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Mutprobe
Mutprobe
Sie hatte schon lange mit diesem Gedanken gespielt.
Oft schon hatte sie sich ausgemalt wie sie es tun würde.
Sie war auf Hochhäuser hinaufgefahren, und hatte sich einen passenden Startplatz gesucht.
Dann dachte sie daran, wie sie wohl aussähe nach so einem Sturz, und dass von Ihr dann nicht mehr viel übrigbleiben würde. Und der Gedanke an ihre kleine Schwester, welche dann nicht mehr richtig Abschied nehmen konnte von ihr, ließ sie von dieser Variante wieder Abstand nehmen.
Bei der Stelle an der ICE - trasse war es das selbe.
Sie wollte sich nicht so entstellt dem Blick ihrer Nachwelt in letzte Erinnerung rufen, und deshalb schied auch das aus.
Bei einem Unfall wußte man nie, ob man vielleicht nur schwer Verletzt wurde.
Am Ende gar nur lebenslanges dahinvegetieren......
Zu unsicher also.
Bei Tabletten war sie sich sicher, daß sie kotzen würde, also war auch das nichts.
Seit jenen Geschehnissen konnte sie keine klaren Gedanken mehr fassen.
Sie war nicht mehr in der Lage zu unterscheiden was sie sich mehr wünschte.
Tod, oder Leben.
Als es passierte, wollte sie sterben, um nicht weiter fühlen zu müssen, und doch war gerade in jenen Minuten ihr Überlebenswille so stark in ihr zu spüren gewesen wie noch niemals zuvor.
Die Todessehnsucht war eigentlich mehr die Sehnsucht nach einem Zustand an dem sie nichts mehr spürte; ihr nicht mehr das Herz raste, wenn sie an ihn denken mußte, sie sich selbst nicht mehr Versagen vorwarf, nur um noch fast im selben Moment das Leben, die Welt, und die Menschen für ihr Elend verantwortlich zu machen.
Doch, eigentlich lebte sie gerne.
Aber dieses Chaos in ihr sollte, mußte aufhören, egal wie.
Wie sollte sie jemals die tiefen Risse in sich kitten?
Wo finge sie da an ?
Vor einer Psychotherapie hatte sie zuviel Angst; denn dann würde alles was sie versucht hatte so gut wie möglich in ihrem Inneren einzumauern wieder hervorkommen, um sie in erneuten Schmerzeswogen ertrinken zu lassen.
Und wenn es tausendmal das Richtige zu sein schien: sie war noch nicht bereit vor sich selber zuzugeben, daß sie Hilfe brauchte weil sie nicht mehr weiter wußte.
Sie hasste es, zugeben zu müssen, daß sie etwas nicht, oder nicht gut genug konnte.
Diesen Stolz hatte sie wohl von ihrem Vater geerbt.
Nie war irgend etwas gut genug für ihn gewesen.
Alles was sie von sich preisgab an Gedanken, oder Ideen, wurde sofort als dummes, unüberlegtes Zeug abgetan.
“Punktum und Ende der Diskussion“!
Das waren oftmals seine Worte, mit denen er ihr immer wehgetan, und sie kleingehalten hatte.
Auch Mutter und Bruder waren ihm argumentativ nicht gewachsen, und konnten ihr nur unwesentlich beistehen.
So sehr sie sich auch im späteren Leben bemühte stark zu sein, und solchen Vorkommnissen aus dem Wege zu gehen; eben jene Art von Situationen schien sie geradezu magisch anzuziehen.
Auch das war für sie ein schier unlösbares Dilemma.
Traf sie auf Menschen welche keine weiteren Anforderungen an sie, und ihren Verstand stellten, so waren jene schon nach kurzer Zeit zu langweilig und uninteressant.
Traf sie aber auf Menschen die suchend wie sie durch ihr Leben gingen, stellte sie schnell fest, daß sie meist schon viel weiter auf ihrem Weg gekommen waren, und ihres Weges so sicher schienen, daß sie alles was dann zwischen ihnen als Diskurs stattfand, zu schnell als Angriff auf ihre persönliche Entfaltung auffasste, und dementsprechend schnell wieder abblockte.
Vieler dieser Ursachen waren ihr bewußt, aber sie sah keine Ansatzmöglichkeiten es zu ändern.
Selbst nach all der Zeit nicht.
Und schon gar nicht, ohne daß das jemandem auffiel, der dann hätte sagen können, er hätte es ihr ja gleich gesagt, aber sie habe ja nicht hören wollen.
Deshalb sehnte sie sich nach einem Ende.
Wie auch immer.
Wieder einmal führte sie Ihr Weg an den alten Mauern des Klosters vorbei.
Wie immer nahm sie die würdige Ruhe jenes Bauwerks in sich auf, und fragte sich zum wiederholten Male, ob vielleicht hinter diesen Mauern eine Antwort auf ihre Fragen zu finden war.
Ohne noch länger nachzudenken wendete sie an der nächstmöglichen Stelle der Straße, und fuhr den Klosterberg hinauf.
Weder hatte sie etwas zu verlieren, noch mußte sie sich entscheiden.
„Einfach nur mal schauen“ sagte sie halblaut zu sich,“und dann wird man schon sehen;“ vollendete sie in Gedanken den Satz.
Es war Anfang April, und alles um sie herum stand in voller Blüte.
Bienengesumm lag in der lauen, sonnendurchfluteten Luft.
Sie schloss Ihre Augen, sog den Duft der Blumen mit einem tiefen Atemzug in sich hinein, und schloss die Augen.
So stand sie einfach nur so da, und fühlte die noch sanft streichelnde Sonne durch den Pulli hindurch bis auf die Haut.
„Ja Mädchen, manchmal ist es eine Lust zu leben“
Eine leise, sanfte, alt klingende Stimme hatte diese Worte neben ihr gesprochen.
