Mut der Verzweiflung
Ich saß an meinem Schreibtisch vor meinem Rechner und starrte frustriert auf das weiße Feld meines Bildschirms. Mir wollte einfach kein zündender Einfall kommen. Es war nicht so, dass ich keine Ideen gehabt hätte, es liess sich nur leider keine davon für meine Hausarbeit verwenden. Die, so ganz nebenbei, morgen früh auf dem Schreibtisch meines Professors liegen sollte. Natürlich hatte ich jede Menge Zeit gehabt, sie aber, wie üblich, an andere Dinge verschwendet. Ich hatte es einfach nicht drauf, meine Zeit vernünftig einzuteilen. Entnervt zündete ich mir eine Zigarette an und ließ meinen Blick im Zimmer umherschweifen. Nichts Ungewöhnliches zu entdecken, alles in normaler chaotischer Unordnung verstreut. Aber es war verdammt dunkel. Die einzigen Lichtquellen waren mein Computer und die Nachttischlampe direkt daneben. Ich begann mich unbehaglich zu fühlen und zog unwillkürlich die Schultern hoch. In Gedanken schalt ich mich einen Dummkopf, gleichwohl es half nichts, das Unbehagen blieb. Mir schossen die Geschichten meiner Kindheit durch den Kopf, all die gruseligen Bücher und Schundromane, die ich gelesen hatte, als ich noch längst nicht alt genug dafür gewesen war. In regelmäßigen Abständen richteten sich nun die Härchen an meinen Armen auf und eine merkwürdige Kälte kroch mir den Rücken hoch.
Ich zwang mich, an meine Arbeit zu denken und sah starr auf den Bildschirm.
Zwecklos, ich war abgelenkt und meine Phantasie lief jetzt auf Hochtouren, allerdings nicht in der Art, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich wagte nicht, aufzustehen und das Licht anzuschalten. Dazu hätte ich zur anderen Seite des Raumes gehen müssen, quer durch die Dunkelheit, zur Tür. Ich fühlte mich beobachtet und dieses Gefühl ließ sich einfach nicht vertreiben. Es ließ sich nicht mehr leugnen, ich hatte Angst. Reglos blieb ich sitzen, nur keine Aufmerksamkeit auf mich lenken. Wie ein Kind, dass glaubt, wenn es sich komplett unter der Decke versteckt, wäre es sicher. Mir fiel die Geschichte meiner Großmutter ein, die mir erzählt hatte unter meinem Bett wäre ein schreckliches Monster, dass nur darauf wartet, dass ich die Füße auf den Boden stelle, um mich zu schnappen und schreckliche Dinge mit mir anzustellen. Sie wollte wohl, dass ich ruhig liegen bleibe und einschlafe, aber ich litt jahrelang Todesängste, wenn ich abends ins Bett gebracht wurde. Bis heute schalte ich das Licht an, bevor ich aufstehe. Ich wage es nicht, unter mein Bett zu sehen. Genauso wenig, wie ich mit einem geöffneten Schrank im Zimmer einschlafen kann. Ich erwarte immer jeden Moment eine schrecklich verkrüppelte Hand zu sehen, die langsam und leise die Schranktür von innen öffnet.
Ich hasste all die nächtlichen Geräusche einer Wohnung, das Knacken der Heizung, das penetrante Summen des Kühlschranks und die ganzen anderen zum Teil eingebildeten Laute, die ich nicht einordnen konnte. Hinter mir knackte etwas. Ich schrak zusammen. Meine mittlerweile feuchten Hände ballten sich zu Fäusten und ich zwang mich ruhig weiterzuatmen. Um keinen Preis der Welt hätte ich mich jetzt umgedreht. Fieberhaft überlegte ich, was ich tun könnte, um mich zu entspannen und mich von meiner beginnenden Panik zu befreien. Plötzlich wurde mein Bildschirm dunkel. Entsetzt starrte ich auf die schwarze Fläche, bis mir einfiel, dass das nur der Bildschirmschoner sein könne, da ich lange nichts mehr geschrieben hatte. Ich wollte schon erleichtert aufatmen, als sich plötzlich Buchstaben bildeten.
„Dreh dich nicht um!“
Wie gelähmt sah ich auf den Satz, der einfach nicht verschwinden wollte, so sehr ich es mir auch wünschte. Mittlerweile hatten sich sämtliche Härchen an meinem Körper aufgerichtet, mein Herz klopfte rasend und laut und meine Beine fühlten sich an wie Gummi.
Der Satz verschwand und an seine Stelle trat ein neuer.
„Beruhige Dich, das ist enorm wichtig!“
Na, als ob ich das noch gekonnt hätte. Ich meiner jetzigen Verfassung hätte ich schon in Ohnmacht fallen müssen, um meinen Herzschlag zu verlangsamen.
„Atme tief durch und denk an etwas Positives!“
Jetzt wünschte ich mir, endlich in Ohnmacht zu fallen. Ich konnte es nicht fassen, was hier tatsächlich passierte. Mein Rechner redete mit mir, oder wer auch immer sich dahinter verstecken mochte. Auf jeden Fall verstand ich die Warnung und blickte weiterhin gefesselt auf die blinkenden Buchstaben.
„Gut so, verhalte dich ganz natürlich.“
Gehorsam verhielt ich mich so natürlich wie ich konnte, ich wagte es nicht, mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, aber das tat ich jedenfalls sehr natürlich.
„Wenn ich „jetzt“ sage, duckst du dich, so schnell du kannst!“
Langsam begann ich an einen bösen Scherz zu glauben, vielleicht einer meiner technikbesessenen Freunde, die meinen Computer irgendwie manipuliert hatten, um mich zu erschrecken? Das Knacken in meinem Rücken belehrte mich eines Besseren.
„Jetzt!“, flammte es auf meinem Bildschirm auf.
Sofort warf ich mich über meine Tastatur und hielt mir die Hände über den Kopf. Etwas entsetzlich Heißes jagte durch mich hindurch und verursachte hinter mir ein unangenehmes Zischen. Ein leises Stöhnen erklang. Gänsehaut kroch mir die Wirbelsäule hoch. Das Stöhnen kam mir bekannt vor. Vorsichtig drehte ich mich um. In der Dunkelheit des Raumes konnte ich nur einen unförmigen Schatten direkt neben der Tür erkennen. Ich raffte meinen ganzen Mut zusammen, stand auf und näherte mich, mit einem Kerzenständer in der Hand, den ich mir schnell gegriffen hatte, dem anderen Ende des Zimmers. Ich schaltete mit dem Kerzenständer das Licht an und was ich sah, ließ mir schier das Blut in den Adern gerinnen.
Die Überreste meiner besten Freundin klebten grotesk entstellt an der Wand und auf dem Boden. Außer ihrem Gesicht war alles an ihr übersät mit Brandwunden und offenem roten Fleisch. Der Gestank war entsetzlich. Um sie herum breitete sich eine rote Lache aus, die von der Flasche Wein stammen musste, die sie in der Hand gehalten hatte. Eine ihrer Hände hielt noch lose meinen Wohnungsschlüssel, den ich ihr vor ewigen Zeiten gegeben hatte. Schluchzend sank ich auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. Großer Gott, was war hier nur passiert und warum? Zitternd betrachtete ich das Höllengerät auf meinem Schreibtisch, denn als solches betrachtete ich es jetzt. Der schwarze Bildschirm war verschwunden und es leuchtete wieder die weiße Fläche mit dem Titel meiner Hausarbeit:
„Telekinetische Energie- Segen oder Fluch? Ein Selbstversuch.“