Mutantenjagd
Als Till Kasparek in Hannover aus dem Zug stieg, umfing ihn eine Menschenmenge, die darauf wartete, den Bahnsteig verlassen zu können. Niemand achtete auf ihn. Warum auch? Entsprach er doch äußerlich dem Durchschnittstyp des Normal-Terraners. Er war etwa 180 cm groß und blond. Legere Kleidung versteckte seine unsportliche Figur. Eigentlich hätte er sich sicher fühlen können, aber das langsame Ablaufen der Reisenden beunruhigte ihn. Er schaute zum Ausgang.
An der Treppe, die hinab in die Bahnhofshalle führte, standen fünf schwarz uniformierte Beamte. Orangefarbene TSD-Symbole an den Oberarmen wiesen sie als Agenten des Terranischen Sicherheitsdienstes aus. Während der größte der Beamten die ID-Cards der Reisenden kontrollierte, beobachtete ein anderer die Anzeigen eines Gerätes, das mit einem leicht schimmernden Strahl die Köpfe der Menschen abtastete. Die drei anderen sicherten mit schussbereiten Waffen die Treppe.
War das Gerät ein Psi-Spürer? In den letzten Wochen waren immer wieder Meldungen aufgekommen, dass der TSD mit einem solchen Gerät dem vermeintlichen Mutantenproblem zu Leibe rücken wollte.
Gegen Ende des 21. Jahrhunderts waren die ersten Kinder mit außergewöhnlichen geistigen Fähigkeiten geboren worden. Bis heute, im Jahr 2135, hatte sich ihre Zahl vervielfacht. Was anfänglich als Laune der Natur betrachtet wurde, entwickelte sich nach Ansicht der Terranischen Regierung zu einer ernsthaften Bedrohung der inneren Sicherheit. Immer wieder kam es zu Übergriffen von Mutanten, die ihre besonderen Fähigkeiten missbrauchten. Angestachelt durch die Medien, allen voran das staatsnahe Terra-TV, hatte sich eine hitzige, über Wochen dauernde Debatte zur Lösung der Mutantenfrage entfacht. Als die ersten Todesfälle den psionisch Begabten zugeschrieben worden waren, hatte die Terranische Regierung die rigorose Ausrottung aller Mutanten beschlossen, um die normalen Menschen und damit den Großteil der Bevölkerung zu schützen.
Till war Mutant. Als Telepath lagen die Gedanken seiner Mitmenschen wie ein offenes Buch vor ihm. Er achtete jedoch die Privatsphäre des anderen und setzte diese Fähigkeit selten ein. Die Kraft der Telekinese war ihm allerdings schon oft hilfreich gewesen. Dinge durch Gedankenkraft bewegen zu können, bot eine Menge Vorteile.
In der Erwartung, dass der TSD alsbald die öffentlichen Betriebe von Mutanten säubern würde, hatte er den Chef der Hamburger Stadtwerke um sofortigen Urlaub gebeten. Einmal noch wollte er seine Mutter besuchen, die hier in Hannover in einem Altenheim lebte.
Till suchte nach einem Ausweg aus der Falle. Entlang der Bahnsteigkanten flimmerten energetische Prallfelder, die die Menschen vor den Gefahren schnell fahrender Züge schützten. Wie sollte er dem unvermeidlichen Zugriff des TSD entgehen? Während die ersten Reisenden die Kontrollstelle anstandslos passierten, drängten die hinter ihm stehenden vorwärts und schoben ihn unaufhaltsam den TSD-Beamten entgegen.
Er musterte den Psi-Spürer. Ich könnte ihn durch einen kurzen telekinetischen Impuls ausschalten, dachte er. Die Verwirrung, die der Ausfall des Geräts verursacht, reicht vielleicht, um durch die Sperre zu schlüpfen.
