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Mutters Erbe
Nie zuvor hatte Soon etwas gesehen, das so viel Lebendigkeit ausstrahlte und doch so todbringend war. Die Wiege des Lebens, der Ursprung allen Seins, die Mutter der Menschheit. Einst, vor langer Zeit, hatte diese mit angesehen, wie sich ihre Kinder gegenseitig das Leben genommen hatten. Die Gier nach ihrem Erbe hatte sie vergessen lassen, dass sie Brüder gewesen waren. Sie waren sich immer fremder geworden, die Fremde hatte Angst, die Angst hatte Hass geschürt und schließlich war vergiftende Verachtung an die Stelle der Menschlichkeit getreten. Am 25. Dezember 2043, um 00.52 Uhr asiatischer Zeit war die erste Bombe gefallen, unzählige weitere waren noch in derselben Nacht gefolgt. Innerhalb weniger Stunden waren aller Herren Länder in Flammen gestanden und der Mensch hatte zerstört, was zu errichten ihn Jahrtausende gekostet hatte.
Einige Wenige, darunter Soons Vorfahren, hatten sich retten können. Unterirdische Tunnelsysteme waren bereits zu Anfang der Jahrtausendwende angelegt worden, um den Wohlhabenden im Falle einer Katastrophe Schutz zu bieten. Tief unter der Erde hatten die besten Ingenieure Amerikas, Asiens und Europas eine Art Arche entworfen. Ein Raumschiff, welches genug Platz geboten hatte, um knapp die Hälfte aller Überlebenden zum Mars transportieren zu können. Unmittelbar vor dem Start war es zu blutigen Aufständen gekommen, denn die Überlebenden, die keinen Platz in dem Raumschiff gefunden hatten, waren zurückgelassen worden.
Von den Passagieren war das Schiff später auf den Namen „Nula“ getauft worden, was kroatisch war, Null bedeutete und so einen Neuanfang symbolisieren sollte. Zahlreiche Sprachen wie etwa Kroatisch wurden längst nicht mehr gesprochen, es waren nunmehr tote Sprachen. Zuhause, auf dem Mars sprach man eine vereinfachte Form des Mandarin-Chinesisch. Nur die Wenigsten beherrschten noch die Sprachen ihrer Ahnen und wenn, dann meist sehr bruchstückhaft. Einzelne Worte, selten ein Sprichwort oder ein Gebet. Die ersten Dekaden der Marskolonien waren schwere Zeiten für die überlebenden Siedler gewesen. Sie waren es gewohnt ihre Leben als Erdenmenschen zu führen. Sie hatten sich nach der Natur gesehnt. Nach Bäumen (Pflanzen, die bis zu 120m hoch sein konnten) in einer solchen Fülle, dass sie täglich Unmengen davon gefällt hatten, um Häuser (Behausungen, in denen oftmals eine einzige Familie wohnte) zu bauen, oder, was unglaublich für Soon war, um sie zu verbrennen, um so Wärme zu erzeugen. Sie hatten das Wasser vermisst, welches nicht knapp gewesen war, nicht erst durch Kondensierung und andere Aufbereitungsvorgänge wieder genießbar geworden war, sondern jeder Zeit, an nahezu jedem Ort, in einer solchen Menge vorhanden gewesen war, dass man es verschwendet hatte. Die Erdenmenschen hatten sich mehrmals täglich gewaschen, nicht nur sich, auch ihre Häuser und Autos, sogar ihre Tiere hatten sie gewaschen, hatten das Wasser verschüttet, hatten damit den Fußboden, die Fenster, einfach alles geputzt, denn sie hatten Meere davon besessen, große tiefblaue Meere, die sich über drei Viertel des Planeten erstreckt hatten. Es war sprichwörtlich vom Himmel gefallen, das Wasser. „Regen“ hatten sie das genannt. Die Ironie an der Sache mit dem Regen war, dass die Erdenmenschen ihn wohl gehasst hatten. Für Soon klangen diese Geschichten fantastisch, fast schon albern, doch mit Erzählungen wie diesen war sie groß geworden. Sie wurden von Generation zu Generation weitererzählt. Sie sollten Hoffnung geben und die Marsmenschen anspornen, nicht aufzugeben. Oft hatte ihr der Großvater, dessen Urgroßvater ein Erdensohn gewesen war, gesagt: „Kleine Soon, du musst durchhalten, du darfst niemals aufgeben und wenn du Glück hast, wirst du es erleben, wie wir die Heimat wieder betreten.“
Je älter sie wurde, desto klarer wurde ihr, dass sie es aller Wahrscheinlichkeit nach, niemals erleben könnte, wie das Kind Menschheit zurück in den Schoß seiner Mutter Erde fände. Erste Schätzungen über die Bestände der Strahlung in der Erdatmosphäre beliefen sich darauf, dass die Halbwertszeit Jahrtausende betrüge. Dennoch, Soon war fasziniert von der Vorstellung, ihren Teil zur Heimkehr beizutragen, ihr Leben der Erdenforschung zuzuschreiben und durch harte Arbeit und viel Glück einmal kleine Fortschritte erzielen zu können.
