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Musik

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01.07.2004
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Musik

„Er ist etwas Besonderes“, sagte die Mutter, als sie ihren Sohn das erste Mal in den Armen hielt. „Etwas ganz Besonderes.“
Jacob war kein Wunderkind. Kein Mozart, kein David Helfgott und auch kein Yehudi Menuhin. Er war durchschnittlich begabt und nicht musikalischer als die meisten seines Alters. Was ihn aber von anderen unterschied, war die Liebe zur Musik. Eine Liebe, die wohl schon vor seiner Geburt in ihm schlummerte und mit der ersten Melodie, die an sein Ohr drang, sanft geweckt wurde. Es war die Musik, der er so hingebungsvoll huldigte wie andere ihrer Mutter. Jacob sog Musik auf wie ein Schwamm, wie ausgedörrter Boden den ersten spärlichen Regen nach einer langen Trockenzeit. Schon als Säugling vergaß er, schreiend nach der mütterlichen Brust zu verlangen, wenn vom Hinterhof Musik durch das offene Fenster drang. Dann bekamen seine Augen diesen Glanz, der bei anderen kleinen Kindern nur zu sehen war, wenn sie erstmals staunend vor dem hell erleuchteten Christbaum standen.
Anfänglich glaubte Jacobs Mutter, die Zuneigung, die ihr entgegenschlug, wenn sie ihrem kleinen Sohn etwas vorsummte, gelte ihr. In Wahrheit war es die Tonfolge, die ihn so in Entzückung versetzte.
Jacob benahm sich wie ein ganz normaler Junge und machte nie den Eindruck eines Besessenen, wenn er der Musik lauschte. Eher den eines Genießers, eines Träumers, dem es gelang, die Seele der Musik zu erspüren.
In den ersten Jahren war Jacob wahllos. Er war gierig nach allem, was es zu hören gab. Alles war ihm recht. Egal, ob Marschmusik aus den Lautsprechern schepperte, Rockvirtuosen die Gitarren jaulen ließen oder Kirchenorgeln den Totensonntag untermalten. Hauptsache Musik, Melodien, Töne, Rhythmus.
Erst viel später, als Gleichaltrige die Mädchen auf einmal interessanter fanden als alles andere auf der Welt, wurde er wählerischer und damit unglücklicher. Als seine Freunde mit dem ersten Liebeskummer kämpften, machte auch er Bekanntschaft mit etwas bis dahin Unbekanntem - der Eifersucht. Plötzlich war es ihm unerträglich, ‚seine‘ Musik mit anderen teilen zu müssen. Bisher hatte er sie vorbehaltlos geliebt, sie genommen, wie sie war, und nicht in Frage gestellt. Aber plötzlich war da dieser Schmerz, dieses Verlangen, die Klänge festzuhalten, sie zu beschützen und niemandem preiszugeben. Es war eine Qual zu wissen, dass das, was er innig verehrte, bloß schnödes Allgemeingut war. Der Gedanke, jeder könne sich an seinem ‚Schatz‘ vergreifen, das heißt, jeder X-Beliebige dürfe einfach zuhören, setzte ihm so zu, dass ihm sein Leben von Tag zu Tag sinnloser erschien. Ohne zu wissen warum, fühlte er sich mehr und mehr von der Musik betrogen, von ihr verlassen. Es war, als würde sie seine Zuneigung nicht mehr erwidern.
Öffentliche musikalische Aufführungen wurden ihm zu einem Gräuel und lösten größtes Unbehagen in ihm aus. Geld für ein Konzert auszugeben, setzte er mit dem Besuch bei einer Hure gleich. Das hatte nichts mit der reinen großen Liebe zu tun, wie er sie kennen gelernt hatte. Gekränkt, unglücklich und unfähig, den Aufruhr in seinem Innern zu bewältigen, zog Jacob sich zurück.
„Die sorglose Kindheit ist vorbei“, seufzte seine Mutter. „Der Junge hat Liebeskummer.“
Jacob hörte seiner Mutter zu, die ihm zärtlich über das Haar strich und erklärte, die Liebe sei etwas ganz Besonderes. Er solle nie versuchen, sie mit Gewalt festzuhalten. Denn wenn die Besitzgier hinzukomme, sei die Liebe in allergrößter Gefahr. Er nickte und tat genau das Gegenteil dessen, was sie ihm riet.
In der Hoffnung, seinen Schmerz lindern zu können, begann er, Raritäten zu suchen und zu sammeln. Musik, von der er annahm, dass sie außer ihm bisher kaum jemand gehört hatte. Je seltener der Stil und je geringer die Auflage der Titel, desto größer war für ihn der Wert der Schallplatten, Tonbänder oder Kassetten. Diese Schätze waren sein Ein und Alles, und er würde sie festhalten und freiwillig nie wieder hergeben. Niemand wusste davon. Er hütete und pflegte sie und genoss die Musik nur dann, wenn gewährleistet war, dass die Klänge kein fremdes Ohr erreichen konnten. Aber es blieb etwas Unbefriedigendes zurück, eine Unruhe, die ihn umtrieb und dazu zwang, nach immer selteneren Klängen zu suchen. Doch keine Melodie, keine Tonfolge und kein Rhythmus war jungfräulich genug, um in ihm dieses Glücksgefühl hervorzurufen, das er empfunden hatte, bevor der erste Flaum auf der Oberlippe das Ende der Kindheit angekündigt hatte.
Er versuchte, selbst ein Instrument zu erlernen. Nur, wenn er selbst komponierte, musste er seine Musik mit niemanden teilen. Mit etwas Fleiß wäre ihm das wohl auch gelungen, doch er war zu ungeduldig. Die Instrumente, die er ausprobierte, wollten sich einfach nicht von heute auf morgen bezwingen lassen. Als er alt genug war, begann er, auf der Suche nach seltener Musik um die ganze Welt zu reisen. Doch erst nach Jahren, als ein Mann auf einem fremden Kontinent auf einem ihm unbekannten Instrument ganz allein für ihn eine Melodie improvisierte, glaubte sich Jacob am Ziel. Er stand da hielt, mit dem Kassettenrekorder in der Hand, die Melodie fest. Dort spürte er, dass ihn nur noch ein winziger Schritt von seinem Glück trennte. Schlagartig wurde ihm bewusst, was zu tun war. Zwischen ihm und der geliebten Musik stand jetzt nichts nur der Mann, der sie spielte. Um endlich zur lang ersehnten Erfüllung zu gelangen, musste er lediglich dieses störende Element ausschalten. Das tat er. Als der letzte Ton verklungen war, legte Jacob den Rekorder lächelnd beiseite, zog ein Messer und stach zu. Mit einem ungläubigen Blick ging der Fremde zu Boden. Pulsierend entwich das Blut aus der klaffenden Wunde und sickerte in das Erdreich.

