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Mutterinstinkt

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29.10.2014
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Mutterinstinkt

Von Anfang an war es mehr als offensichtlich. Als Karin das erste Mal ihren Sohn in ihren Armen hielt, lief – nein, vielmehr schlich – ihr ein Schauer über den Rücken. Zu der Zeit schob sie ihre merkwürdige Gefühlslage, die, nach allem, was sie über das Muttersein gehört hatte, von purer Freude hätte bestimmt sein sollen, auf die Strapazen der Geburt. Sie dachte immer, Frauen hätten, im Gegensatz zu Männern, ein profundes Verständnis dieser Situation, die auf dem Papier doch so unwirklich erscheint. Ein Lebewesen wächst in deinem Bauch heran. Schon während der Schwangerschaft war das für sie nur ein abstrakter Gedanke gewesen. Natürlich wusste sie, was in ihr passiert. Aber sie wusste es, wie sie wusste, dass das Universum sich ausdehnt. Oder dass der Mond Ebbe und Flut bestimmt. Diese Dinge passieren um uns, jedoch sind sie nicht wirklich Teil der Lebensrealität. Eine solche Distanz spürte sie in Bezug auf einen Prozess, der faktisch innerhalb ihres Körpers stattfand. Es war ihr Kopf, der diesen Widerspruch hätte lösen müssen, aber auch er versagte ihr. Die Hoffnung, dass sich dieses Gefühl der Entfremdung legen würde, sobald sie den kleinen Kerl vor sich hatte, zerschlug sich in dem Moment, als der Oberarzt ihr mit einem breiten Grinsen, das alle seine Zähne, die heller leuchteten als das scheußliche Krankenhauslicht, zur Schau stellte, Damian entgegenstreckte.

In den nächsten Tagen, die sie im Bett auf ihrem Zimmer verbrachte, musste sie ständig daran denken, wie junge Eltern häufig debattierten, wem das Neugeborene ähnlicher sieht und welches Körperteil wem „gehört“. Das erinnerte sie immer an Verhandlungen über territoriale Ansprüche nach einem Krieg: „Ich lass dir die Nase und die Ohren, dafür bekomme ich Augen, Kieferpartie und Lippen.“ Sie hielt das für ziemlich albern, da sie überzeugt war, dass die Wahrnehmung doch so unglaublich subjektiv ist und mehr vom betrachtenden Individuum als vom betrachteten Objekt abhängt. Als sie noch ein Kind war, kamen Menschen – wildfremd, zumindest für sie – auf sie zu und sagten Dinge wie „Mensch Karin, du wirst deinem Vater auch immer ähnlicher!“ oder „Du hast dasselbe verschmitzte Lächeln wie dein Papa!“ Ihr Vater war nicht ihr Vater. Nur das wussten sie nicht. Das wusste ihr „Vater“ auch lange nicht. Es dauerte Jahre bis das Geheimnis ans Tageslicht kam. Gefangen in einer Ehe, die von diversen emotionalen Erdbeben zerrüttet war, waren ihre Eltern irgendwann in einer solchen Spirale aus Vorwürfen und Schuldzuweisungen, dass ihre Mutter fast froh schien, als sie noch diese verbale Geheimwaffe in ihrem Arsenal hatte. Karin war sich damals nicht sicher, ob ihre Mutter die Ehe auf diese Weise gewaltsam beenden wollte, aber dachte man an die diversen Demütigungen, die sie von ihrem Mann hatte ertragen müssen, lag es nahe, dass sie am Ende keinerlei Scham, sondern nur Genugtuung verspürte, als sie das letzte Wortgefecht mit dem Satz „Und Karin ist gar nicht von dir!“ beenden konnte.

Wenn sie nun ihrem Kind in die Augen sah, beneidete sie die Menschen, die zumindest diskutieren konnten, wem das Baby ähnlicher sah. Wenn Karin Damian ansah, sah sie nie Damian. Die strahlenden, grün-grauen Augen waren nicht seine Augen. Die schmalen Lippen waren nicht seine Lippen. Das leicht ovale Gesicht war nicht sein Gesicht. Dies waren höchst täuschend echte Kopien der Merkmale die Jan so einzigartig machten. Jan. Diesen Namen wollte sie eigentlich für immer aus ihrem Gedächtnis streichen. Jetzt sprang er ihr jeden Tag ins Gesicht.

