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Mutprobe
Aiden schlief fast, in seinem Kopf wirbelten noch ein paar Gedanken herum.
`Diese blöde Mutprobe´, dachte er, `wie habe ich mich bloß darauf einlassen können? Nun stecke ich in diesem Schlamassel.´
*
Wie immer begannen die Sommerferien voller Erwartungen. Es würden Aidens letzte Schulferien sein, er wollte keine weiterführende Ausbildung und hatte sich einen Job gesucht. In vier Wochen sollte für ihn der Ernst des Lebens beginnen.
Doch vorerst ging es für ein paar wundervolle Wochen hinaus auf´s Land zu Onkel Paul, Tante Sani und zu Thomas. Thom war nicht nur sein Cousin, sondern auch sein bester Freund, dies dachte Aiden bis vor kurzem jedenfalls noch, mittlerweile hatte sich seine Meinung dahingehend gravierend geändert.
*
Er fror nicht mehr so stark, war es endlich etwas wärmer geworden? Aiden drehte den Kopf und lugte durch die kleinen Schlitze seiner Augenlider in den dunklen Raum hinein. Wie spät es wohl war?
*
Es war noch früher Morgen gewesen, als Heather unten an der Treppe stand und zu ihm hinauf kreischte: “Aiden, komm endlich herunter! Du weißt, ich möchte vor dem Abend wieder zu Hause sein!“ “Ich bin gleich da!“, hatte er geantwortet und es vermieden dabei patzig zu klingen.
Aiden mochte seine Stiefmutter nicht, er fand sie furchtbar eingebildet und wußte, dass auch sie nicht allzu große Gefühle für ihn hegte. Doch in diesem Moment war sie der Boss gewesen, von ihr hing es ab, dass Aiden noch in dieser Woche zu Thomas fahren konnte, denn er hatte trotz seines Alters noch keinen Führerschein gemacht und sein Vater sollte erst in vierzehn Tagen von seiner Geschäftsreise zurückkommen.
Von eben einer solchen hatte er sie mitgebracht. An diesen Tag vor drei Jahren konnte sich Aiden immer noch ganz genau erinnern.
Er hatte die Tür geöffnet, als er den Wagen vor dem Haus hörte. Die Hecke in der Auffahrt blühte in voller Pracht. Sein Vater stoppte den blauen Ford, und sie stieg aus. Da stand sie dann, wie ein Anziehpüppchen in ihrem weißen Kostüm und den Stöckelschuhen, vor der Hecke, die seine Mutter selbst gepflanzt hatte.
“Hallo Sportsfreund!“, hatte ihm sein Vater zugerufen, “komm und hilf uns mit dem Gepäck.“
Schon eine Woche später hatte Aiden die Fluglinie verflucht, die Heather aus London zu ihm brachte.
*
Vorhin hatte Aiden noch Hunger, doch er war zu müde um auf dieses Gefühl einzugehen und nun war es weg. Noch immer war es stockdunkel, der Sonnenaufgang ließ noch auf sich warten. Er drehte den Kopf auf die andere Seite und schloß die Augen.
*
“Da seid ihr endlich! Schön, dass ihr es geschafft habt.“ Mit offenen Armen war Tante Sani Aiden entgegen gelaufen, als er aus dem Wagen ausgestiegen war. Heather half noch beim Ausladen der Taschen und verschwand sofort danach wieder hinter dem Steuer. “Willst du nicht noch ein wenig essen, bevor du zurückfährst, Heather?“ Tante Sani war stets um das Wohl der anderen besorgt.
“Nein danke, vielleicht das nächste Mal“, antwortete Heather und verlieh ihrer Aussage Nachdruck, indem sie den Motor startete, “und benimm dich, Aiden, in fünf Wochen hole ich dich wieder ab.“ Damit war sie ohne weitere Worte davongerauscht.
Tante Sani kochte herrlich. Aiden genoß das Abendessen, wie schon lange keines mehr.
“Habt ihr schon Pläne für morgen?“, wollte Paul wissen. “Ich... .“, noch bevor Aiden seinem Onkel antworten konnte, war Thom ihm ins Wort gefallen: “Klar Paps, ich bringe ihn zu Lizzy, im letzen Sommer sind die beiden ja über ein `hallo´ nicht rausgekommen!“ Sein Lachen endete abrupt durch einen Tritt, den er sich unter dem Tisch einfing. Aiden war rot geworden und hatte den Blick hilfesuchend auf sein Steak gerichtet.