Jetzt konnte Jacob sich zurückziehen und seine Musik hören. Niemand stand mehr zwischen ihm und den Klängen. Es gab nur noch ihn und – ja, die Liebe.
„Ich fürchte“, sagte seine Mutter, „du hast die Leichtigkeit verloren, du nimmst alles so schwer.“
Eines Tages machte er eine Entdeckung, die sein Leben endgültig in Unordnung bringen sollte. Obwohl er alles tat, um sich der allgegenwärtigen Musik zu entziehen, gelang das nicht immer. Überall dudelten die Autoradios und die Musikanlagen, in den Wohnungen, den Kaufhäusern und Lokalen. Dann wehten auf einmal, von irgendwoher, diese Töne, denen er unweigerlich ausgeliefert war. Es war ein alter Hit, ein sogenannter Oldie, den Jacob sehr gut kannte. Nur, irgendetwas stimmte nicht daran – aber was? Er kam nicht dahinter. Er lauschte, konzentrierte sich und versuchte herauszufinden, was es war – vergeblich. Es konnte nur eine Kleinigkeit, eine Nuance sein, aber genau diese Nuance war es, die ihm Angst machte. Eine Angst, die, so elementar und so bedrohlich war wie die Angst vor dem Tod.
Der Hit war längst verklungen. Doch die Melodie hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt, er wurde sie nicht mehr los. Ununterbrochen hörte er sie mit diesem kleinen Makel, der ihn ohne Zweifel in den Wahnsinn treiben würde, wenn er nicht herausfand, welcher Fehler sich da eingeschlichen hatte.
In einer Vielzahl nicht enden wollender, schlafloser, Nächte, plagte ihn diese verfluchte Melodie, ohne dass er dahinter kam, was mit ihr nicht stimmte. Alle erdenklichen Ablenkungsmanöver schlugen fehl. Auch große Mengen Alkohol und Tabletten hatten nicht die gewünschte Wirkung. Er griff verzweifelt nach allem, was Linderung versprach. Doch selbst die stärksten Drogen waren machtlos. Nach wenigen Wochen war er am Ende.
Zermürbt, ausgemergelt, kraft- und mutlos fand er sich eines Tages auf dem Dachboden wieder. Die fehlerhafte Musik schrie in seinem Kopf, als er mit einem Strick in der Hand prüfend zu den Balken hinaufschaute. Sein Entschluss stand fest. Er wollte seinem Leben ein Ende setzen – jetzt. Er stieg auf die Leiter, legte den Strick um den Balken und knüpfte eine Schlinge. Dann sah er im Gerümpel das Grammophon. Vielleicht war es das leise Aufflackern einer Hoffnung, das ihn kurz vergessen ließ, was ihn hier hinaufgetrieben hatte. Eine uralte Platte mit Blasmusik lag auf dem Teller des Grammophons. Nachdem er es vom Staub befreit und aufgezogen hatte, legte Jacob sanft den Tonarm auf. Das Kratzen der Platte erfüllte den Raum. Erwartungsvoll schaute Jacob auf den kreisenden Teller. Als ein Marsch erklang und er zwar die Bläser, nicht aber die scheppernden Becken hörte, die sich ohne jeden Zweifel auf der Platte befanden, schlug die Erkenntnis in seinem Kopf ein wie eine Bombe. Nun erkannte er den Makel des Oldies, der ihm das Leben zur Hölle gemacht hatte. Es war wirklich nur eine Winzigkeit. Ein Tamburin, das bei oberflächlichem Hören kaum auffiel, das weit im Hintergrund den Rhythmus unterstrich. Es fehlte. Es war ebenso wenig zu hören wie die Becken des Marsches. Er nahm den Arm von der Platte, der Marsch verstummte und auch die quälende Musik in seinem Kopf. Endlich Ruhe. Doch er konnte die Stille nicht genießen. Er hatte seine große Liebe, die vielfältige und in einem, verschwenderischen Reichtum vorhandene Musik verraten, und sie hatte sich gegen ihn gewandt. Er war zu weit gegangen, und nun verließ sie ihn – unwiderruflich, das spürte er. Jetzt waren es nur die Becken und die Schellen eines Tamburins, die sich davongestohlen hatten, aber andere Instrumente würden folgen: die Flügel, die Streichinstrumente, die Gitarren, Harfen, Blasinstrumente und schließlich die Bässe. Das erste Mal in seinem Leben spürte Jacob die Kälte der Einsamkeit so eindringlich, dass er zu zittern begann. Er kauerte sich neben das Grammophon, unfähig zu weinen.

