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Multipel
Botch überprüfte zum dritten Mal in zehn Minuten seine Waffe. Es klapperte leise, als er mit zitternden Händen das Magazin in den Griff schob. Er lauschte. Nichts regte sich. Aus dem Hauseingang heraus in dem er stand, konnte er den gesamten Innenhof überblicken. Er sah an den Fassaden der Häuser hoch. An einigen Stellen bröckelte der Putz. Eine Lampe der Hofbeleuchtung flackerte. Licht schien aus ein paar Fenstern. Durch den dunklen Trichter der Hofeinfahrt schallte Motorengeräusch zu ihm herüber. War er das? Botch drückte sich tiefer in den dunklen Eingang. Die Dunkelheit erodierte seine Konturen, bis er nur ein Fleck unter vielen war. Absätze klapperten an seinem Versteck vorbei, eine junge Frau. Tabakgeruch stieg in seine Nase. Der Klang der Absätze verlor sich in der Ferne. Botch atmete aus. Langsam trocknete der Schweiß auf seiner Stirn. Fahrig wischte er seine Hände an seiner Hose ab.
Ich kann das nicht, dachte er verzweifelt. Er rieb über sein Gesicht. Ein kratzendes Geräusch, Bartstoppeln an seinem Kinn. Ein Wagen bog in den Innenhof ein und hielt bei den Mülltonnen. Der Fahrer blieb sitzen und zündete sich eine Zigarette an. Im Licht des Feuerzeuges war sein Gesicht deutlich zu erkennen. Botch holte tief Luft. Er war es! Langsam zog er die Waffe aus seiner Jacke und ging auf den Wagen zu.
Bleib sitzen, dachte er, als er sich dem Wagen näherte. Seine Füße trommelten jetzt auf den Asphalt. Er riss die Tür auf, hielt seine Waffe direkt in das verblüffte Gesicht des Mannes am Steuer.
»Wa...? He, tun Sie die Waffe weg, Mann.«
Rebecca, dachte er bei jedem Schuss. Rebecca, Rebecca.
Der Sicherheitsgurt schnitt tief in seine Brust und seinen Schoß. Sein linker Arm hing im Lenkrad und schien ein zusätzliches Gelenk bekommen zu haben. Eine warme Flüssigkeit rann an seiner Stirn herab in seine Haare. Es knisterte und knackte überall um ihn herum. Benzingeruch biss in seine Nase. Der Gestank machte ihn schlagartig wach. Was war nur geschehen?
Erinnerungssplitter trieben durch seine Gedanken.
Die nasse Strasse, das Quietschen der Reifen. Ein Knall, Glassplitter, die auf ihn einprasselten, in ihn eindrangen. Dann nichts mehr, bis er das Benzin gerochen hatte.
Er und Rebecca hatten sich gestritten. Wieder einmal.
»Fahr nicht so schnell, Verdammt noch mal.«
»Mensch, pass ...«
Rebecca! Was war mit Rebecca? Langsam drehte er seinen Kopf. Er stöhnte laut auf dabei. Dann sah er endlich in Rebeccas Augen. Doch sie erwiderte den Blick nicht. Ihr Kopf lag unter ihrer Schulter, eingeklemmt durch das Gewicht ihres Körpers. »Rebecca?«
Zitternd streckte er seinen rechten Arm nach ihr aus. Seine Hand berührte ihre Wange.
»Rebecca?«
Verzweiflung komprimierte seine Stimme zu einem Flüstern. Rebecca blieb stumm.
Ein Zischen ließ ihn zusammenzucken. Plötzlich tanzten Schatten grotesk um das Auto herum. Ein
flackerndes gelbes Licht verlieh ihnen
unheimliches Leben. Er schrie auf, als er seinen Arm aus dem Lenkrad zog. Seine flatternden Finger suchten das Gurtschloss. Kraftlos drückten sie darauf herum. Sein Herz raste und jeder Schlag trieb einen Nagel aus Schmerz in sein Gehirn. Tränen liefen über sein Gesicht und brannten in der Wunde auf seiner Stirn. Mit einem plötzlichen Ruck gab das Schloss nach. Der Aufprall auf das Wagendach ließ ihn aufschreien. Quälend langsam kroch er durch die zerstörte Frontscheibe nach draußen. Seine keuchenden Atemzüge wurden vom fauchenden Feuer übertönt. Endlich war er aus dem Wrack heraus und kroch so schnell es ging weiter, als eine Explosion alle Geräusche wegfegte. Eine Walze aus heißer Luft rollte lautlos über ihn hinweg und drückte ihn in den Waldboden. Als er sich zu dem brennenden Auto umdrehte, sah er den anderen Wagen, der sie gerammt hatte.