Sie öffnete langsam ihre Augen, und blinzelte.
Dann sah sie neben sich eine kleine, steinalte Nonne, welche wie sie mit geschlossenen Augen, das Gesicht der Sonne zugewandt, mit halb erhobenen, der Sonne entgegengestreckten Armen dastand.
„Komisch“ dachte sie, „daß ich nicht erschrocken bin wie sonst immer.“
Mit einem mal fürchtete sie sich, daß der Zauber des Augenblicks durch Fragen zerstört wurde, und sie wandte sich zum gehen.
„Mädchen ?“
Sie hielt inne, drehte den Kopf, und schaute die alte Nonne abweisend, aber fragend an.
„Du kannst wiederkommen, wann immer Du es willst.“
Bevor sie etwas erwiedern konnte, drehte sich die kleine Alte um, nicht ohne sie vorher nochmals milde angelächelt zu haben, und entfernte sich langsam vorsichtigen Schrittes von ihr.
Benommen saß sie im Auto, und fragte sich die ganze Zeit warum ihr die Alte nicht mehr aus dem Kopf, und, was noch viel verwirrender für sie war; nicht mehr aus dem Herzen ging.
Wie in aller Welt hatte es die Alte geschafft, ihr Innerstes mit so wenigen Worten zu berühren und aufzwühlen.
Die Alte schien ihr genau in ihre wunde Seele geblickt zu haben, und das verstörte sie zutiefst.
Sie glaubte nicht an Gott und noch weniger glaubte sie an die Menschen.
Menschen hatten sie immer nur enttäuscht, ihr wehgetan, und sie fast nie verstanden.
Wieso diese Alte ?
Lag es nur daran, daß die Alte nicht bedrohlich für sie war, und ihr keine Frage gestellt hatte ?
Dann fiel ihr auf, daß die Alte auf ihre Innere, unausgesprochene Frage geantwortet hatte.
Diese Erkenntnis verwirrte sie noch mehr.
Mit jedem neuerlichen Vorbeifahren an jenem Kloster wuchs der Wunsch in ihr, die Alte wieder zu sehen.
Der Wunsch kämpfte gegen die Angst, bis die Angst den Kampf verlor.
Im Klosterhof stand unweit des Torturms eine Bank, von der aus man zur linken Hand in den Klostergarten sehen , und zur rechten einen Blick in das sanftgeschwungene Flußtal werfen konnte, ohne jedoch die Straße zu sehen oder zu hören.
Immer öfter kam sie nun hierher, denn niemand schien etwas dagegen zu haben, daß sie hin und wieder auf jener Bank Platz nahm, und nie kam jemand, mit dem sie hätte diesen Platz teilen müssen.
Nicht einmal die Alte.
Dann kam jener Tag, an dem sie mitten währen der Arbeit von einer Flutwelle aus wild brodelnden Gefühlen überrollt wurde.
Ohne ersichtlichen Grund, ohne ein auslösendes Moment.
Ihr war, als müsse sie innerlich zerbersten.
Sie stand auf, meldete sich für den Rest des Tages krank, und verlies fluchtartig ihren Arbeitsplatz, die mitleidig-erstaunten Blicke ihrer Kolleginnen hinter sich lassend, während sie gegen die in ihr unaufhaltsam aufsteigende Tränenflut kämpfte.
Sie fuhr zu ihrer geliebten Bank und lies all ihr Leid aus sich herausströmen.
Sie hatte sich erschöpft zurückgelehnt, ihre Augen geschlossen, und spürte wie die Sonne die Tränenspuren zu unsichtbaren kleinen Straßen puren Silbers auf ihrer Haut trocknete, als sie neben sich eine leise Bewegung wahrnahm.
„Mädchen ?“
Sie liess die Augen geschlossen.
Es war die selbe Stimme wie damals.
„Darf ich dir etwas erzählen?“
Sie schwieg, überlegte, und sagte dann;“wenn es nicht von Gott handelt..“
Die Bienen summten in der warmen Sonne, und immer noch hatte sie ihre Augen geschlossen.
„Aber vom Leben ?“.. kam nach kurzer Zeit die Stimme der Alten leise an ihr Ohr.
Fast unmerklich nickte sie.
Die Alte hub an, ihr mit ihrer weichen dünnen Stimme von einer Zeit zu erzählen in der sie jung gewesen war.
Sie erzählte von zwei Kriegen.
Im ersten dieser Kriege verlor sie erst ihren Vater und beide Brüder , im zweiten mußte sie mit ansehen, wie ihre Mutter, ihre Kinder und ihr Mann zu Tode kamen,und sie selbst fiel marodierenden Soldaten in die Hände.
Sie hatte, dem Tode nah, obdach in einem Kloster gefunden, und nach dem Kriege dort ihr Gelübde abgelegt.
Sie war weit in der Welt herumgekommen, und half, wo immer es ging.
Mehrmals mußte sie durch neuerliche Kriegswirren fliehen, wurde gequält und mißbraucht, hatte aber trotzdem niemals ihren Lebensmut verloren.
Auch jetzt sprach dieser Mut aus ihrem kleinen, verbrauchten Körper.
Ihr inneres Strahlen vermischte sich mit den wärmenden Strahlen der Sonne und drang ihr tief ins Herz.
Dann hatte sie geendet, und beide saßen sie schweigend, mit geschlossenen Augen nebeneinander.
„Die größte Mutprobe von allem, ist das Leben“ sagte die Alte, und stand langsam auf.
Mit den fast geflüsterten Worten; „Gott beschütze Dich, Mädchen..“ legte sie ihr zärtlich die Hand auf den Strubbelkopf, und verschwand genauso leise wie sie gekommen war.
26.03.02 AP