Am nächsten Morgen wanderten die beiden Jungen zum See hinunter. Ihr Weg führte sie ein Stück durch den Wald, in dem die frühe Sonne kleine Schatten auf dem Boden tanzen ließ.
“Schön hast du es hier.“, tief hatte Aiden die frische Luft eingesogen und vor sich hin geschwärmt.
*
Im Halbschlaf rümpfte er die Nase. Es roch muffig. Gern hätte er ein Fenster geöffnet, er liebte den Duft von Kiefern.
*
Den ganzen Tag hatten die Jungen am See verbracht, waren getaucht und um die Wette geschwommen, stets in der Hoffnung, Lizzy und die anderen Mädchen würden ebenfalls den Weg zum kühlen Naß finden, doch sie blieben allein.
Am Abend hatten sie sich auf dem Badefelsen von der Sonne trocknen lassen. “Hier könnte ich für immer bleiben.“ Aidens Blick war über das Wasser zum anderen Ufer hinüber geschweift. “Meine Güte“, Thoms Stimme hatte vorwurfsvoll geklungen, “mach dir doch nichts vor, Stadtmensch, hier ist es sterbenslangweilig. Wenn du ewig hier leben müßtest, kämest du auch dahinter. Ich gebe dir ja recht, die paar Wochen in denen du hier bist, ist es ganz okay, aber sonst...! Du würdest es hier nicht lange aushalten, das wette ich!“ Aiden hatte seinen Freund fragend angesehen. “Ja, was glaubst du?“, die Antwort war spitz gewesen, “Ihr Leute aus der Stadt seid doch alle verwöhnt, verwöhnt und verweichlicht.“
“Also das stimmt doch gar nicht!“ Wut war in Aiden hochgestiegen.
“Oh, doch, eine Nacht hier draußen allein, und du würdest gleich zu Papi rennen!“ Thom hatte das Gesicht verzogen und mit den Armen wild herumgefuchtelt, um übertrieben ein schreiendes Kind nachzuäffen.
“Jetzt reichts! Du hast sie ja nicht alle!“, beleidigt war Aiden aufgestanden und wandte sich ab um zu gehen.
“Siehst du, es fängt ja schon an, heulst du gleich?“
“Nein, tue ich nicht! Aber sowas brauche ich mir von dir nicht anzuhören!“
Thom hatte sich neben ihn gestellt und flüsterte auffordernd: “Beweis es.“
*
Aiden lag da und fragte sich wieder, wie er sich dazu hatte hinreißen lassen. Er wollte sich umdrehen, sein Rücken schmerzte vom langen Liegen, aber er fand nicht die Kraft dazu. Seine Beine gehorchten ihm nicht, schwer hingen sie am Körper, doch er konnte sie nicht fühlen.
*
Auf dem Heimweg war der Plan geschmiedet worden. Thom hatte vorgehabt seinen Eltern zu erzählen, Aiden wolle ein paar Tage bei Joel verbringen, einem Freund, den sie am See getroffen hätten, weil dieser einen eigenen Computer besäße und Aiden sich dafür interessiere. Dann wollten sie heimlich Thoms Zelt im Wald aufbauen, in dem Aiden mindestens eine Nacht allein hätte verbringen sollen.
Tante Sani und Onkel Paul hatten den Jungen die Lüge abgenommen, ohne an dem Wahrheitsgehalt der Aussage zu zweifeln, und Aiden viel Spass gewünscht.
“Eigentlich ist ein Zelt viel zu komfortabel!“, Thom hatte seinen Cousin hämisch angegrinst, “wenn du wirklich etwas auf dem Kasten hast, dann hätte ich eine viel bessere Idee.“ “Welche?“ “Also, wenn du echt Mumm in den Knochen hast...“, stichelte Thom.
“Gut, mach es nicht so spannend!“ Aiden war kurz davor gewesen die Geduld zu verlieren.
