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Muttersöhnchen
Muttersöhnchen
Der Abend war noch jung, aber Martin Brandel war schon auf dem Nachhauseweg. Er hatte in seiner Stammkneipe noch ein paar zur Brust genommen; dann war ihm das Geld ausgegangen. Kredit hatte er dort schon seit Wochen nicht mehr, obwohl er viele Jahre lang ein beliebter Stammgast gewesen war. Das hatte sich Schlag auf Schlag geändert, genau wie manches andere in seinem Leben; und so blieb ihm nichts weiter übrig als einfach nach Hause zu gehen, wo seine leere, verwahrloste Wohnung auf ihn wartete. Seine Frau war vor zwei Monaten mit Sack und Pack ausgezogen und hatte mittlerweile die Scheidung eingereicht.
„Du musst dich jetzt endlich entscheiden zwischen deiner Mutter und mir.“, hatte sie von ihm verlangt. - Aber war es denn unnatürlich, wenn ein Mann sich um seine alte, kranke Mutter sorgte? War es denn nicht ein nobler, menschlicher Zug von ihm, dass er täglich mehrere Stunden bei ihr im Pflegeheim zubrachte? Und sollte ihn denn seine Frau dafür nicht noch mehr lieben und achten?
Martin Brandel war ein gefühlvoller Mann, gefangen in einer gefühllosen, kalten und dunklen Zeit. Wehmütig dachte er an seine hellen, warmen Jugendjahre in den frühen 70ern zurück, als die Mädchen noch sensible Typen wie ihn zu schätzen gewusst hatten. Heute war alles anders: Karriere, Kreditkarten, Geld und harter Sex, das war es, was Frauen heute wollten. Da war nichts mehr mit Zärtlichkeit, Gefühl und Verantwortung. Und Martin Brandel fühlte sich nun mal für seine alte Mutter verantwortlich. Besonders seit sie im Pflegeheim untergebracht war. Schließlich musste er sich davon überzeugen (und nötigenfalls dafür sorgen), dass sie von den Schwestern und Pflegern dort richtig behandelt wurde. Deshalb hatte er im letzten halben Jahr etliche Zeit nach Feierabend (allabendlich) dort verbracht und war meistens spät nachts nach Hause gekommen, wenn seine Frau bereits geschlafen hatte.
„So geht das aber nicht weiter.“, hatte sie irgendwann zu stänkern angefangen.
„Also hör mal: meine Mutter lebt vielleicht nicht mehr lange. Sie ist die Frau, die mich geboren hat, die mich aufgezogen, ernährt und innig geliebt hat. Und bald wird sie nicht mehr da sein!“
„Vielleicht bin ich auch schon bald nicht mehr da!“, hatte sie kaltschnäuzig und boshaft geantwortet.
Gut, er hatte sie in der letzten Zeit etwas vernachlässigt. Aber konnte sie denn nicht sehen, dass dies eine Frage der Prioritäten war? Kein Mensch auf der Welt hatte ihn je so geliebt wie seine Mutter. Und als seine Frau eine endgültige Entscheidung von ihm gefordert hatte, hatte er nicht lange darüber nachdenken müssen.
Seine Ehe war nun also futsch. Und nur wenige Wochen später war auch sein einträglicher Job als Fahrrad-Monteur flöten gegangen. Sein Chef hatte ihn schon bald vor eine ähnliche Wahl gestellt, nachdem Brandel aufgrund langer Abende im Pflegeheim und anschließender Alkohol-Exzesse meistens zu spät oder erst gar nicht zur Arbeit erschienen war. Falls er überhaupt noch aufgetaucht war, dann ungewaschen, unrasiert, mit dreckigen Klamotten und einer Schnapsfahne, die zum Himmel stank.