Nun war sie im Begriff dazu. Sie war unter vielen Hunderten Anwärtern ausgewählt worden, die Reise zur Erde anzutreten. Wie Soon in ihrem Shuttle um die Erdumlaufbahn rotierte, ihr Ziel aus nächster Nähe bestaunte, war sie verwundert, wie friedlich, wie ruhig die Erde wirkte. Fast so, als sei nichts geschehen, als sei alles gut. Der Anblick des blauen Planeten war überwältigend und ließ ihr die Farbe aus dem Gesicht entweichen, ließ sie trauern und hoffen zugleich. Sie selbst – die blassen Wangen, ihr langes, tiefschwarzes Haar und ihre weit aufgerissenen, dunkelblauen Irides – spiegelte sich in der Glasscheibe des Cockpits. Ihr eigenes Abbild legte sich so vor ihren Augen über die Mutter ihrer Ahnen, über ihre nahezu grenzenlosen Meere und Länder. Sie dachte an die Worte ihres Großvaters und dass, so Gott wollte, wieder zusammenfände, was zusammengehörte.
Es war ihr zur Aufgabe gemacht worden Proben einzusammeln. Erd-, Wasser-, Eis-, Luft- und Gesteinsproben, die in den Laboren der Marskolonien untersucht werden sollten. Die Wissenschaftler hatten Soon drei große Ziele vorgegeben. Am ersten Ziel, dem Nordpol, sollte sie Eis- und Wasserproben entnehmen. Anschließend sollte sie sich nach New York begeben, um dort Luft- und Gesteinsproben zu kollektivieren. Ihr drittes und letztes Ziel waren die tropischen Wälder des Amazonas, wo sie eine Erdprobe sammeln sollte. Oftmals bezeichneten die Marsmenschen diese Wälder als den Garten Eden der ersehnten Heimat, wie Soon jedoch recherchiert hatte, hatten die Erdenmenschen diese Urwälder keineswegs gewürdigt, sie hatten sie ausgebeutet. Viele Tier- und Pflanzenarten waren dort täglich ausgerottet worden, man hatte damals vom großen Waldsterben gesprochen.
Ihr Shuttle, die „Moth01“, war klein und unscheinbar, ausgelegt für eine Person, aber auch nicht unkomfortabler, als es ihre Räumlichkeit auf der Marskolonie war. Es verfügte über spezielle Bohr- und Greifarme, mithilfe derer Soon die jeweiligen Proben entnehmen konnte. Das Verlassen der „Moth“ war ihr dabei strengstens untersagt worden, da sie sich, so die Wissenschaftler, von den Folgen der Strahlung, für den Rest ihres Lebens nicht wieder erholen würde.
Was den Reiseproviant anging, hatten ihre Ausstatter keine Kosten gescheut. Echte Bohnen, Paprika, Kartoffeln und Kräuter in Mengen, dass ein fünfköpfiges Luftfilteranlagenreparaturteam davon satt geworden wäre, standen ihr zur Verfügung. Soon erinnerte sich an die Erzählungen des Großvaters vom Jagen, Schlachten und Massenhalten der Tiere auf Erden. Über den Hunger hinaus und aus purer Lust hatten die Menschen das Fleisch ihrer Tiere verzehrt. Muskelfasern, aber auch Herzen und Hirne, Zungen und Lungen der Tiere hatten sie sich einverleibt, ohne dabei den geringsten Ekel zu empfinden. Zuhause auf dem Mars hatte man weder die nötige Nahrungskapazität, ein Tier aufzuziehen, nur um es anschließend zu verspeisen, noch hatte man das Verlangen.