“Okay. Kannst du dich an das alte Haus im Wald erinnern? Da wo wir früher immer Verstecken gespielt haben?“ “Klar.“ “Das Haus ist mittlerweile zusammengefallen, aber der alte Vorratskeller ist nach da, du weißt, die kleine Hütte, die daneben stand, so halb im Boden eingelassen. Du bekommst meinen Schlafsack. Das Minimum ist eine Nacht.“
Aiden war es nun doch etwas mulmig geworden. So tief im Wald allein in einer dunklen Hütte zu sitzen, um seinen Mut zu beweisen, hatte er nun für ein wenig gewagt gehalten. Was würde sein, wenn ihm schlecht werden würde, oder er sich gar verletzte?
Gut drei Kilometer betrug der Rückweg, und den in der Nacht zu schaffen wäre schwierig gewesen. Wahrscheinlich hatte Thom ihm seine Zweifel angesehen. “Bist du ein Mädchen, oder was?“ “Ach halt die Klappe. Die Sache ist geritzt!“
*
`Geritzt...´ Nun war nicht nur die Sache geritzt, vielmehr auch seine Hände. Sie waren kalt. Das Blut war sicherlich schon getrocknet.
*
Am späten Abend waren die Jungen an ihrem Ziel angekommen. Die Sommersonne hatte fast den Horizont erreicht. “Also gut, Stadtjunge, steig da rein!“, befahl Thom und hob die schräg liegende Holztür an, die die Stufen hinunter in den kleinen Keller verbarg, “eine Nacht und wir...“ “Mach zwei daraus!“ Aiden war sich nun seiner Sache sicher gewesen, und steckte sich lässig eine Zigarette an.
Erstaunt hatte Thom ihn angesehen und hochachtungsvoll mit dem Kopf genickt: “Okaaay! Dann komme ich übermorgen Früh und hole dich ab.“
Die Tür war hinter ihm zugefallen und er hatte noch gehört, wie sie von draußen verschlossen wurde.
Dann hatte er in seinem Rucksack nach der Taschenlampe gekramt, während Thomas sich auf sein Mountain Bike schwang und ihn zurückließ.
Aiden hatte den Schlafsack zurecht gelegt und nachgesehen, was ihm für zwei Nächte und einen Tag im Rucksack blieb: vier belegte Brote, zwei Dosen Cola, ein Comic Heft, eine Schachtel Marlboro mit Feuerzeug und ein Päckchen Taschentücher. “Ich Idiot!“, hatte er sich selbst geschimpft, “das reicht ja gerade für heute Nacht!“
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`Nein.´, dachte Aiden, `Es hat für zwei Tage gereicht.´ Wieder öffnete er die Augen. Er hatte das Gefühl, langsam den Raum erkennen zu können. `Die Nacht ist vorüber.´
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“Morgen früh hole ich dich ab, mal sehen, ob du dir vor Angst in die Hosen geschissen hast.“, murmelte Thom beim Abendessen. “Hast du was gesagt?“ Paul sah zu seinem Sohn hinüber. “Nein Paps, nichts wichtiges.“ “Gut. Thomas, ich brauche dich morgen früh, wir müssen in die Stadt fahren, ich brauche noch Düngemittel für das hintere Feld. Du mußt mir beim Aufladen helfen, meinem Rücken geht es wieder schlechter.“
Zuerst wollte Thom seinem Vater widersprechen, hatte sich dann aber gedacht, ein paar Stunden mehr würden dem Stadtjungen sicher Angst einjagen, und Aiden hätte gestehen müssen ein Weichei zu sein. “Klar, mach ich doch gern.“
Der alte Ford Pick-up war gerade auf die Landstraße eingebogen. “Thom, hat deine Mutter noch etwas haben wollen?“ “Ich habe sie nicht gefragt.“ “Verdammt, Junge, ich hatte dich darum gebeten! Wo hast du denn bloß wieder deinen Kopf? Sohn, wenn du einmal den Betrieb übernehmen willst, solltest du langsam gefälligst damit anfangen...!“ “Vorsicht, Papa!“, Thom hatte gerade noch seine Hand heben können, um nach vorn auf die Straße zu zeigen.
Das grelle Hupen des LKW erfüllte die Stille. In Pauls Augen stand schiere Angst. Er riß das Lenkrad herum, dann war es dunkel geworden.