Auch wenn das vielleicht ebenso nur ein Streich war, den ihre subjektive Wahrnehmung ihr spielte, konnte sie die Beklemmung, die der Anblick ihres Kindes auslöste, nicht abschütteln. „Alles ist in seiner Konsequenz real.“ Dieser Leitsatz war ungefähr das Einzige was ihr aus ihrem abgebrochenen Soziologiestudium in Erinnerung geblieben war. Für sie war es Realität, dass Jans Merkmale jeden Tag ein bisschen mehr in Damians Gesicht zum Vorschein kamen. Als hätte sie eine unsichtbare Hand über Nacht dort eingraviert. Die Mimik glich zunehmend der von Jan, ob Damian nun glücklich oder traurig war. Die bis dahin nur sporadisch vorhandenen Haare begannen sich genauso zu kräuseln. Eine Zeit lang war es ihre Lieblingsbeschäftigung, mit ihren Händen durch Jans Locken zu fahren. Doch den Jan, den sie einmal liebte, gab es nicht mehr. Sie waren nur zehn Monate zusammen, doch diese kurze Zeit reichte ihm, um sich in jemanden oder besser gesagt in etwas anderes zu verwandeln. Dieses Etwas war zu Taten fähig, die der Jan, in den sie sich verliebt hatte, nie in Erwägung gezogen hätte. Ihre Mutter meinte, kurz nachdem sich Karin befreien konnte, nur lapidar, dass am Ende sein wahres Ich zum Vorschein gekommen wäre. Doch daran wollte sie nicht glauben. Sie wollte nicht glauben, dass sie sich in ein Monster verliebt hatte. Irgendetwas hatte ihn zu diesem Monster gemacht.

Nun musste sie aufpassen, dass der Schmerz dieser Erinnerung ihr nicht die letzte Kraft nahm, die sie zur Aktivierung ihrer Verdrängungsmechanismen brauchte. Diese hatte Karin schon entwickelt als sie noch schwanger war, um im Alltag nicht ständig die Fassung zu verlieren, zum Beispiel, wenn sie Kollegen oder entfernte Familienmitglieder fragten, wer denn der stolze Vater sei. Im fünften Monat schaffte sie es, sich für die Dauer des Gesprächs zusammenzureißen und entweder dem Gegenüber ins Gesicht zu lügen oder das Gespräch schnell in eine andere Richtung zu lenken. Doch umso größer der Bauch wurde, desto häufiger sah sie sich mit diesen Situationen konfrontiert. Die allabendlichen Heulkrämpfe wurden dabei im selben Maße intensiver. Als ob sich die Tränen den Tag über angesammelt hätten, nur zurückgehalten von einem Staudamm aus falschem Stolz, Trotz und Willenskraft, der aber schon erste Risse bekam, sobald sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufstieg. Nachdem sie die Tür hinter sich schloss, bahnte sich der Strom aus Tränen seinen Weg und der Damm erwies sich als ein morsches Provisorium. Nun, da die Erinnerung an Jan anthropomorphisiert ständig um sie herum krabbelte und ihre Aufmerksamkeit forderte, war in ihr permanenter Hochwasseralarm. Wenn Damian sie mit seinen großen Augen anguckte, meinte Karin zu spüren, dass er spürte, dass es ihr nicht gut ging. Und dass es etwas mit ihm zu tun hatte. Dann streckte er seine winzigen Finger nach ihrer Hand aus und guckte verlegen zu Boden, so als wollte er sagen: „Ich kann doch nichts dafür!“

Dass Jan es schaffte, obwohl er gar nicht mehr in ihrem Leben präsent war, ihre Versuche eine gesunde Mutter-Kind-Beziehung aufzubauen, zu sabotieren, machte sie wütend und traurig zu gleich. Sie dachte, dafür müsste man ein neues Wort erfinden. Englisch erachtete sie da als akkurater. Sadness und Madness trennt nur ein Buchstabe. Wie einen Ausschlag spürte sie den vorwurfsvollen Ausdruck auf ihrem Gesicht, wenn sie Damian ansah. Manchmal wollte sie ihn regelrecht anschreien, aber sie hatte sich nie wirklich daran gewöhnt mit ihm zu sprechen. Es fühlte sich an wie mit einer Pflanze zu sprechen, dessen Sinnhaftigkeit ihr auch immer verborgen blieb.