Bei dieser unvergleichlichen Aussicht war Zeit ohne Wert und Soon hätte noch stundenlang in Gedanken schwelgen können, doch sie war hier, um ihren Auftrag, ihre Mission zu erfüllen. Sie zückte ihre Kamera und fotografierte die Erde, ehe sie ihre Reise fortsetzte.
Beim Eintritt in die Erdatmosphäre schlug ihr Herz immer stärker – nicht schneller, es klopfte langsam und druckvoll – gegen ihren Brustkorb. Dieses Manöver hatte sie während ihres Trainingprogramms etliche Male erfolgreich simuliert, nur selten war sie gescheitert. Nun allerdings floss ihr der kalte Schweiß von der Stirn, jede Sekunde, jeder Handgriff entschied über Erfolg oder Niederlage, Leben oder Sterben. Diese Landung, wurde Soon bewusst, hatte mit der Simulation wenig gemein. Die äußere Verkleidung glühte, drohte zu brechen, der schrille Ton, der durch Reibung mit der dichter werdenden Atmosphäre entstand lähmte und Soon spürte, wie ihr Blut druckvoll, heiß bis in die Schläfen pulsierte. Im Augenwinkel sah sie, wie die Funkantenne von der rechten Tragfläche abbrach, kümmerte sich jedoch nicht darum, sondern klammerte sich an den Steuerknüppel, denn dieser war der seidene Faden, an dem ihr Leben nun hing.
Der Flug der „Moth“ stabilisierte sich endlich. Soon wusste, mit diesen Turbulenzen hatte sie vorerst den schwierigsten Teil ihrer Anreise hinter sich gebracht. Sie flog nun 45.000 Fuß über der Erdoberfläche. Die Welt lag ihr zu Füßen. Es fiel ihr schwer unter diesen Umständen, diesen Eindrücken des Privilegs, welches einzig und allein ihr zuteilgeworden war, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen; aber sie musste.
Soons Reise war die erste Unternehmung dieser Art und so setzten all die Marsmenschen ihre Hoffnung in ihr Gelingen, indes galten all deren Ängste einem Scheitern derselben. Es würde – so sagten ihr die Wissenschaftler – ein kleiner Schritt für sie, aber ein großer Schritt für die Menschheit.
Sogenannte Wolken (Ansammlungen feinster Wassertröpfchen) verwehrten Soon die Sicht aus dem kleinen Cockpit der „Moth“. Je weiter sie sich der Erdoberfläche näherte, desto dünner wurde das Weiß der Wolken. Konturen der Kontinente bildeten sich heraus, wurden klarer, bis sie sich in vollsten Farben – Grau-, Grün- und Brauntönen in jeglicher Variation – offenbarten. Ihr erster Eindruck, die Erde hätte sich schneller erholt, als die Wissenschaftler der Marskolonien erwartet hatten, bestätigte sich zunehmend.
Soon traute ihren Augen nicht. All das Lernmaterial, all die Videos und Abbildungen, all die von Generation zu Generation weitergereichten Sagen und Legenden über die Erde und ihre überwältigende Natur konnten diesem Anblick nicht im Geringsten irgendetwas vorweg genommen haben.
Der Himmel auf Erden erschien in strahlendem Blau, die Wolken leuchteten matt-golden, schien die Sonne durch sie hindurch und lediglich ein paar vereinzelte Lichtstrahlen bahnten sich hier und dort den Weg durch die kleinen Schlupflöcher der dichten Wolkenwände bis auf Grund und Boden dieser paradiesischen Welt. Auch das Meer, das scheinbar endlose Meer schien blau, reflektierte es doch den cyanfarbigen Himmel. In östlicher Ferne lagen Europas Küsten. Soon bestaunte sehnsüchtig die blassen Silhouetten der Berge und Hügel, doch es war ihr verwehrt, diese anzusteuern, denn die Energie der „Moth“ war begrenzt, ihre Ziele festgelegt.
Das erste von Menschenhand errichtete Bauwerk, auf das sie stieß, war eine Bohrinsel (Posten, die im Meer errichtet wurden, um Treibstoff aus den Erdschichten zu fördern). Die schäumenden Wellen trafen wieder und wieder, sanft, doch beständig, die vom Rost fast vollständig zerfressenen Stahlpfeiler. Soon drängte sich der sonderliche Gedanke auf, dass diese alten Pfeiler nicht mehr lange standhielten und dass, wenn sie brächen, ein Indiz weniger auf die einstigen Bewohner dieses Planeten hinwies. So, dachte sie, würde es wohl auch irgendwann mit dem letzten Stein, der je durch Menschenhand auf einen anderen gemörtelt wurde, geschehen und es würde sein, als hätte sich die Evolution nie mit der Krone ihrer Schöpfung gerühmt.