Aiden hatte bis zum Nachmittag gewartet. “Du Arsch! Du willst mich hier schoren lassen! Warte, bis ich wieder draußen bin!“, er war aufgestanden um an der Tür zu rütteln. Vorher hatte er nicht versucht sie zu öffnen, er wollte fair bleiben und das Spiel gewinnen.
Der Ausgang war gut verschlossen, die schwere alte Tür hatte keinen Zentimeter nachgegeben. Aidens Hungergefühl stieg ins Unermeßliche und er hätte dringend eine Toilette gebraucht. In einer Ecke war von ihm schon ein kleines Loch in die feste Erde gebuddelt worden, dass er als eine Art “Urinauffangbecken“ schon ein paar Mal besucht hatte, doch sich hier drin in eine Ecke zu hocken war ihm bis jetzt zu wider gewesen.
*
“Gut, dass ich es gemacht habe.“ ,flüsterte er, “sonst würde ich mir wahrscheinlich gleich in die Hose scheißen, wär wohl kein toller Anblick.“ Das Sprechen fiel ihm schwer, ein stechender Schmerz fuhr im durch die Brust und er hustete schwach.
Vor drei Tagen hatte er das Rufen aufgegeben. In der Ferne waren Waldarbeiter am Werk gewesen, das helle Brummen der Kettensägen hatte Aiden aus dem Schlaf gerissen. Den ganzen Vormittag hatte er aus Leibeskräften immer dann geschriehen, wenn ein Baum seinen Wunden erlegen und zu Boden gestürzt war. Niemand kam, die Arbeiter waren wohl einfach zu weit entfernt.
Bis dahin hatte Aiden versucht sich durch den Boden einen Weg ins Freie zu graben, doch die harte Erde, Wurzeln und Steine verweigerten ein Durchkommen, und er wandte sich dem harten Holz der Tür zu, denn die Wände bestanden aus ganzen Baumstämmen, nahtlos übereinander gelegt wie die eines Blockhauses. Hier sah er keine Chance.
Von den schmalen Ritzen zwischen den Bohlen ausgehend hatte er mit den Fingernägeln begonnen winzige Stückchen herauszubrechen, nachdem seine Stöße, Tritte und Schläge sie nicht zu öffnen vermochten.
Auch die Taschenlampe, die er nach ihrem Versagen als Werkzeug einsetzte, lag inzwischen verbeult und mit zerborstenem Glas in einer Ecke.
Gestern morgen versagte Aidens letzter Nagel seinen Dienst, schmerzhaft brach er ab und riß sich dabei ein kleines Stück vom Fleisch hoch, an dem er ursprünglich angewachsen war.
Aiden weinte nicht mehr, kroch mit letzter Kraft zu seinem Schlafsack hinüber und rollte sich darauf.
Seine Kehle war trocken und kratzig, die Holzkrümel, die er geschluckt hatte schienen ihre Spuren hinterlassen zu haben, doch es machte ihm nichts mehr aus.
Er zwinkerte. “Die...Sonne...es...ist...Morgen...“
Die Strahlen fielen schüchtern durch die Ritzen in der Tür.
*
“Schatz, er wacht auf!“ Sani zog ihren verschlafenen Mann an das Krankenhausbett. “Thomas mein Sohn, Gott sei dank! Es tut mir so leid, so schrecklich leid!“ “Was ist passiert?“ Verwirrt sah sich der Junge in dem hellen Zimmer um. “Wir hatten einen Unfall, kannst du dich erinnern... der LKW... ich bin auf die Gegenfahrbahn geraten, und...“ “Was für ein Tag ist heute, Paps?“
“Freitag, wieso? Du hast über eine Woche im Koma gelegen, ich dachte schon... .“
“Aiden.“ “Aiden ist noch bei Joel, wir wollten ihm noch nichts sagen, bis wir mehr wußten, bis du... .“ “Nein, Aiden.“
*
Aiden blickte auf die feinen Strahlen, die zu ihm hereinlugten. Kleine Staubflöckchen tanzten darin auf und ab.
Er schloß die Augen mit einem Lächeln, hinter seinen Lidern wurde es hell und ihm war wohlig warm nach dieser kalten Nacht. “Mama.“