. Er hätte selig weiter geschlummert. Einmal ging er von besagter Party am nächsten Tag alleine nach Hause. Sehr verkatert schlurfte er teilnahmslos und träge durch die Straßen. Ihn quälte der oft zitierte Nachdurst. Er kam zufällig an einer Pizzeria vorbei und wollte dort etwas Trinkbares in Form einer Cola erwerben. Stattdessen drückte ihm der Verkäufer erst mal wortlos einen nassen Waschlappen in die Hand. Er ging auf die Pizzeria-Toilette und starrte mit seinen müden und rot geäderten Augen in den Spiegel. Nico mit Adolf Hitler Gedächtnis-Bärtchen starrte zurück. Verschämt wischte er die Spuren der letzten Nacht aus seinem Gesicht, trottete zurück zum Verkäufer, tauschte Waschlappen gegen Cola, bezahlte und verließ gedemütigt wie nach der Prostata Untersuchung beim Urologen den Laden.
Bei einem Punk-Konzert im städtischen Jugendzentrum übermannte ihn der Schlaf noch vor Beginn der Musikaufführung direkt im Eingangsbereich. Er saß neben dem Eintrittsgeld kassierenden und im Gegenzug Stempel auf Handoberflächen drückenden Veranstalter auf einem Stuhl. In sich zusammen gesunken lungerte er da rum und der Kassierer machte sich einen Spaß daraus, nach jeder abgestempelten Hand ihm auch einen Stempel aufs schlafende Gesicht zu verpassen. Nach halbstündigem Powernapping stand er ohne etwas bemerkt zu haben auf und kam sich den ganzen Abend seltsam beobachtet vor, bis ihn der Harndrang zur Toilette lotste. Auch hier wieder eine eindrückliche Spiegel-Erfahrung. Diesmal kein dezenter Hitler Gedächtnis-Bart, sondern die ganze Visage übersät mit unzähligen Stempel-Abdrucken des JUZ-Konterfeis. Sah aus wie eine akut behandlungsbedürftige Hautkrankheit. Wurde von ihm aber mit stoisch besoffener Gelassenheit hingenommen. Er genoss sogar die ihm entgegengebrachten, irritierten Blicke der anderen Konzertbesucher. Seit dieser eindrücklichen und seinem narzisstischen Charakter sehr entgegenkommenden Erfahrung, denkt er ernsthaft über die für ihn egotherapeutische Maßnahme einer Gesichtstätowierung nach.
„Geht’s dir gut?“ höre ich auf einmal hinter mir. Ich habe sie gar nicht bemerkt in meiner Gedankenverlorenheit. Sie steht da im Türrahmen und schaut mich an. Nur bekleidet mit einem alten Tomte-Shirt von mir. Das mit dem Herz und dem umgedrehten Kreuz auf der Brust. Ich stehe immer noch am Waschbecken vor dem Spiegel. Aber jetzt ihr zugewandt. Ich gehe langsam auf sie zu, blicke durch die Eingangspforte ihrer Augen ganz tief in sie hinein und lege vorsichtig ihre Hände in die meinen. „Komm lass uns noch was ins Bett gehen“ flüstere ich ihr ins Ohr. Sie schweigt und lächelt ihr gütig melancholisches Lächeln. Eng umschlungen gehen wir zusammen zurück ins Schlafzimmer, in diese zeitlose Raumkapsel. Ich ziehe die Vorhänge zu und wir legen uns ins warme Bett. Gemeinsam liegen wir da, in dieser schaurig-schönen und verheißungsvollen Dunkelheit, in tiefer, gegenseitig verschaffender Gewissheit, hören zu, was Wind und Regen zu erzählen haben und überlassen die Zeit ihrem Schicksal.