„Herr Brandel, Sie sind ein erwachsener Mann von 51 Jahren.“, hatte sein Chef zu ihm gesagt. „Sie müssen sich endlich von Ihrer Mutter lösen. Sie hat 20 Jahre lang für Sie gesorgt, und jetzt sollten Sie auf eigenen Füßen stehen. Eltern werden irgendwann mal alt und sterben. Das ist nun mal der Lauf der Welt. Und eines Tages muss fast jeder Mensch diese traurige Erfahrung machen – und lernen, damit zu leben. – Reißen Sie sich endlich wieder am Riemen, und ich vergesse Ihre Durchhänger der letzten Zeit.“
Martin Brandel konnte das so nicht akzeptieren, was wiederum sein Chef bald nicht mehr akzeptierte und ihn kurzerhand rauswarf.
Ja, er hatte Opfer gebracht, – genau wie sein Mütterchen sich in frühen Jahren für ihn aufgeopfert hatte. So schloss sich also der Kreis des Lebens. Tränen schossen ihm in die Augen bei diesem tief schürfenden Gedanken.
Traumverloren blickte er auf seine goldene Armbanduhr (ein Geschenk seiner Mutter aus Jugendjahren – mit Gravur), und es war erst gegen Zehn. Er war noch kein bisschen müde, wenn auch deutlich angesäuselt. (Wäre es denn sonst möglich, dass der Mond und die Sterne am Himmel wackelten?) Schmerzlich empfand er die Sinnlosigkeit und Leere dieses Abends, und der Einfall kam ihm so natürlich und folgerichtig, wie auf dunkle Nacht jedes Mal ein neuer Sonnenaufgang folgt: Er würde noch einen Abstecher zum Pflegeheim machen, seinem Mamale eine Gute Nacht wünschen und somit den Abend veredeln.
Das Pflegeheim lag in einer ziemlich verrufenen Stadtgegend, früher eine Arbeitersiedlung, heute, infolge fortlaufender Rezession, eine Hochburg für Arbeitslose, Jugendbanden und Obdachlose; ergo war es nicht ganz unbedenklich, dort um diese Uhrzeit alleine zu Fuß unterwegs zu sein. Doch das hatte Martin Brandel noch nie abgehalten:
„Stock und Stein brechen zwar mein Bein. / Doch nie lass ich mein Mamale, mein Sabbele allein.“ – So reimte er stumpfsinnig vor sich hin, als er vor die Pforte des Heims trat. Natürlich war der Eingang längst verschlossen. Er drückte auf den Knopf mit dem Hinweisschild: Nachtdienst.
„Ja, bitte?“, meldete sich eine junge männliche Stimme über die Sprechanlage.
„Ja, hier ist Martin Brandel. Ich möchte bitte Frau Martina Brandel besuchen, das ist meine Mutter ...“
„Besuchszeit ist vorbei.“, antwortete die Stimme.
„Ach bitte, bitte. Ich bleib nicht lange. Ich will doch nur meinem Sabbele einen Gutenachtkuss geben. Ich weiß doch, dass sie sonst nicht gut einschlafen kann.“
„Tut uns Leid. Nach Einundzwanzig Uhr lassen wir keinen mehr rein. Ist ne neue Vorschrift. Kommen Sie morgen wieder.“
Brandel hörte jetzt im Hintergrund das hämische Lachen einer zweiten männlichen Stimme: „So ein Trottel“, hörte er sie sagen. Dann ein Knacken aus der Sprechanlage.
„Hallo? Hallo?“ Brandel klingelte noch mal.
„Wenn Sie jetzt nicht weggehen, rufen wir die Polizei!“, meldete sich erneut die erste Stimme. Dann wieder das Knacken.
So ne Gemeinheit, dachte Brandel. Wie oft hab ich den Jungs vom Nachtdienst schon ein Päckchen Kaffee, Zigaretten oder ne Rote Wurst aus der Frittenbude spendiert? Und jetzt so was! Und die nennen sich dann noch ‚barmherzige Helfer‘.
„He Alter, haste mal nen Euro?!“ Diese neue Stimme war laut und schrill. Sie kreischte dicht hinter Brandels Schulter direkt in sein Ohr. Er war augenblicklich wie paralysiert, sodass sein Herzschlag für mehrere Sekunden aussetzte. Dann wandte er sich erschrocken um.