Vor Till standen noch drei Leute, die bereits ihre ID-Cards in der Hand hielten und ungeduldig auf die Überprüfung warteten. Soeben nickte einer der Beamten dem Vordersten zu, und dieser ging die Treppe hinab. Auch der Zweite kam anstandslos durch die Kontrolle. Mit einem leisen Summen flammte der Taststrahl auf und glitt am Kopf der letzten Person vor ihm, einem Mann mittleren Alters, empor.
Jetzt ist die beste Gelegenheit, dachte Till und konzentrierte sich. Während seine wasserblauen Augen den Psi-Spürer musterten, griffen seine Gedanken durch das Gehäuse, tasteten sich auf einer Platine entlang und hielten über einem Chip an. Blitzschnell baute Till ein Druckfeld auf, und der Chip zerkrümelte. Der Taststrahl erlosch.
„Was, zum Teufel, ist jetzt wieder los?“, schimpfte der Beamte am Gerät. Erst jetzt bemerkte Till, dass es sich um eine Frau handelte.
Scheinbar interessiert sah er seinem Vordermann über die Schulter. Aus dem Augenwinkel beobachtete er die Beamten am Treppenabsatz. Doch anstatt sich ebenfalls dem defekten Gerät zuzuwenden, hoben sie ihre Waffen und bewachten entschlossen die Menschen vor ihnen. Sie würden niemanden durchlassen. Die Chance, ohne Aufsehen den Bahnsteig verlassen zu können, bot sich nicht. Der Mann, der bislang die ID-Cards kontrolliert hatte, gesellte sich zu seiner Kollegin.
Verdammt!, dachte Till. Ich muss sie direkt angreifen.
Er konzentrierte sich auf die TSD-Beamten. Vorsichtig tasteten sich seine Gedankenströme an sie heran. Für einen schnellen telekinetischen Angriff standen die fünf zu weit auseinander. Wenn er auch nur einen verfehlte, würde es ihm zum Verhängnis werden. Zehn Sekunden brauchte er, bis seine Psi-Ströme alle erfasst hatten. Seine Augäpfel rollten kurz nach oben, und die Beamten flogen zur Seite. Till sprang nach vorn.
„Ein Mutant!“, schrie der große Beamte. Etwas an der Stimme kam Till bekannt vor. „Haltet ihn auf! Schießt!“
Doch keiner der Beamten war dazu in der Lage. Der Angriff hatte sie völlig unvorbereitet getroffen. Benommen rappelten sie sich wieder auf.
Währenddessen lief Till die Treppe hinab. In der Bahnhofshalle befanden sich weniger Menschen, als er gehofft hatte. Ein Untertauchen in der Menge war nicht möglich. Gehetzt sah Till sich um. Auch in den anliegenden Geschäften gab es keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Auf der anderen Seite der Halle, etwa 25 Meter von ihm entfernt, führte jedoch eine Rolltreppe zur U-Bahn-Station unter dem Bahnhof. Er spurtete los. Wenn ich schnell genug bin, verlieren sie vielleicht meine Spur, dachte er.
Eine Etage tiefer zweigten mehrere Rolltreppen von einem langen Korridor zu den U-Bahnsteigen ab. Willkürlich wählte er eine aus. Bereits am Treppenansatz konnte er erkennen, dass der U-Bahnsteig mit Menschen prall gefüllt war. Von Flüchen begleitet kämpfte er sich durch die Wartenden zum hinteren Bahnsteigteil. Hinter einem Betonpfeiler suchte er Deckung.
Kurz darauf rollte die U-Bahn ein. Welch ein Glück, dachte Till, stieß sich vom Pfeiler ab und wollte auf den Einstieg zurennen, als er in der Bahn zwei weitere TSD-Beamte entdeckte. Sie drehten ihm den Rücken zu. Einer der beiden sprach in seinen Armbandkommunikator. Wurde er über die Flucht des Mutanten informiert? Till zögerte.
