Mutterliebe
Claudia, zwölf Jahre alt, macht es sich auf dem Sofa bequem und schlägt die erste Seite ihres Lieblingsbuches "Die drei Fragezeichen" auf. Kaum, dass sie die erste Seite gelesen hat, hört sie das Geräusch von Holzpantoffeln auf der Haustreppe. Ihre Mutter naht. Mehr in einer Reflexbewegung als bewusst schlägt sie hastig das Buch zu und ist gerade dabei dieses hinter einem Sofakissen zu verstecken, als ihre Mutter durch die Tür ins Zimmer tritt.
"Was verbirgst du da?"
Der glasige Blick ihrer Mutter mit den erweiterten Pupillen versucht sie zu fixieren.
Claudias Herzschlag beschleunigt sich. Sie bringt nur ein krächzendes Geräusch hervor, da ihr der Puls im Halse schlägt.
Die Mutter kommt näher.
Claudia hält den Atem an. Sie hasste den Geruch, der ihrer Mutter aus jeder Pore strömte.
"Hast du dir etwa wieder ein Buch gekauft?"
Schrill dröhnt die Stimme in Claudias Ohren.
"Nein, habe ich nicht, es..."
"Hör doch auf," unterbricht ihre Mutter und greift nach dem vermeintlichen Beweisstück, das hinter dem Kissen hervorguckt.
"Natürlich hast du wieder für unnutzes Zeug Geld ausgegeben."
Das Buch saust an Claudias Ohr vorüber. Mit einer blitzschnellen Handbewegung fasst diese nach dem Einband und entzieht es mit einem Ruck der Mutter, um es mit beiden Händen wie einen Schatz an sich zu drücken.
Ihre Mutter schnaubt auf.
"Lesen ist etwas für Taugenichtse. Hilf` mir lieber im Haushalt, als hier dumm rumzusitzen.
Ich musste in deinem Alter bereits beim Bauern arbeiten."
Die Stimme der Mutter schwillt an. Claudia zuckt zusammen, wie unter einem Peitschenhieb.
"Aber nein, MADAM lebt ja lieber in ihrer Traumwelt und hält es nicht für nötig zu helfen."
Die Mutter beugt sich Claudia entgegen. Ihre Stimme wird jetzt leiser, aber noch eine Spur schärfer.
"Los! Gib mir das Buch!" Sie streckt die Hand danach aus.
Claudia kann nur den Kopf schütteln, da ihr eine Mischung aus Angst und Wut die Stimmbänder blockiert. Fest klammert sie beide Hände um den Einband.
Der Kopf der Mutter rückt noch näher.
"Los, gib es mir!"
Claudia versucht dem alkoholgeschwängerten Atem ihrer Mutter auszuweichen, doch diese ist ihr so nahe, dass sie fast das Beben ihrer Nasenflügel körperlich spüren kann.
"Ganz wie du willst", stößt ihre Mutter plötzlich hervor und greift in einer schnellen Attacke nach einem ihrer Holzpantoffeln.
Claudias, unfähig sich zu bewegen, starrt dem abgetragenen Pantoffel entgegen, den ihre Mutter ohne große Umschweife mit Schwung in ihre Richtung lenkt.
Das rot der Fußschlaufe scheint identisch mit der Gesichtfarbe der Besitzern.
In letzter Sekunde löst sich jedoch ihre Starre und sie weicht aus. Der Schuh verfehlt haarscharf ihren Arm und klatscht auf das Sofa.
Ihre Mutter holt erneut aus. Claudia hastet von der Couch. Ihre Mutter greift nach ihr, doch sie erwischt nur den Zipfel ihres Pullovers. Claudia reißt sich los und entgeht erneut dem Pantoffel. Schnell rennt sie aus dem Zimmer, das Buch noch immer fest umklammert. Tränen verschleiern ihr die Sicht, fasst verfehlt sie die erste Stufe der Treppe, die hinauf zu ihrem Zimmer führt. Ihre Mutter setzt ihr nach und nutzt die Sekunde ihres Strauchelns und lässt den Schuh erbarmungslos auf sie donnern. Claudia schreit auf, mehr vor Schreck als vor Schmerz, denn den spürt sie in diesem Augenblick nicht. Der zweiter Schlag trifft ihr Wadenbein. Claudia sackt auf die Knie und krabbelt nun auf allen Vieren weiter, stößt sich die Knie wund an den nackten Holzstufen, doch auch das spürt sie noch nicht. Sie hört nur den laut angestrengten Atem ihr Mutter, die blindlings ihren Schuh auf sie niederprasseln lässt und sie weiter vorantreibt.
Einmal gelingt es Claudia einem Schlag auszuweichen und der Schuh wird, durch den harten Aufprall auf das Holz, ihre Mutter aus der Hand geschleudert. Bevor ihre Mutter den Schuh erneut greifen kann, schafft es Claudia sich aufzurappeln und sich in ihr Zimmer zu retten. Erst hier lässt sie ihr Buch fallen, während sie schluchzend die Tür hinter sich ins Schloss schmeißt. Fast panisch sperrt sie mit fahrigen Fingern ab. Etwas kracht von außen gegen das Holz. Claudia schreckt zusammen. Ihre Beine beginnen zu zittern. Sie sackt zusammen und stöhnt schmerzerfüllt auf, als ihre zerschundenen Knie den Boden berühren. Große salzige Tränen tropfen von ihrem Gesicht und werden von der zufällig beim Fall auf den Boden aufgeschlagenen Seite ihres Lieblingsbuches aufgesogen. Langsam verschwimmt die handschriftliche Widmung: Meiner geliebten Tochter zum Geburtstag. Mama.
[Beitrag editiert von: merlin am 12.02.2002 um 18:39]