Da standen drei Typen, vielleicht um die 18, 19, mit Lederjacken, bunten Haaren und verflickten Jeans.
„Sorry Jungs, bin selber abgebrannt.“, brachte er schwer atmend hervor.
Die drei Kerle blickten sich gegenseitig an. In scheinbarer Verwunderung.
„Du, ich glaub der Alte will uns verscheißern.“, sagte einer. Dann wandten sie sich, als bestünden sie nur aus einem einzigen Körper, abrupt wieder Brandel zu.
„ASCHE HER! ABER ZACK, ZACK!“
„Leute, ich würd ja gern, aber ich hab echt nix ...“
Schneller als Brandel sehen konnte, landete eine Faust in seiner Magengrube, und mit solcher Wucht, dass ihm sofort die Luft wegblieb. Er krümmte sich, versuchte sich wieder aufzurichten und erlitt als Nächstes einen gewaltigen Schwinger mitten ins Gesichtszentrum, dass das Blut nur so aus der Nase spratzte. Er merkte, wie er den Boden unter den Füßen verlor, machte eine Rückenlandung, die ihm die Luft nun von hinten aus den Lungen presste. Dann, schon halb im Niemandsland, spürte er schmerzlichst wie unzählige Stiefel sein Gesicht, Hinterkopf und Unterleib bearbeiteten. Zuletzt – ihm wurde endlich schwarz vor Augen – fühlte er noch wie unsichtbare Hände seine leeren Taschen durchsuchten. Jemand zog ihm die goldene Uhr vom Handgelenk. Dann war nur noch Dunkelheit ...
... „Du Fritz, siehst du die besoffene Sau da rumliegen?“ ... Langsam, ganz langsam kam Brandel wieder zu sich und erkannte die Lichter eines Streifenwagens. Als er den Kopf etwas anhob, konnte er zwei uniformierte Beamte sehen, die sich zu seinem Fußende vor ihm aufbauten, beide die Hände in die Hüften gestemmt, beide riesengroß, stiernackig, blond und schnurrbärtig.
„Jau Karl, schon wieder son Scheiß-Penner, stinkt zehn Meilen gegen den Wind. Sollen wir ihn liegen lassen? Unsere Schicht is gleich rum.“
„Weiß nich, Fritz. Der Kerl scheint ganz schön auf die Schnauze gefallen zu sein. Guck dir doch nur mal seine Fresse an.“
„Hilfe“, flüsterte Brandel völlig kraftlos.
„Guck mal, Fritz. Er kommt zu sich.“
„Bitte helfen Sie mir“, gurgelte Brandel, der den Mund voller Blut hatte. Er richtete sich in halbe Sitzposition auf und spuckte aus.
„Jetzt guck dir bloß diese Drecksau an!“
„Bitte helfen Sie mir doch!“, stöhnte Brandel jetzt in voller Lautstärke. „Ich muss doch sofort zu meinem Sabbele, ... meine goldene Uhr, ... mein Job, ... meine Frau auch noch, ... ohhh mein Sabbele, ... jetzt bloß nicht auch noch mein Sabbele, ... ohhh helfen Sie mir!“
„Da hilft alles nix, Fritz. Isn klarer Fall für die Ausnüchterungszelle – und fürn Gerichtsarzt. Scheint auchn Kandidat für die Jacke ohne Ärmel zu sein.“
„Also gut. Laden wir den noch aufs Revier. Dann is Schluss für heut. Nimm du die Füße, ich schnapp ihn an den Schultern.“
Wenig später saß Brandel – notdürftig verarztet – auf seiner Pritsche in der Ausnüchterungszelle. Er hielt sich mit beiden Händen den Kopf, in dem es brummte, als hätte jemand ein ganzes Hornissennest hineingepflanzt. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, musste sich immer wieder von Neuem fragen, wo er war und warum er eben hier war. Sein komplettes Kurz- und Langzeitgedächtnis war verschwommen wie bei Sendestörung eines Fernsehkanals. Gelegentlich empfing er für wenige Sekunden ein klares Bild, das gleich wieder unter Streifen und Schlieren verschwand. Einen hellen Augenaufschlag lang wurde ihm klar, dass er vermutlich unter einer schweren Gehirnerschütterung auf der Grundlage einer mittleren Alkoholvergiftung litt, und dass zwei Wochen Bettruhe mit einem großen Aspirinvorrat eigentlich alles war, was er gerade brauchte. Aber ein einziges Augenblinzeln später konnte er wieder nur noch an sein Sabbele denken und daran, dass er jetzt sofort und unbedingt zu ihr musste.