Der Bahnsteig leerte sich zusehends, und schließlich war er der letzte Mensch, der vor der U-Bahn stand. Till überlegte noch, ob er ebenfalls einsteigen sollte, als einer der TSD-Beamten sich herumdrehte. Für einen Augenblick verharrte er, zeigte dann mit dem Finger auf Till und stieß seinen Kollegen an. Bevor die beiden jedoch den Zug verlassen konnten, schlossen sich die Türen, und die Bahn fuhr an.
Neue Reisende kamen nicht die Treppe hinab. Offensichtlich hatte der TSD den Abstieg ebenfalls gesperrt. Stattdessen tauchten drei Stiefelpaare auf, gefolgt von schwarzen Hosen; unverkennbar Sicherheitsbeamte. Während Till wieder hinter den Pfeiler huschte, schaute er sich um. Die Prallfeldzäune hatten sich nach Abfahrt der U-Bahn auch hier aufgebaut. Um sie zu überspringen, waren sie zu hoch. Er konnte sich zwar telekinetisch hinüberheben, doch dazu brauchte er Zeit, die ihm der TSD nicht ließ.
Die Uniformierten hatten das Ende der Treppe erreicht und begannen, den Bahnsteig systematisch abzusuchen. Till spähte um den Pfeiler herum. Die grimmigen Gesichter der Beamten drückten Entschlossenheit aus, und ihre erhobenen Waffen zeigten deutlich, was sie mit ihm machen würden. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr.
Mit der Frage „Sucht ihr mich?“ trat er hinter dem Pfeiler hervor. Die Beamten hielten inne. Dass er ihnen offen entgegentrat, hatten sie nicht erwartet. Die Schrecksekunde reichte Till aus. Wieder konzentrierte er sich auf die Beamten, die diesmal dicht beisammen standen, hob sie an und schleuderte sie auf die Rolltreppe. Anschließend lenkte er seine Gedanken auf den Umschaltsensor und ließ die Treppe nach oben fahren. Die drei Uniformierten blieben benommen liegen.
Till ging zum Prallfeldzaun, schloss die Augen und atmete tief durch. Als die Luft aus seinen Lungen entwich, lösten sich seine Füße vom Boden. Langsam schwebte er nach oben, dann vorwärts über den Zaun hinweg. Sanft setzte er dahinter auf dem Wartungssteg auf und lief los. Der Tunnel schien sich endlos dahinzuziehen. Irgendwo musste doch ein Ausgang sein, dachte Till. Da entdeckte er eine Stahltür. Während er auf sie zurannte, öffneten seine Gedanken sie. Dahinter lag ein Wartungsschacht.
Er rannte hinein. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Nachdem er um mehrere Ecken gebogen war, setzte er sich. Wenn ich völlig aufgebracht die Oberfläche erreiche, werde ich mit Sicherheit Aufsehen erregen, überlegte er. Hoffentlich lassen sie mir etwas Ruhe.
Nur kurze Zeit später schreckte ihn ein Geräusch auf. Die Tür zum U-Bahn-Tunnel war geöffnet worden. Schritte näherten sich ihm.
„Geben Sie auf, Mutant!“, hörte er die Stimme, die er zu kennen glaubte. „Ich weiß, dass Sie hier sind. Unsere Sensoren verfolgen jeden Ihrer Schritte. Sie haben keine Chance!“
Till streckte seine telepathischen Fühler aus. Er hatte sich nicht getäuscht; diesen Mann kannte er. Es war lange her.
„Lass mich in Ruhe ziehen, Kai Rake!“, antwortete Till. „Vor mir hast du nichts zu befürchten.“
Der andere keuchte. „Woher kennen Sie meinen Namen? Wer sind Sie?“
„Ich bin Till Kasparek, dein Schulfreund.“
„Till? - Du bist ein Mutant?“
Till antwortete nicht. Was sollte er auf diese Frage auch sagen? Inzwischen kam Rake immer näher. Schließlich hatte er ihn erreicht und schaute ihn fassungslos an. Till hob den Kopf. Die Froschperspektive betonte die hünenhafte Gestalt Rakes noch.
