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Mutterliebe
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Ihr Mann war das, was man schlechthin als Traummann bezeichnet: er sah gut aus, verdiente gut, liebte sie abgöttisch und war immer für sie da. Ihm stand eine glänzende Karriere in Aussicht und so erfüllten sich beide ihren Wunschtraum: sie taten den Schritt vom Ehepaar zur Familie. Als das Kind zur Welt kam, ein Junge, war das Glück perfekt, das Fundament für die Zukunft errichtet.
Der Polizist, der eines Tages vor der Tür stand, zerstörte es mit einigen wenigen Worten und riss Elisabeth auf grausame Art in die harte Arbeitswelt zurück. Als allein erziehende Mutter führte Elisabeth fortan ein schweres Leben, aber sie erduldet diese Mehrfachbelastung gern, für Detlef, ihren Sohn. Nach dem Tod ihres Mannes musste sie Alles für ihn sein und wurde außer Mutter, auch Vater, Spielgefährte und Lehrer.
Sie wohnen nun in einem kleinen Ein-Zimmer-Appartement, mehr ist nicht drin bei einem schlecht bezahlten Halbtagsjob. Aber länger will sie nicht arbeiten, denn schließlich muss sie für Detlef da sein. Die Anderen beneiden Detlef um so eine liebevolle, sich aufopfernde Mutter. Aber die anderen kennen sie nur in Gesellschaft. Sie ist auch energisch. Sie hat alles im Griff, der Tagesablauf ist geregelt - Kinder brauchen Gleichmäßigkeit:
Morgens weckt sie Detlef mit einem liebevollen Guten-Morgen-Kuss. Seine Anziehsachen hat Elisabeth bereits zurechtgelegt, hat auch schon die Zahnpasta auf die Bürste getan und das Frühstück vorbereitet. Bis vor Kurzem hat sie ihn nach dem Duschen noch abgetrocknet, aber als sein Körper anfing zu reagieren und sie nicht wusste, wie sie ihm das erklären solle, hat sie ihn verständnisvoll allein im Badezimmer gelassen. Während Detlef frühstückt, packt sie ihm das Pausenbrot in die Schultasche.
Dann fährt sie ihn die eineinhalb Kilometer zur Schule, im sicheren Wagen. Er hat eingesehen, dass Fahrrad fahren zu gefährlich ist. Obwohl er weiß, dass er sich wegen des Abschiedskusses nicht schämen braucht, ziert er sich jeden Tag aufs Neue. Elisabeth lächelt darüber, aber der Kuss gibt ihr die Kraft, sich von ihm zu trennen und den Halbtagsjob zu erledigen.
Nach der Arbeit, nach viereinhalb nervend langweiligen Stunden, holt sie ihn an der Schule ab, sie gehen bei Edeka einkaufen und sie kochen zusammen ihre Hauptmahlzeit, wobei sie immer wieder betont, dass Detlef sich inzwischen zu einem hervorragenden Hilfskoch entwickelt hat. Auch wenn er nach dem Essen oft nicht schläft, achtet Elisabeth doch darauf, dass er sich eine halbe Stunde ruht. Seine Konzentration ist dadurch erheblich besser, hat sie schon wiederholt bemerkt, wenn sie mit ihm Hausaufgaben macht.
Dann schauen sie Fern, das Vorabendprogramm; gemeinsam haben sie sich die gewaltfreien Sendungen herausgesucht. Im Zweifelsfalle schaut sich Elisabeth die Sendung zur Probe an, während Detlef, abgewandt und mit Kopfhörern versehen, klassische Musik hört. Sie vermeidet, dass er mit Gewalt konfrontiert wird, schließlich weiß auch Detlef, dass sein Vater Opfer gewalttätiger Krimineller geworden ist. Konfrontation mit Gewalt ist das Letzte, was er jetzt durchleben sollte.
In letzter Zeit äußerte er immer öfter den Wunsch, auch mal abends schauen zu dürfen und sie hat es ohne viele Diskussionen erlaubt, Quizsendungen, denn die fördern die Allgemeinbildung.
Nach dem Abendessen und dem gemeinsamen Abwasch spielen sie noch ein Gesellschaftsspiel. Sie haben im Laufe der Jahre eine ansehnliche Spielesammlung zusammengetragen und ergänzen sie in fast schon regelmäßigen Abständen. Allerdings erscheinen in letzter Zeit viele Spiele, die ihnen zu sehr Gewaltverherrlichende Züge tragen. Nun ja, dem kann man entgehen, indem man das Spiel nicht kauft.
Müde gehen beide nach einem erlebnisreichen Tag zu Bett. Es ist das Ehebett, für ein eigenes für Detlef hat es in all den Jahren nie gereicht, da andere Dinge wichtiger sind. Meist setzt sich Elisabeth noch ein Weilchen zu ihm auf die Bettkante und streicht ihm über den Kopf und die Stirn. In die Streicheleinheiten legt sie ihre ganze Liebe, die sie ja schon lange nicht mehr aufteilen muss. Dann, wenn er eingeschlafen ist, liest sie noch ein wenig, bevor sie sich neben ihn legt und erschöpft in einen tiefen Schlaf fällt. Dort lebt ihr Mann wieder und kümmert sich um Alles.
Doch Detlef schläft nicht. Mit seinen sechzehn Jahren ist er alt genug, um seiner Mutter den kleinen Gefallen zu tun und ihr durch sein Schauspiel die Möglichkeit zum Abschalten zu geben. Täglich durchlebt er vor dem Einschlafen noch einmal in Gedanken diesen Tag voller Gewalt, Gewalt, die für ihn omnipräsent ist. Sie ist anders, subtil, hat eine andere Form.