Irgendwann – Brandel wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war – drehte sich geräuschvoll ein Schlüssel im Schloss seiner Zellentür. Die Zellentür wurde von außen geöffnet, und herein trat ein kleiner, glatzköpfiger Mann mit weißem Kittel und schwarzem Köfferchen; in seiner Begleitung befand sich ein uniformierter Beamter. Brandel registrierte es halb.
„Guten Abend, beziehungsweise Guten Morgen.“, sagte der Mann im weißen Kittel. „Mein Name ist Doktor Bengele. Ich bin Psychiater. Ich bin nur hier, damit wir uns ein bisschen unterhalten. Möglicherweise sind auch ein paar kleinere Untersuchungen angezeigt.“
„Engele, Bengele ...“, brabbelte Brandel.
Doktor Bengele stülpte sich zwei Gummihandschuhe über.
„Engele, Bengele ... ich muss zu meinem Sabbele!“
„Was bitte genau ist ein Sabbele?“
Brandel flehte: „Doktor Mengele, bitte lassen sie mich doch zu meinem Sabbele, ...“
„Ich muss doch sehr bitten!“, sagte Doktor Bengele.
„ ... bevor es zu spät ist! Bevor alles zu spät ist, und meine Welt zerbricht!“
„Klarer Fall von paranoid schizophrenem Schub.“, konstatierte Doktor Bengele und winkte dem Beamten, dass er näher trete.
„Der Patient wird ins Landeskrankenhaus überwiesen. Telefonieren Sie schon mal mit der Rettungsleitstelle und fordern Sie einen Transport an. Fixierungsmittel sind möglicherweise erforderlich, aber ich werde den Patienten präventiv schon mal ruhigstellen.“
Brandel registrierte nunmehr erheblich weniger als die Hälfte aller Ereignisse. Zu allem Übel kam jetzt noch die Müdigkeit hinzu. Ihm war schlagartig, als träumte er all dies nur, als träumte er, wie der lächerliche kleine Glatzkopf im weißen Kittel sein albernes Köfferchen öffnete und die Spritze aufzog. Den Stich spürte er kaum. Und dann war wieder nur noch die Dunkelheit ...
„Also so was ist mir ja überhaupt noch nie untergekommen!“, stöhnte die Schwester am Empfang.
„Gibts ein Problem?“, fragte ihre Kollegin am Schreibtisch.
„Ja, ein großes.“
Die Schwester am Schreibtisch blickte auf. „Kann ich was helfen?“
„Komm doch mal her, Yvonne.“
Schwester Yvonne erhob sich vom Schreibtisch und bewegte sich schwerfällig zu ihrer Kollegin am Tresen hinter dem Glasfenster. Auf dem Gang lagen zwei Männer auf fahrbaren Tragen einander gegenüber.
„Also, wo klemmts, Uschi?“
Schwester Uschi klopfte sich selbst mit der Faust gegen die Stirn. Dann sagte sie: „Also, ich hab hier zwei Patienten zur Weiterleitung an die richtigen Abteilungen. Der eine geht in die Psychiatrische, erst mal für ein paar Tage zur Beobachtung. Verdacht auf psychotischer Schub. Der andere kommt in die Chirurgische zur OP, gleich in der nächsten Stunde. Beide Patienten sind völlig eingetrübt und nicht ansprechbar. Der eine ist ruhiggestellt. Der andere hatte schon seine Prae-OP-Injektion.“
Schwester Yvonne hob ihre buschigen Augenbrauen. „Und wo ist jetzt das Problem?“, fragte sie ungeduldig.