Das Farbenspiel des Horizontes, der goldenen Wolken und des blauen Himmels verlor allmählich an Pracht, wurde ärmer und grauer, denn während sich der Tag seinem Ende neigte, näherte sich Soon der kalten, nördlichen Hemisphäre.
Die „Moth“ war schnell, trug sie in Windeseile über tiefes Meer, weites Land und hohes Gebirge. Die ersten Gletscher leuchteten schwach in hellem Türkis und erstreckten sich über Weiten, welche das bloße Menschenauge nicht zu erfassen im Stande war. Als erste Vorboten des Nordpols ragten kantige Eisberge wie Türhüter aus dem Meer und streckten sich dem vollen, weißen Mond entgegen, so als beteten sie ihn an, so als hielten sie ihn für ihren fernen Vater.
Im blass-grauen Schein des Sternenhimmels verglich Soon ihre beiden Heimaten miteinander. Der Mars, dessen rote Farbe scheinbar Lebensfeindlichkeit signalisierte, auf dessen trockener Oberfläche sie und ihresgleichen schon seit über zwei Jahrhunderten verbissen um den bloßen Atem rangen und die Erde, so reich an vielfältigstem Leben, dass ihr kein Planet des Sonnensystems das Wasser hätte reichen können, waren sich hier, am Nordpol, in dieser Wüste aus Eis, gar nicht so uneins gewesen.
Soon aktivierte den Bohrer der „Moth“, um anschließend mit dem Greifarm ihre erste irdische Probe einzuholen. Die Eisprobe entnahm sie aus 50 Metern Tiefe. Alles verlief, wie erwartet problemlos denn auch diesen Vorgang hatte sie unzählige Male simuliert und mit Bravour abgeschlossen. Für die nächste Probe, die sie sammeln sollte, die Wasserprobe, begab sie sich über nächstgelegenes Meer und bediente, trotz der nächtlichen Dunkelheit, routiniert den mechanischen Greifarm.
Die nächtliche Stille am Ruhepol der Welt wurde plötzlich gebrochen, als die „Moth“ ruckartig ins Schwanken geriet. Soon wurde aus ihrem Sitz geschleudert, stieß sich die Stirn an den Armaturen und verlor das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich kam, hatte sich das Shuttle längst wieder ausbalanciert und schwebte ruhig über den nordischen Gewässern. Zögernd wagte Soon einen Blick aus dem Cockpit.
In dieser Nacht, der Nacht des 7. Oktobers 2286, am Nordpol der Erde wurde Soon, die Hoffnungsträgerin tausender Marsmenschen, Zeugin eines wahrhaftigen Wunders. Ein Dutzend Blauwale (mit einer Länge von bis zu 35m die größten Tiere, die je auf Erden lebten), darunter Riesige, wohl Ausgewachsene und auch Jungtiere, ließen sich in aller Ruhe an der Oberfläche des tiefschwarzen Meeres treiben und pressten heiße Luftfontänen aus ihren Blaslöchern, von denen die „Moth“ wohl kurz zuvor aus dem Gleichgewicht gebracht worden war. Diese einst gefährdete Art schien sich durch nichts in der Welt gestört zu fühlen. Selbst den Antrieb und die hellen Scheinwerfer der „Moth“ fürchteten diese Kolosse nicht. Allem Anschein nach hatten sie die Katastrophe im Schutz der Tiefen überlebt und beherrschten nun rechtmäßig die Ozeane. Soon dokumentierte diese Entdeckung mit ihrer Kamera und lauschte, nachdem sie die Wasserprobe entnommen hatte, noch Stunden den Liedern, die ihr die Wale in hohen Tönen und dem Rampenlicht des Mondes vortrugen.
Am nächsten Morgen manövrierte Soon das kleine Shuttle entlang der Küsten des Festlandes – Grönlands und Kanadas – dem zweiten Ziel ihrer Reise entgegen, – New York City. Als einstige Metropole und Herz der Welt hatten sie die Erdenmenschen „Die Stadt, die niemals schläft“ genannt. Soon hatte gelesen, dass ihre Bewohner, die New Yorker, stolz auf ihre Herkunft gewesen waren. Für die Menschen auf der ganzen Welt war New York ein Ort gewesen, den man einmal im Leben gesehen haben sollte.
