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Musikanten des Lebens
Musikanten des Lebens
Gertrude Bernecke saß mit ihren Mitheimbewohner wie jeden Abend, nachdem sie ihre Abendtoilette schon erledigt hatten, im Schlafgewand zusammen, und sie redeten über viele Dinge, die sie schon so oft geredet hatten. Frau Bernecke war zweiundneunzig Jahre alt und seit über zehn Jahren in diesem Altersheim. Ihre Beine wollten nicht mehr so, wie sie es immer ausdrückte, so war sie auf einen Rollstuhl angewiesen und auf Menschen, die ihr die täglich anfallenden Arbeiten abnahmen.
In diesen mehr als zehn Jahren hatte die alte Frau schon viele Menschen gehen sehen. Viele Menschen! Sie unterhielt sich mit ihnen und sie gingen. Wo sie hingingen, das fragte sie sich immer wieder. Oder wenn sie den leblosen Leichnam sah, hätte sie sehr gern gewusst, wo diese Frau oder dieser Mann nun wäre. Die Antwort darauf hätte ihr vielleicht ihre eigene Angst nehmen können. So oft hatte sie von den anderen alten Menschen gehört, dass sie den Tod erwarteten, ja manche sogar sehnten sich ihn herbei. Frau Bernecke dachte, dass sie wohl die einzige wäre, die Angst hätte. Auch wenn sie immer dachte, dass ihr eigener Zeitpunkt noch in weiter Ferne läge, so war an diesem Abend alles anders. Zu ihrer Angst gesellte sich Panik hinzu. Sie war sich sicher, es würde ihr letzter Abend sein. Gleich würde Schwester Elke oder Schwester Iris kommen, sie in ihr Zimmer schieben und ins Bett bringen. Dann würde Schwester Elke oder Schwester Iris das Zimmer verlassen, und sie wäre allein. Allein! Nein! Das wollte Gertrude nicht. Sie wollte nicht allein sein. Der Gedanke war unglaublich schrecklich. Ihr Zimmer würde dunkel sein, wenn das Gespenst des Todes mit seiner grässlichen Fratze sich ihr näherte. Frau Berneckes Panik wurde größer, als die beiden Heimschwestern sich daranmachten, die Bewohner zu ihren Zimmern zu begleiten. Es war Schwester Elke, die sich ihr näherte, und Frau Bernecke musste etwas tun.
"Schwester Elke, ich glaube, es ist soweit. Ich glaube, ich werde heute Nacht sterben."
"Frau Bernecke", erwiderte die Schwester, "Sie werden nicht sterben, Sie werden noch viele Jahre bei uns bleiben." Es waren schöne Worte, die einem Mut hätten machen können; aber Schwester Elke hatte diese Worte schon so oft gesagt, so dass Routine in ihrer Stimme lag.
"Schwester Elke", beteuerte die alte Frau, "ich beschwöre Sie, bitte lassen sie mich heute Nacht nicht allein!" Aber die Schwester schob unbeirrt, für Gertrude sogar unerbittlich den Rollstuhl in ihr Zimmer, half der alten Frau ins Bett und wünschte ihr eine gute Nacht. Frau Bernecke schaute die Schwester mit großen Augen an und bat sie nochmals sehr eindringlich, sie nicht allein zu lassen.
"Frau Bernecke", antwortete Schwester Elke nun schon leicht gereizt, "Sie werden nicht sterben. Hier sind noch zweiundzwanzig andere Bewohner, um die ich mich kümmern muss." Als die Schwester die Tür öffnete, hielt sie einen Moment inne und fügte mit einem ernsten Gesicht hinzu: "Mal sehen! Vielleicht schaue ich nachher noch mal bei Ihnen rein." Danach löschte sie das Licht und schloss die Tür von außen.
Allein! Die alte Frau war nun völlig allein mit ihrer Angst. Ihr gingen trübsinnige Bilder durch den Kopf. Sie schaltete die Nachttischlampe ein. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Es war so leise! Viel zu ruhig! Und kalt! "Das muss das Ende sein", dachte die Frau zu sich selbst, als es plötzlich leise an der Tür klopfte. "Ja, herein!", rief Frau Bernecke in der Hoffnung, es wäre Schwester Elke, die ihr Vielleicht-Versprechen einlösen wollte, ignorierte dabei aber, dass das Klopfen von ihr viel lauter ausgefallen wäre. Die Tür öffnete sich und eine junge und nicht sehr große Schwester mit der selben Schwesterntracht trat ein. Sie schloss leise die Tür und näherte sich Frau Bernecke. Die alte Frau konnte sie nun sehen. Es musste eine neue noch sehr junge Schwester sein. Ihr Gesicht war zart und die schwarzen Locken fielen unter der Haube hervor bis zu den Schultern. Das Lächeln in ihrem Gesicht war sehr warm und herzlich. Sie kam zu Frau Berneckes Seite und stellte sich vor.
"Ich bin Schwester Jennifer, ich wollte mal vorbeischauen und sehen, ob es Ihnen gut geht."