Wie für jeden anderen auch, waren für sie Kinder bisher ein Symbol von vollkommener Unschuld. Geschöpfe, die gar nicht in der Lage sind, Böses zu denken, geschweige denn zu tun. Wesen, die eine so unwirklich reine Seele zu haben scheinen, dass sie den Gedanken, dass auch Mörder und Despoten einmal Kinder waren, für äußerst befremdlich hielt. „Der kleine Anders hat seine ersten Schritte gemacht!“ „Unser Adolf ist ja so aufgeweckt!“ „Ist unser Baschar nicht ein süßer Spatz?“ Nur Damians Antlitz assoziierte Karin nicht mit reiner Unschuld, sondern eher mit dem genauen Gegenteil. Schuld. Er war schuld. Schuld an dem Gemisch aus Trauer und Wut; schuld an dem Hochwasser; schuld, dass sie nicht vergessen konnte. Sein einziges Vergehen war seine Existenz. Doch das wog schwer. Jedes Mal, wenn sie seine Windel wechseln musste, zitterte sie am ganzen Körper. Jedes Mal, wenn er nachts schrie, blieb sie so lange liegen, bis das Schreien unerträglicher wurde als der Schmerz, den sein Gesicht bei ihr auslöste. Jedes Mal, wenn sie ihn badete, schossen ihr Gedanken durch den Kopf, durch die sie Angst vor sich selber bekam. Gedanken, von denen sie annahm, dass ein normaler, friedliebender Mensch gar nicht im Stande wäre sie zu denken.

***

Er wollte sich gerade lauthals ärgern, dass die Zeitung an diesem Morgen schon wieder nicht gekommen war. Lang genug geschlafen hatte er. Da hätte sie schon längst im Briefkasten stecken müssen. Sein Ärger über die Vorstellung, die ganze Zeit an die Wand starren zu müssen, während er sein Müsli essen würde, war noch nicht verflogen, da wurde seine Aufmerksamkeit abrupt auf eine dunkelblaue Tragetasche, die sich ein paar Meter weiter in seinem kleinen Vorgarten befand, gelenkt. Hatte die hier jemand vergessen? Sowas lässt man doch nicht einfach so liegen! Dann hielt er inne. Bewegte sich da etwas? Ganz vorsichtig, so als könnte sich alle Mögliche in der Tasche befinden, näherte er sich ihr. Als er zwei Schritte vor ihr stand, beugte er sich leicht nach vorne. Zunächst sah er nur eine hellrote Decke, auf der sich ein Briefumschlag befand. Er nahm ihn an sich. In dem Moment gab etwas unter der Decke einen kurzen, quietschigen Laut. Er war noch zu verwirrt, um nachzusehen, was es ist und hoffte, dass die Notiz in dem Umschlag für Klarheit sorgen würde. Vor allem hoffte er, dass das alles nur ein großes Missverständnis war. Er las sich die Mitteilung durch und zerknüllte sie sofort. Unbehagen machte sich in ihm breit, aber auch eine gewisse Neugier. Vorsichtig beugte er sich tiefer und zog die Decke ein Stück herunter. Zwei große Augen blickten ihn erwartungsvoll an. Er bekam ein Gefühl, wie wenn man in einer fremden Stadt unterwegs ist und eine Person auf der Straße sieht, von der man sich sicher ist, dass man sie irgendwoher kennt. Man hat sie definitiv noch nie getroffen und fragt sich doch, wo man sie schon mal gesehen haben könnte. Kurz darauf wusste er, wo er dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte: Ein paar Minuten zuvor im Badezimmerspiegel.

 

Hallo Dekon,

erst mal Kleinkram:

Nachdem sie die Tür hinter sich schloss,
Da zu Beginn nachdem steht, müsste es geschlossen hatte heißen.
aber sie hatte sich nie wirklich daran gewöhnt[Komma] mit ihm zu sprechen. Es fühlte sich an[Komma] wie mit einer Pflanze zu sprechen, dessen Sinnhaftigkeit ihr auch immer verborgen blieb.
Wenn Du die Sinnhaftigkeit der Pflanze meinst, muss es deren heißen.
Er war noch zu verwirrt, um nachzusehen, was es ist
war

Es gibt noch einige Kommafehler, aber ich habe mich damit nicht weiter aufgehalten.

Das Ende ist irgendwie unbefriedigend. Man könnte fragen. Wer ist denn nun das Monster, aber da der Leser ja nicht einmal erfährt, wieso Jan zum Monster geworden ist und was das konkret bedeutet, ist hier nicht einmal eine Entscheidung möglich.