Soons Vorfreude auf diesen Ort war, wie sie enttäuscht zur Kenntnis nehmen musste, keinesfalls berechtigt gewesen. Die hohen Betonbauten, welche die Menschen im Größenwahn als „Wolkenkratzer“ bezeichnet hatten, waren nur noch in die Brüche gegangene Relikte längst vergangener, besserer Zeiten. Viele, darunter auch das „One World Trade Center“ (2013-2043 New Yorks höchstes Gebäude), lagen eingestürzt in Schutt und Asche. Die meisten dieser, von Menschenhand errichteten Bauten, hielten sich nur noch auf ihren puren Stahlträgerkonstruktionen und erinnerten Soon hier und da verkleidet mit Bruchstücken der Außenwände, an erbärmliche Skelette Hungertoter. Sie hatte schon in der Schule gelernt, dass die Städte, die Orte mit dichten Bevölkerungsraten, im Letzten Weltkrieg Primärziele der Bomben gewesen waren, nun sah sie mit eigenen Augen, was dies bedeutete.
Während Soon Luft- und Gesteinsproben sammelte, wirkte sich der Eindruck dieses zu dunklen Ruinen gewordenen Ortes immer bedrückender auf ihr Gemüt aus. In der Ferne glaubte sie einen einsamen, weißen Vogel zu erkennen. Er rastete auf einem rostigen Pfeiler, der schräg in die Luft ragte und warf seinen starren Blick auf die Moth, in die tief blauen Augen Soons. Er bannte Soon und gerade als sie sich fragte, ob auch der Vogel so etwas wie Neugierde empfand, flog er davon. Der weiße Vogel war der alleinige Erbe, ihm allein gehörten nun diese brüchigen Verweise auf die einstige Hochkultur. Gefühle von Trauer, von Wehmut, Reue und Verachtung taten sich in ihr auf. Dieser einst von Menschenhand errichtete Ort barg für Soon nichts Natürliches, nichts Menschliches in sich. Ihr erschien es so, als hätten sich die Erdenmenschen hier ihre Hochburgen errichtet, als hätten sie ihre Behausungen weit in den Himmel ragend erbaut, um diesem, gleich Halbgöttern, ein Stückchen näher zu sein. In Soons Augen hatten sich die Menschen in dieser Weltstadt zusammengefunden wie Krebszellen, die sich zu einem Geschwür, einem tödlichen Tumor vereinten und zehrten und zehrten. Nun schienen selbst die Kakerlaken diesen toten Ort zu meiden und nur der stolze weiße Vogel zog hier noch seine Kreise. Die Stadt, die niemals geschlafen hatte, war nun eine betongraue Begräbnisstätte und ihr einstiger Glanz war verblasst, sodass nur noch ein Schatten ihrer selbst geblieben war. Soon gedachte einer rätselhaften Metapher, welche ihr Großvater oftmals vorzutragen gepflegt hatte. Jedes Mal hatte er auf dieselbe Weise begonnen: „Lass mich dir erzählen, was mein Großvater mir und der seine zuvor ihm erzählte, lass mich dir erzählen, kleine Soon, von Schatten und Licht.“ Was darauf dann gefolgt war, hatte Soon nie so recht verstanden, doch wie es der Großvater vorausgesagt hatte, war nun der Zeitpunkt gekommen, da sie begriff.
Sie beschloss, einen Umweg zu fliegen, um ihr finales Ziel – die tropischen Urwälder des Amazonas – zu erreichen. Sie flog quer über den amerikanischen Kontinent. Von New York nach Detroit, von Detroit über Chicago nach Salt Lake City und schließlich zur westlichen Küste nach San Francisco. Von all den Großstädten, vielleicht weltweit, war nichts übrig, bis auf warnende Trümmer, die durchzogen waren von tödlicher Luft. Soon ging ein unbeschreiblicher Ekel, ein statischer Schock in Mark und Knochen. Die Zivilisation war Staub geworden, hatte sich selbst ausgelöscht, so, als war ihre Zeit zu gehen gekommen. Beim Anblick dieser verseuchten, farblosen Großstädte fragte sie sich, ob es noch in der Natur des Menschen läge, die Natur zu knechten, um alles in der Welt, alles in der Welt auszubeuten und Profit daraus zu schlagen, kostete es was es wollte.