»Und wie bewerkstelligen Sie die Rückkehr?«
»Gar nicht. Der fremde Körper wird nach etwa fünf Tagen vom Gastuniversum abgestoßen und taucht in seinem Heimatuniversum wieder auf. Und zwar zu dem Zeitpunkt und an der Stelle, an der er abgereist ist.«
»Phantastisch. Und wie weit kann man zurückreisen?«
»Das haben wir noch nicht erforscht. Aber da wir uns nicht wirklich in der Vergangenheit rückwärts, sondern eher durch Universen hindurch seitwärts bewegen, ist eine Reise von mehr als dreißig Jahren vermutlich sinnlos. Die Abweichung sind dann zu groß. Überlegen Sie mal, Sie würden in einem Universum landen, in dem Obama die Wahl anno 2008 gewonnen hätte. Solange Sie in der Nähe Ihrer eigenen Zeitwahrscheinlichkeitsebene bleiben, bekommen Sie recht zuverlässige Ergebnisse, wenn Sie einen Eingriff vornehmen.«
»Aber erzeuge ich damit nicht eine neue Wahrscheinlichkeitsebene?«
»Genau das ist ja der Sinn der Sache. Diese neue Ebene liefert Ihnen dann Erkenntnisse über Ihre Eigene, wenn Sie sich entlang der Zeitachse dem Jetzt nähern. Allerdings scheinen bestimmte Ereignisse eine so große Wahrscheinlichkeitsträgheit zu haben, dass sie immer wieder passieren, egal, was Sie dagegen unternehmen. Sie könnten zwar in allen möglichen Realitäten Hitler töten, aber der zweite Weltkrieg würde dennoch ausbrechen.«
»Und wenn jemand aus einer anderen Realität in meiner Realität Hitler tötete und ich in seiner?«
»Der zweite Weltkrieg ist als Wahrscheinlichkeitssingularität so stark, dass er trotzdem stattfinden würde. Bei kleinen Veränderungen würde es vielleicht funktionieren.«
»Sie meinen also, dass Einzelschicksale durchaus beeinflussbar sind, große Umwälzungen aber nicht aufgehalten werden können?«
»Exakt.«
»Ich verstehe immer noch nicht ganz, wie der Transfer durchgeführt wird.«
»Aber das ist doch ganz einfach. Ihre Quantenstruktur wird erfasst, aufgelöst und ein oder mehrere Grad phasenverschoben und dann ... Hey, Sie da. Passen Sie gefälligst auf, wo Sie mit Ihrem Lappen her wischen. Der Knopf da ist gefährlich. Wer sind Sie überhaupt?«
»Botch, Sir. Ich bin vom Reinigungsdienst.«
»Ah ja. Dann reinigen Sie bitte nach Dienstschluss weiter, wenn hier alles abgeschaltet ist.«
»Jawohl, Sir. Würden Sie das bitte mit meinem Chef absprechen, Sir? Sonst kriege ich Ärger. Wegen der Überstunden, wissen Sie?«
»Ja, ja, schon gut. Ich regle das. Und jetzt gehen Sie bitte.«
Die Waffe schepperte, als sie aus seinen kraftlosen Fingern zu Boden fiel. Feuchte Spritzer mischten sich mit Tränen und Schweiß, die sein Gesicht hinab liefen. Dort, wo sie auf sein Hemd fielen, blühten rote Flecken auf. Entsetzt sah er auf das Gesicht des Toten hinab. Es war immer dasselbe Gesicht, dennoch konnte er sich an den Anblick nicht gewöhnen. Botch drehte sich zur Seite und übergab sich neben das Auto. Das Übergeben war das Schlimmste. Wenn die Anspannung nachließ und sein Körper begriff, was er angerichtet hatte.
Botch versuchte zu ergründen, wie die Apparatur vor ihm funktionierte. Dabei half ihm das Dokument, das er im Büro des Projektleiters entwendet hatte, nur wenig. Botch verstand nicht einmal die Hälfte des Geschriebenen. Seit Stunden gab er Parameter in den Computer ein und den Ausführungsbefehl. Doch alle seine Versuche blieben erfolglos. Noch einmal nahm er das Dokument zur Hand. Was zum Teufel bedeutete "Projektion des Temporalvektors"? Und wo stellte man die "Prolongation des retrospektiven Observationsstrahles" ein? Das würde eine sehr lange Nacht werden.
»Hey, wer ist da?«
Botch drehte sich so schwungvoll um, dass er die entwendeten Papiere über den ganzen Laborboden verteilte.
»Was machen Sie hier?«
»Ich ... Also ... hier ... saubermachen?«
»Was sind das für Blätter? Prolongationseinstellung? Observationsstrahl? Was treiben Sie hier?«
Das Klicken des Revolverhahnes ließ den Mann zu Botch hinüberschauen.
Botch räusperte sich, trotzdem war seine Stimme rau und kratzig.
»Bewegen Sie sich nicht und beantworten Sie meine Fragen, dann geschieht Ihnen nichts. Sie sind der Projektleiter, richtig? Sie haben mich neulich angewiesen, nach Dienstschluss zu putzen.«
Der Mann nickte, blass im Gesicht.
Botch holte tief Luft und stieß sie wieder aus. Er lächelte.