„Jetzt schau dir doch bloß mal die Personalausweise der beiden an! Die beiden Kerle sind völlig gleich. Derselbe Name: Martin Brandel. Dasselbe Geburtsdatum. Und die beiden sehen völlig gleich aus. Und jetzt schau mal genau hin: Sie haben auch die gleiche Unterschrift. Und das hier ist ganz komisch: Diese Passfotos, das sind absolut identische Aufnahmen! Wie ist so was möglich?“
„Müssen eineiige Zwillinge sein.“
„Und beide heißen Martin mit Vornamen? Nee!“
„Ich seh gerade, dass sie immerhin verschiedene Wohnsitze haben.“, sagte Schwester Yvonne, die irritierten Blicks die beiden Pässe inspizierte.
„Das ist es ja gerade! Die Adressen sind nicht auf unseren Anmeldeformularen vermerkt! Also, wen schick ich jetzt bloß wohin?“
Schwester Yvonne stemmte ihre großen Patschhände in die breiten Hüften. „Das wäre doch gelacht!“, sagte sie im Brustton der Entschlossenheit. „Jetzt schauen wir uns die beiden erst mal richtig an. Vielleicht sehn sie ja doch nicht völlig gleich aus.“
„Und was bringt uns das?“
„Lass mich nur machen.“
Die beiden Schwestern verließen ihre Dienstkabine und traten hinaus auf den Gang. Dort betrachteten sie eingehend die beiden Männer auf den beiden Tragen.
„Hmm, hmm“, machte Schwester Yvonne.
„Ist dir was aufgefallen?“, fragte Schwester Uschi.
Schwester Yvonne deutete auf einen der beiden Männer: „Der hier sieht viel ungepflegter und verkommener aus. Vor allem sind seine Haare viel länger. Haben schon lange keinen Friseur mehr gesehen. Überhaupt sieht er viel weibischer als der andere aus.“
„Und was sagt uns das?“
„Der Weibische soll bestimmt zur OP.“
„Wieso denn das?“
„Ja, weißt du denn nicht, was für eine OP das ist, die für die nächste Stunde angesetzt ist? Die ganze Klinik weiß das! Diese OP ist eine Weltpremiere!“
„Ach ja, stimmt.“
„Dann sind jetzt alle Unklarheiten beseitigt?“
„Jawohl.“
„Dann mach jetzt die beiden Patienten fertig für den Weitertransport!“, sagte Schwester Yvonne in gebieterischem Tonfall.
Schwester Uschi tat wie ihr geheißen.
Als erstes nach der Sendestörung und der darauffolgenden (langen) Dunkelheit konnte er wieder einen Ton empfangen. Martin Brandel (unser Martin Brandel) hörte Stimmen. Zwei Männerstimmen, die sich unterhielten. Er verstand klar, deutlich und zusammenhängend, was sie sagten, obwohl das, was sie sagten, keinerlei Sinn für ihn ergab:
„Gratulation, Herr Kollege. Eine Meisterleistung.“
„Gleichfalls, Herr Kollege, gleichfalls.“
„Einmalig in der Geschichte der Medizin.“
„Meine Rede. Meine Rede.“
„Geradezu umwälzend, diese omnipotente, allumfassende Kooperation zwischen Neurologie, Chirurgie und Schönheits-Chirurgie.“
„Jawohl, und das Ganze in einer Zeit von nur vier Stunden und siebenundzwanzig Minuten.“
Moment mal, dachte Brandel. Was hat der da gerade eben gesagt?