Soons Mission war ein großer Schritt, ein Wagnis für die Menschheit, doch vielleicht war dieser Schritt ein zu großer für Soon selbst.
Weiter im Süden, über Mexiko, bemerkte Soon, wie die Krater seltener wurden und die weitflächigen Zerstörungen kaum noch Eindruck hinterlassen hatten. Die grauen, dem Erdboden gleichenden Schlachtfelder, die einst Städte gewesen waren, wurden nun mehr und mehr abgelöst von ländlichen Gebieten, verwilderten Dörfern und Feldern. Mexikos Wiesen, seine Wüsten, Flüsse und Wälder wirkten prachtvoller, je weiter sie sich dem Äquator näherte. Die Scheiben der „Moth“ wurden immer schneller, immer stärker benetzt von Wasserperlen, denn die Luftfeuchtigkeit stieg.
Die unberührte Natur zeichnete Soon ein Bild von mannigfaltigen Grüntönen, zwischen denen sich die in der Sonne glänzenden Ströme des Amazonas unbeirrt ihren wilden Weg bahnten, wie sie es schon immer getan hatten, und als innerhalb kürzester Zeit schwarze Wetterwolken aufzogen, verdunkelten diese Himmel und Erde zugleich. Soon zuckte wieder und wieder zusammen, als ohrenbetäubender Donner auf blendende Blitze folgte. Dieses respekteinflößende Schauspiel der irdischen Natur endete, so schnell es begann und als der Himmel in Strömen weinte, sich die Wolken auflösten und die Sonne wieder warmes Licht warf, auf den liebsten ihrer Planeten, tat sich ein Regenbogen (atmosphärisch-optisches Phänomen, das dem Betrachter als weit entfernter, farbiger Streifen am Horizont erscheint) auf, dessen Enden in den weit entfernten Kronen der Bäume zu münden schienen, wie himmlische Säulen. Wie zum krönenden Abschluss schwärmten unzählige Vögel aus den dichten Wäldern, Soon ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Sie beneidete diese Tiere, konnten sie doch ein Leben lang ebendiesen Anblick aus der Perspektive genießen, wie es auch ihr gestattet war, an jenem Tag.
Soon erkannte die Gegensätzlichkeit dieses Ortes, verglichen mit den toten Städten und sie erkannte, dass diese Gegensätzlichkeit größer nicht hätte sein können. Eines Tages, wenn erst die Menschen wieder auf der Erde lebten und verächtliche Habgier ihren geläuterten Menschenverstand aufs Neue infizierte, würde es von höchster Wichtigkeit sein, diese Wälder zu schützen und zu ehren.
Merkwürdig erschien es Soon, dass dieses grüne Paradies, knapp 243 Jahre nach der atomaren Katastrophe so lebensfreundlich blühte und gedieh. Die Strahlung in der Atmosphäre musste sich auf eine, für sie unverständliche Art schneller abgebaut haben, als die Wissenschaftler es berechnet hatten. Es war, als wäre die eigentliche Ursache der Erkrankung behoben worden.
Da diese Wälder von den verschiedensten Pflanzenarten so dicht bewachsen waren, kostete es Soon ein wenig Zeit, eine freie Ebene zu finden, die es ihr erlaubte, mit der „Moth“ so tief über dem Boden zu schweben, dass sie eine Erdprobe entnehmen konnte.
Auf dem Mars war das Element Erde, was für die Erdenmenschen Gold gewesen war. Nichts war dort seltener und folglich kostbarer als Erde. Ihr Großvater hatte ihr einmal erklärt, dass Erde auf dem gleichnamigen Planeten nicht mehr als Dreck und Schmutz für die Menschen gewesen war. Soon kam der Gedanke, dass man wohl dann erst den Wert einer Sache begriff, wenn man ihrer nicht mehr habhaft war, wenn man seine Toten im stillen, schwarzen Weltall beisetzte, während man davon träumte sie zu beerdigen.