"Schwester Jennifer", wiederholte Frau Bernecke den Namen, ihr Gesicht fing an, zu strahlen. Schwester Jennifer holte sich den Holzstuhl und setzte sich zu der alten Frau. "Ich habe Sie noch nie hier gesehen, Schwester", teilte Frau Bernecke ihrem Besucher mit.
"Ich bin eine Schwester aus einer anderen Abteilung", erklärte Jennifer und vergaß dabei nicht, zu lächeln.
"Ich bin froh, dass Sie hier sind Schwester", sagte die alte Frau, und Jennifer nahm und hielt ihre Hand.
"Wovor haben Sie Angst?" fragte die kleine Schwester, und Frau Bernecke erklärte ihre Ängste und Panik und ihr Gefühl, dass es an diesem Abend zu ende gehen würde. Jennifer ließ die alte Frau reden. "Aber ich langweile Sie bestimmt nur", beendete Frau Bernecke ihren Monolog.
"Sie langweilen mich nicht", dementierte Jennifer. "Sind Sie ein ängstlicher Mensch?", fragte sie die alte Frau und forderte sie so dazu auf, mehr zu erzählen. Frau Bernecke lächelte und schüttelte dann den Kopf.
"Ach nein, Kindchen, das eigentlich gar nicht. Und so fing sie an, zu berichten, von ihrer glücklichen Kindheit unter einem strengen Vater und einer lieben und gottesfürchtigen Mutter, von ihrer Jugend im ersten Weltkrieg, Weihnachten im Bunker, von Heinz, den sie lieben lernte und heiratete, von der Nazizeit und dem 2. Weltkrieg, bei dem sie ihren Vater verlor, in dem sie um ihren Mann bangte doch gleichzeitig alle Pflichten weiterhin erledigen musste, von dem Leben als Trümmerfrau und der Heimkehr des Mannes aus der Gefangenschaft, von der Besatzungszeit und dem Tod ihrer Mutter, von der neuen Struktur und der Anpassung an das Nachkriegsdeutschland, von dem Tod ihres Mannes, als sie selbst einundsiebzig Jahre alt war, dem Leben danach, ganz allein und schließlich auch von der Endstation im Heim. Jennifer hörte aufmerksam zu und hielt während der ganzen Zeit ihre Hand. "Ach Schwester Jennifer", seufzte Frau Bernecke letztendlich und schon ein wenig müde, "Sie haben noch ihr ganzes Leben vor sich. Ich beneide Sie um ihre Jugend." Jennifer lächelte.
"Dazu haben sie doch gar keinen Grund! Ich möchte Ihnen etwas erzählen. Ich hatte letzte Nacht einen Traum, Frau Bernecke, möchten Sie ihn hören?" Frau Bernecke lächelte und nickte. Jennifer fing an: "Ich träumte davon, in eine Eisenbahn einzusteigen. Als ich endlich saß und der Zug anrollte, kamen Musikanten. Sie stellten ihre Notenständer auf, legten ihre Notenblätter zurecht und machten ihre verschiedenen Instrumente bereit. Dann fingen sie an zu spielen. Auch wenn mir nicht alle Musik gefiel, so war es doch schön, und während der Fahrt hatten wir viel Spaß, wir sangen und lachten. Bis plötzlich die Musiker die Notenblätter wieder einsammelten und die Notenständer zur Seite stellten. ‚Was ist los', wollte ich wissen, weil es auf einmal viel zu ruhig war. Einer der Musiker sagte zu mir: ‚habe keine Angst, es kommt nur ein Tunnel!' Und der Tunnel kam. Er schien mir lang und sehr duster. Ich hatte große Angst. Bis ich endlich etwas Licht sah; es war das Ende des Tunnels, und der Musikant sagte nur: ‚Siehst du? Du brauchtest keine Angst zu haben!' Als es dann endlich hell war, stellten die Musikanten ihre Notenständer wieder zurecht und legten ihre Notenblätter abermals auf die Ständer. Dann sangen und lachten wir wieder!" Als Jennifer fertig war, sah sie, dass Frau Bernecke ihre Augen geschlossen hatte, sie strich ihr sanft über die Stirn und schaltete das Licht der Nachttischlampe aus.
"Ich sollte vielleicht doch mal nach ihr sehen", sagte Schwester Elke zu ihrer Kollegin Schwester Iris, nachdem beide ihren Dienst an die Nachtschicht übergeben hatten. Auch wenn sie manchmal überarbeitet waren, so sollte das nicht bedeuten, dass sie nicht mitfühlten. Schwester Elke klopfte, um die Bewohnerin nicht zu wecken, leise an die Tür und öffnete sie. Sie ging ebenso leise zu Frau Bernecke und fasste sie an ihr Handgelenk. Es war kalt. Schwester Iris kam zur Tür.
"Schalte mal das Licht an, Iris", Schwester Iris drückte den Schalter und beide sahen sofort, dass die alte Frau gestorben war.
"Sie muss einen glücklichen Gedanken gehabt haben.", bemerkte Schwester Iris und deutete auf das Lächeln, das immer noch in Frau Gertrude Berneckes Gesicht lag.