Streckenweise las sich Deine Geschichte wie ein Fallbeispiel von der Uni - distanzierte Objektivität. Gefühle und Emotionen sparsam eingestreut und durchweg negativ. Das mag ja angehen, um einen - liebesunfähigen? - Menschen zu beschreiben, aber bei dem Satz "sie hatte sich nie wirklich daran gewöhnt mit ihm zu sprechen" hats mich doch umgehauen. Da Damian ja schon krabbeln konnte, muss er mindestens sechs Monate bei seiner Mutter gelebt haben. Und weitere Menschen werden nicht erwähnt. Mit einem Kind in dieser Entwicklungsphase nicht zu sprechen führt zu schweren Entwicklungsstörungen - d.h. die Prot stellt dem "lieben" Jan ein weiteres Monster in Entwicklung in den Vorgarten?

Na ja und eigentlich hätte ich schon gerne gewusst, was nun geschieht. Aber die Geschichte hört auf, als es endlich spannend wird.

Liebe Grüße

Jobär

 

Hey Dekon

Dies waren höchst täuschend echte Kopien der Merkmale die Jan so einzigartig machten.
Hier fehlt ein Komma: "...der Merkmale, die Jan so einzigartig machten." (Relativsatz).

Das wäre das, was mir auf den ersten Blick aufgefallen ist. Ansonsten finde ich, ehrlich gesagt, deine Geschichte nicht sehr berauschend. Der Anfang ist etwas langatmig, es findet nur eine Beschreibung einer Situation statt, jedoch keine Interaktion. Die Idee des Schlusses finde ich eigentlich gut, nur könnte man m.E. gleich damit beginnen und den ganzen Anfang weglassen und stattdessen dort weiterschreiben, wo es jetzt so abrupt endet.

Was ich mich auch noch gefragt habe: Kann ein Kleinkind tatsächlich jemandem schon so extrem ähnlich sehen, dass diese Person gleich das Gefühl hat, sich selbst darin wiederzuerkennen? Um das genau zu beurteilen, fehlt mir jedoch die Babyerfahrung:)

Herzlich, nevermind

 

Hi,

erstmal danke für eurer Feedback!
jobär: Die Hintergründe, die zu dem Zerwürfnis zwischen Karin und Jan geführt haben und die Frage, warum sie für ihn so ein Monster ist, habe ich bewusst offen gelassen. Im Vordergrund steht für mich der Konflikt, den die Mutter beschäfigt, dass sie den Menschen, der einem am nächsten sein sollte, nicht lieben kann, weil schmerzhafte Erinnerungen mit ihm assoziiert werden. Wie diese genau aussehen, könnte man natürlich noch ausführen, aber die Beziehung zwischen Karin und Jan sollte eigentlich nicht in den Fokus gerückt werden.
Für mich greift am Ende dann doch noch der Mutterinstinkt (deshalb auch der Titel), der eigentlich schon verlorgen geglaubt schien. Bevor sie sich völlig von ihrem Sohn abwendet oder schlimmer noch, ihm etwas antut, gibt sie ihm lieber weg. Wie es jetzt zwischen Jan und Damian weitergeht, wäre wieder eine andere Geschichte.
nevermind
Ja, an den Kommas muss ich arbeiten :)
Nach dem ich die Geschichte geschrieben hatte, habe ich mir die selbe Frage gestellt wie du. Deshalb habe ich Karins Gedanken zu Subjektivität und Objektivität der Wahrnehmung mitreingenommen. Es spielt gar keine so große Rolle, ob Damian wirklich so genau wie Jan aussieht. Wichtig ist nur, dass Karin es so sieht. Vielleicht sind die Merkmale für Außenstehende auch kaum sichtbar, aber bei ihr lösen sie diese extreme Reaktionen aus.

Das finde ich interessant, dass ihr beide findet, die Geschichte müsste noch weiter gehen. Ich fand die Dynamik zwischen Mutter und Kind viel spannender. Jedoch wollte ich diese mit Fokus auf Karins Gedanken und Gefühle beschreiben. Deshalb gibt es auch wenig Interaktion in dem Sinne. Dialog kann es ja zwischen den beiden nicht geben.

Ich kann eure Kritk auf jeden Fall nachvollziehen, aber das Ende würde ich schon gerne so lassen. Auch weil es sich hier um eine Kurzgeschichte handelt. Bei einem längeren Text könnte man das sicherlich anders angehen.

Gruß,
Dekon

 

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