„Ohne Herrn Brandels freiwilligen Einsatz wären wir in zwanzig Jahren noch nicht so weit gewesen!“
„Der Patient ist wohlauf. Vitalwerte vorbildlich. Wird wahrscheinlich demnächst aufwachen. Sehen Sie sich das an: kein einziges Hämatom, keine Schwellungen! Der Patient ist makellos. Oder sollte ich besser sagen: die Patientin?“
Irgendwo in Brandels Bewusstsein begann jetzt eine einsame Alarmglocke zu läuten. Die Alarmglocke übernahm zugleich die Funktion eines Weckers. Und im Nu war Brandel sozusagen glockenwach.
„Was haben Sie da gerade eben gesagt?“
„Herr Brandel, Sie sind wach! Das ist ja wunderbar!“
Einer der beiden Ärzte trat auf Brandel zu, trat ans Kopfende seines Bettes. Der Arzt war groß, schlank, etwa Mitte 50. Er hatte graue Schläfen, eine hohe Stirn, klare blaue Augen und eine weiche Mundpartie. Der Mann sah sehr vertrauenerweckend aus. Brandel fragte diesmal zuversichtlicher:
„Was haben Sie da gerade eben gesagt?“
„Herr Brandel, ich habe eine erfreuliche Nachricht für Sie: Sie können sofort aufstehen, ins Badezimmer gehen und sich im Spiegel betrachten. Jetzt ernten Sie die Früchte dafür, dass Sie sich freiwillig für unsere neuartige Operationstechnik zur Verfügung gestellt haben, die, nun ja, ich will mal so sagen: in Fachkreisen noch nicht ganz etabliert ist ...“
„Wovon, zum Teufel, reden Sie da überhaupt?!“, brüllte Brandel, der Anstalten machte sich an den Bettrand zu schwingen. Die Angst hatte begonnen als kleiner Weißer Zwerg in seiner Bauchhöhle und wuchs nun allmählich zur hellen Supernova. „Helfen Sie mir auf die Füße!“, verlangte er von dem sympathischen Arzt. „Ich will sofort ins Badezimmer!“
„Aber selbstverständlich! Kommen Sie, ich begleite Sie.“
Martin Brandel stand vor dem großen Spiegel im Bad und konnte nichts Ungewöhnliches erkennen.
„Moment.“, sagte der Arzt. „Ich nehme Ihnen das Flügelhemdchen ab.“
Martin Brandel stand vor dem großen Spiegel im Bad.
Und seine Augen wurden immer größer.
„Mein Ärzteteam und ich haben ihnen sowohl eine echte Vagina als auch eine echte Gebärmutter transplantiert. Sie werden keinerlei Narben erkennen.“, erläuterte der hinter ihm stehende Arzt. „Die notwendigen Hormone wird ihr Körper also selbst produzieren. Keinerlei künftigen Probleme wegen Bartwuchs oder Brustschwund. Gleichzeitig haben mein Kollege, der Schönheits-Chirurg und seine Assistentin Ihnen einen wundervollen Busen modelliert. Die Implantate sind – wie Sie es gewünscht haben – im XXL-Format ...“
Martin Brandel hatte nicht mal genügend Zeit, um „Ouh, Scheiße!“ zu sagen. Das Deja Vu- Gefühl war viel zu intensiv und umfassend und überlagerte jede andere mögliche Regung: Er sah genauso aus wie seine Mutter in jüngeren Jahren!
„Sabbele“, sagte Brandel.
„Äh, ... wie bitte?“
„Mein Sabbele“, sagte Brandel. „Ich habs geschafft! Mein Sabbele und ich werden nie mehr getrennt sein. Wir sind für immer vereint! Denn jetzt bin ich mein Sabbele und ich werde es für immer bleiben!“
„Ähh ja, ... ich verstehe.“, sagte der Arzt. „ ... was immer Sie glücklich macht ... Ihre privaten Motive für diese Operation bleiben natürlich ganz und gar Ihre Angelegenheit ... dennoch wollte ich Sie fragen, ob es bei unserem verabredeten Abendessen bleibt und ob wir weiterhin ... “
Martin(a) Brandel blieb noch lange Zeit vor dem großen Spiegel im Bad stehen. Er (sie) war endlich erwachsen geworden.
Juli 03