Soons Mission war erfüllt, sie hatte getan, weshalb sie gekommen war und alle Proben lagerten sicher an Bord der „Moth“. Sie hatte Nachricht von höchster Wichtigkeit für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind auf dem Mars zu überbringen und sie wusste, dass aufgrund der frühzeitigen Erholung des Planeten eine baldige Wiederbesiedlung sehr wahrscheinlich war. Wenn Wale die Meere beherrschten und Vögel in Scharen flogen, wäre auch menschliches Leben auf der Erde möglich. Sie, die Enkelin ihres Großvaters, würde als Heldin, als Retterin der Menschheit gefeiert und geehrt werden, bis sie eines Tages, betrauert von Tausenden, vielleicht Millionen, im Zuge einer festlichen Zeremonie begraben würde. Aber wollte sie das alles für sich, wollte sie das für die Menschen, für die Erde?
Gerade als sie die Instruktionen für die Heimreise eingab, erklang ein dumpfes Geräusch, von dem sich Soon allerdings nicht stören ließ. Kurz darauf erklang das Geräusch nun etwas heftiger noch einmal und noch einmal. Verwundert hielt sie Ausschau und erblickte dann, versteckt hinter Zweigen und Gräsern, zwei Lebewesen, die mit Steinchen nach dem kleinen Shuttle warfen, wohl um sich bemerkbar zu machen. Hastig tastete sie, die Augen noch immer starr auf die Wesen gerichtet, vergebens nach ihrer Kamera. Auf den ersten Blick hätten es Affen sein können, bei genauerem Betrachten aber war sie sich beinahe sicher, dass es leibhaftige Menschen waren. Kinder, schmutzige, verwilderte Menschenkinder, deren zerfetzte Kleidung nicht schäbiger und zerrissener hätte sein können. Gerade als Soon die Kamera ergriffen hatte, wechselten die beiden Gestalten einen kurzen Blick und rannten, mit ihren dreckigen Händen winkend, los. Sie liefen schnell und waren unter den dichten Baumkronen nahezu unsichtbar für Soon, der es von der „Moth“ aus schwerfiel, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Bald machten die Kinder scheinbar willkürlich und abrupt Halt. Eines winkte Soon beständig zu, während das andere wild umher lief und Laute von sich gab, die sie noch nie zuvor vernommen hatte. Sie konnte nicht ausmachen, ob es sich um sinnloses Gebrüll, wie es etwa ein Tier ausstieß, oder womöglich um eine primitive Sprache handelte. Und jetzt erkannte Soon, dass sie über dutzenden von kleinen Hütten aus Ästen, Lehm und Palmenblättern schwebte, die ihr vorher nicht aufgefallen waren. Neugierig streckten die Bewohner des kleinen Dorfes ungläubig blickend die dreckigen Hälse aus den ärmlichen Behausungen, kamen dann sofort heraus geeilt und sammelten sich nach und nach zu Hunderten um die beiden Kinder, direkt unter der schwebenden „Moth“. Soon zitterte nun am ganzen Körper, sie war fassungslos. Sie hätte diesen Augenblick festgehalten, wäre ihr nicht die Kamera aus der schwachgewordenen Hand geglitten, und als sich diese Menschen, diese Bewohner des Garten Edens ehrfürchtig, doch sichtlich erwartungsvoll vor dem schwebenden Shuttle auf den Erdboden warfen und beteten, begriff Soon, dass dieses Volk, dieser Stamm augenscheinlich um ein vielfaches verwirrter war ihr zu begegnen, als sie selbst es war, Überlebende der Katastrophe, wahre Erdenmenschen anzutreffen. Diese einfachen Leute hatten wohl auf sie gewartet, hatten wohl den Glauben nie verloren und nun mussten sie Soon für den wiedergekehrten Messias halten oder gar für eine Außerirdische, für einen Marsmenschen.
In den Marskolonien wartete man vergebens auf die Rückkehr Soons, ehe man die Hoffnung aufgab. Man erzählte sich Geschichten über die erste Frau, die sich aufgemacht hatte, die Erde zu erkunden. Einige glaubten, sie hätte nie existiert und die Regierung spielte ihnen einen Streich, um sie bei Laune zu halten, um ihnen trügerischen Mut zu machen. Andere waren überzeugt, Soons Shuttle wäre auf der Heimreise zum Mars die Energie ausgegangen, so dass sie im schwere- und geräuschlosen All qualvoll und allein verendete. Xian, einem strebsamen Jungen, der einmal Astronaut werden wollte, gefiel die Vorstellung, Soon sei auf dem blauen Planeten geblieben, atmete in vollen Zügen die salzige Meeresluft, tanzte im Sommerregen und küsste die heilige Erde.