„Der Doktor sagt, du kannst mich nicht mehr hören“, erklärte Jacobs Mutter mit Tränen in den Augen und strich ihrem Sohn über das inzwischen etwas schüttere Haar.
Jacob saß auf einem Stuhl in einem kargen, gebohnerten Zimmer und schien mit seinen stumpfen Augen in die Unendlichkeit zu blicken. An einer der sonst kahlen Wände hing ein Bild, das einen entlegenen Landstrich zeigte. In den verkrampften Händen hielt Jacob eine Musikkassette, auf der sich die Melodie mit dem Klang eines ihm unbekannten Instruments befand.

 

Hi falky!

Ich mal wieder...

ächelnd beiseite, zog ein Messer und stach zu.
Weißt du, woran dieser Jakob mich von der ersten Zeile an erinnert hat: an die Hauptfigur aus einem meiner Lieblingsromane "Das Parfüm". Und nun die Bestätigung. Er ist bereit, dafür zu töten. Sehr konsequent, das Ganze, aber auch vorhersehbar. (Geht meist Hand in Hand.)
Was mich stört: es bedarf einer unglaublichen Kaltblütigkeit, um einen Menschen mit einem Messer zu töten. Die Art des Todes ist ungemein schmerzhaft und grausam. Und bisher hast du deinem Jakob, in den wenigen Sätzen, die ich las, diese Grausamkeit nicht "angeschrieben". Deshalb wirkt diese Szene auch mich ein bisschen "out of character"...

Diese Geschichte begeistert mich nun leider nicht so. Der Grund: wie oben schon angedeutet, braucht es mehr als diese paar Zeilen, um einen derart komplexen Charakter zu beschreiben. In Ansätzen finde ich es sehr gut, aber die Geschichte bietet eigentlich - zumindest für mich - keine rechten Überraschungen. Alles, finde ich, ergibt sich logisch aus der Ausgangssituation.

Versteh mich bitte nicht falsch: der Stil, wie gewohnt, tadellos und sehr schön, aber der Plot vermag mich (teils wegen der Vorhersehbarkeit, teils wegen der für mich unzureichenden Charakterzeichnung) nicht total (!) zu fesseln.

In diesem Sinne
c

 

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