„Was ist los?“, fragte Till. „Hast du noch nie einen Mutanten gesehen.“
„Natürlich. Ich habe schon viele gesehen ...“
„... und sie alle umgebracht, oder?“
„Es ist mein Job“, antwortete Kai ärgerlich.
„Dein Job? Es ist dein Job, unschuldige Menschen zu töten?“
„Mein Job ist es, die Menschen vor Mutanten wie dir zu schützen“, erwiderte Kai steif.
„Warum?“
„Weil ihr eine Gefahr seid. Ihr missbraucht eure Kräfte.“
„Wir alle?“
„Viele von euch!“
„Weißt du eigentlich, dass du ohne meine Kräfte nicht mehr leben würdest?“
„Was willst du damit sagen?“, fragte Kai aufgebracht.
„Als du damals durch das morsche Geländer der Kanalbrücke gebrochen bist, habe ich dich nach oben gezogen.“
„Und?“
„Erinnere dich! Ich war ein Hänfling. Kaum stark genug, mich selbst zu tragen. Und trotzdem gelang es mir, den damals schon riesigen Kai Rake nach oben zu ziehen. Wie, glaubst du, habe ich das gemacht?“
„Du meinst ...?“
„Du wärst unweigerlich abgestürzt und auf einem der Frachter aufgeschlagen. Ohne meine telekinetischen Kräfte hätte ich es nicht geschafft. Es war ein gefährlicher Mutant, der dich rettete.“
Kai war nachdenklich geworden. Er hockte sich neben Till und wollte zu einer Erklärung ansetzen, doch eine schneidende Stimme hielt ihn davon ab.
„Hab ich’s mir doch gedacht! Kai Rake, mein sauberer Vorgesetzter, ist ein Mutantenfreund.“
Die Frau, die den Psi-Spürer bedient hatte, trat mit der Dienstpistole in der Hand um die Biegung des Schachts.
„Tribelt!“, rief Kai. „Was machen Sie hier? Ich hatte Ihnen befohlen, an der Tür zu warten!“
„Damit Sie Ihren Freund entkommen lassen? So leicht mache ich es Ihnen nicht, Rake.“ Die Frau grinste böse und strich sich eine Sträne ihres schwarzen Haares aus dem derben Gesicht. „Aber Sie machen es mir leicht. Ihre Freundschaft zu einem Mutanten macht Sie zu einem Sicherheitsrisiko. Ich werde Ihren Posten übernehmen.“
Sie hob die Waffe und zielte auf Kai. „Außerdem“, fügte sie im Plauderton hinzu, „wird niemand Ihnen eine Träne hinterher weinen, wenn ich Sie als Staatsfeind exekutiere. Und ihr Freund wird als Nächster dran glauben.“
Langsam krümmte sich ihr Finger um den Abzug.
Während Kai mit weit aufgerissenen Augen Tribelt anstarrte, fixierte Till die Pistole in ihrer Hand. Mit einem kurzen Gedanken quetschte er den Lauf zusammen. Gleichzeitig brach der Schuss. Die Explosionsgase, die nicht mehr durch den Lauf entweichen konnten, zerrissen die Waffe. Der Verschluss, jeglichen Halts beraubt, schoss gegen ihre Stirn. Ungläubig staunte Tribelt das zerfetzte Griffstück in ihrer Hand an. Dann sackte sie zusammen.
„Das war knapp“, sagte Till.
Kai wankte zu der am Boden liegenden Frau und tastete nach ihrem Puls. „Sie ist tot!“, stellte er fest.
Fragend schaute er seinen alten Schulfreund an. „Sie war auch nicht besser als mancher Mutant.“
„Sie war nur ein Mensch wie wir.“
Kai nickte. „Ich glaube, ich schulde dir etwas.“
Till schwieg.
„Hau ab!“, sagte Kai plötzlich. „Irgendwas wird mir schon einfallen.“