Mitglied
- Beitritt
- 06.03.2006
- Beiträge
- 7
Mutterland
Mutterland
„Setzt euch!“, bellte der Vorstandsvorsitzende. Die Zeiten, in denen die Bosse durch die Blume mit ihren Untergebenen sprachen, waren längst vorbei.
Erik und die anderen Geladenen nahmen Platz.
„Ich werde mich kurz fassen“, schnarrte der Vorsitzende ins Mikro.
„Alle hier Anwesenden sind über 40.“
Erik schaute sich um.Tatsächlich, es sah so aus. Kein jugendliches Gesicht war zu sehen.
„Eure hundertprozentige Leistungsfähigkeit ist nicht mehr gewährleistet und deswegen …“
Der Vorsitzende schaute genüsslich in die Runde, bevor er die Katze aus dem Sack ließ.
„… werden eure Sozialbezüge um 10 % gekürzt. 10 % weniger Gehalt und 10 % weniger Urlaubsanspruch.“
Das saß.
Erik sackte in sich zusammen.
Der Vorstandsvorsitzende gab indessen weiter Gas.
„Die derzeitige schwierige Marktsituation zwingt uns zu diesem Schritt. Gibt es jemanden, der damit Probleme hat?“, brüllte er mit puterrotem Kopf in die Runde.
Erik wusste, dass diese Frage rein rhetorisch war.
Wer sich jetzt beklagen würde, dem würde entweder sofort oder bei der nächstbesten Gelegenheit gekündigt werden.
„Dann war’s das. Verschwindet!“, polterte der Vorstand.
Erik erhob sich und schlich gebückt zum Ausgang, ebenso wie seine Schicksalsgenossen. Es gab keine Möglichkeit, sich zu wehren. Die Arbeitslosigkeit lag bei 25 %. In seinem Alter hatte Erik keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt.
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als alles über sich ergehen zu lassen.
Er verließ das Firmengebäude und lief ziellos durch die Stadt.
An einem Kiosk blieb er stehen und überflog kurz die Schlagzeilen.
Es wurde berichtet von Selbstmordattentaten in Bagdad, Tel Aviv, Madrid, Washington, New York, London und Paris.
„Nichts Neues also“, dachte Erik und schlenderte traurig weiter.
Es war müßig, jetzt nach Hause zu gehen. Es gab niemanden, der auf ihn wartete.
Seit seiner Scheidung hatte er sich nicht mehr auf eine Beziehung eingelassen.
Er hatte auch keine Energie mehr, einen neuen Partner zu suchen.
Erik hatte sich damit abgefunden, zu den Armen zu gehören. Zwar arbeitete er an die 200 Stunden pro Monat in der Buchhaltung und war gewaltigem Stress ausgesetzt, dennoch verdiente er nur gerade so viel, das es zum Überleben reichte.
Er konnte die Miete bezahlen, Nahrung und Kleidung kaufen und alle anfallenden Rechnungen bezahlen. Das war es dann aber auch.
In einiger Entfernung sah Erik grünes Licht blinken.
„Mutterland“, erkannte er. Langsam schlenderte er dorthin.
Auf dem Weg dahin entdeckte er einen Bekannten. Der sah ihn ebenfalls, schaute dann aber schnell weg und tat so, als ob er ihn nicht gesehen hatte.
„Typisch heutzutage. Es gibt keine Kraft mehr im Land, keine Liebe und keine Zuversicht. Wir sind nur noch schwach und ausgelutscht, so ist es“, schimpfte Erik leise vor sich hin.
Er betrat Mutterland.
Es standen ungefähr 50 Mütter zur Auswahl. Junge, alte, deutsche, ausländische, dicke, dünne, schöne, hässliche, dumme und schlaue Mütter, alles war vertreten.
Erik taxierte die Mütter und entschied sich schließlich für eine Blondine.
Gemeinsam gingen die Beiden in ihr Separee.
„Wie heißt du?“
„Siw“
„Ich heiße Erik.Wie alt bist du?
„30.“
Es spielte keine Rolle, dass die Mutter 10 Jahre jünger als der Kunde war.
„Hier ist es“, sagte Siw und öffnete eine Tür.
Erik trat ein und sah einen schlichten Raum mit einer gewaltigen, gemütlichen Ledercouch.
Siw nahm Platz, Erik ebenfalls und Siw nahm Erik in den Arm.
Dann wurde sie zu seiner Mutter.
„Es ist nicht so schlimm, Erik.“
Sie streichelte seinen Kopf einige Minuten lang.
„Es wird schon wieder werden.“
Sie begann, ihn ansatzweise hin-und herzuwiegen, so gut man eben einen 40jährigen Mann wiegen konnte. Sie ließ sich Zeit dabei.
Erik kamen die Tränen. Der ganze Frust der letzten Wochen, speziell die gerade erfahrene Demütigung durch den Vorstandsvorsitzenden, forderten ihren Tribut.
Er war erledigt, doch er stellte sich vor, dass der Fluss seiner Tränen sein Leid minderte.
„Lass es raus“, sagte seine Mutter denn auch sanft.
Erik begann zu schluchzen und weinte schließlich hemmungslos.
„Ist ja gut. Es wird wieder werden“, sagte seine Mutter und fuhr fort, seinen Kopf zu streicheln.
Langsam beruhigte sich Erik wieder. Die Tränen versiegten allmählich, während seine Mutter ihn nach allen Regeln der Kunst tröstete und liebkoste.
Irgendwann stand Erik auf und beendete so das Intermezzo.
Siw schaute auf die Uhr.
„Es hat eine Stunde gedauert. Das macht 100 Euro.“
Diese 100 Euro waren genau das Geld, das Erik jeden Monat nach Abzug aller Kosten übrig hatte.
Doch er gab es gerne.
„Wer weiß, wenn sie mich nicht getröstet hätte, vielleicht wäre ich dann bereits heute Nacht vor lauter Kummer gestorben“, vermutete er.