»Sie werden mir helfen und die Bedienung der Maschine erklären.«
»Wie kommen Sie dazu, dass von mir zu ver...«
Botch hob den Revolver und legte auf den Mann an.
»Bitte«, sagte er.
Botch riss den Mann in die Gasse, in der er gelauert hatte. Von der Strasse aus drang nur wenig Licht in den schmalen Durchgang. Botch drückte sein Opfer mit einer Hand an die schmutzige, feuchte Wand. Er zeigte kurz seine Waffe und setzte sie dann auf die Brust des zitternden Mannes.
»Was wollen Sie? Geld?«, fragte eine Stimme, die ihm nur zu vertraut war. Schatten bedeckten das Gesicht ihres Besitzers, doch Botch musste es nicht sehen, um jede Einzelheit darin zu kennen.
»Nein. Du kannst dein Geld behalten.«
Seine Stimme war nur ein Krächzen. Der andere Mann beugte sich vor. Dabei geriet sein Gesicht ins Licht. Das Gesicht, dass er unzählige Male schon tot vor sich gesehen hatte.
»Was ... Was willst du dann?«
»Rebecca retten.«
»Rebecca? Was hast du mit Rebecca zu schaffen? Und wovor willst du sie retten? Was soll das hier?«
»Wenn ich dich nicht aufhalte, wirst du Rebecca töten. Also werde ich sie beschützen.«
»Dreckskerl.«
Speichel sprühte mit dem Wort in Botches Richtung.
»Du bist hinter meinem Mädchen her und willst mich mit dieser billigen Nummer einschüchtern!«
Der Mann wand sich in dem harten Griff.
Botch schlug zu.
»Ah. Verdammt, was soll das? Du hast mir die Nase gebrochen.«
Und dieses eine Mal wollte Botch erklären, warum er es tat. Wollte es sich selbst erklären, warum er immer wieder in die Vergangenheit eines anderen Universums reiste und Menschen tötete.
Botch stellte die Parameter der Maschine ein. Er brauchte nur wenige Sekunden, die notwendigen Operationen waren ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Ein letzter Transfer noch ...
Botch stieg über die Leiche des Projektleiters auf die Transferplattform.
»Du wirst heute Abend mit deiner Rebecca einen Autounfall verursachen. Weil du viel zu schnell fährst. Weil du immer viel zu schnell fährst. Du spielst gerne mit der Gefahr. Heute Abend jedoch wirst du verlieren. Dein Auto wird unkontrolliert über die I 101 rutschen und ein zweites Auto rammen.«
»Bist du irre, Mann? Was erzählst du mir für einen Scheiß? Wer bist du überh...«
Botch nahm das Knie wieder herunter. Der Mann keuchte und krümmte sich in seinem Griff.
»Ich bin der Fahrer des anderen Autos. Dessen Wagen in den Flammen aufgehen wird, in denen seine Tochter mit vier Jahren sterben wird.«
Botch rammte seine Waffe in den Mund seines Opfers und spannte den Hahn. Frischer Uringestank breitete sich aus.
»Meine Tochter hieß Rebecca. Wie dein Mädchen«, zischte er.
Rebecca, Rebecca, Rebecca.
Botch stand auf der Transferplattform und wartete auf das Licht, das den beginnenden Transfer anzeigen würde. Diesmal jedoch würde sein Transfer in die Zukunft erfolgen. In ein Universum, in dem Rebecca noch lebte. Er würde den Platz des dortigen Botch einnehmen und endlich Frieden finden. Und nie wieder töten.
»Aber was ist mit der Zukunft?«
»Was soll mit der Zukunft sein?«
»Na, ich meine, Sie werden doch sicherlich auch die Zukunft erforschen, oder?«
»Tja, sehen Sie, wir haben diese Möglichkeit tatsächlich in Betracht gezogen. Die Maschine ist entsprechend eingerichtet. Aber alle Tests, die wir durchgeführt haben, sind gescheitert. Die ausgeschickten Sonden sind nie zurückgekehrt.«
»Aber Sie haben mir doch erklärt, dass der Fremdkörper nach fünf Tagen zurückkehrt.«
»Das ist auch so. Aber nur, wenn der Körper Richtung Vergangenheit reist. Wir gehen im Moment davon aus, dass keine Zukunft existiert. Deshalb brechen die Wellenfunktionen des ausgesandten Quantenbündels nicht zusammen und es entsteht keine Wahrscheinlichkeit. Das Bündel wird nicht substantiel, sondern bleibt in allen Wahrscheinlichkeitszuständen. So wie eine Schrödingerkatze, nach der nie jemand schaut.«
»Und wenn ein Mensch diese Reise anträte?«
»Dann könnte sein Tun möglicherweise eine Wahrscheinlichkeitsebene erzeugen, die ihn materialisieren lassen würde. Aber sicher können wir nicht sein. Alle unsere Vorhersagemodelle liefern keine belastbaren Aussagen dazu.«