- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Mtbf
M T B F
MTBF - Meantime Between Failures
Das Quietschen der vielen kevlardurchwirkten Gummisohlen auf den weißen Kunststofffliesen ging Lukas diesmal auf die Nerven und wirkte im Lärm jugendlichen Übermuts auf ihn seltsam deplaziert. Hinter ihm stießen sich die jungen Männer und Frauen wie Kinder, rempelten einander und rissen Witze, machten sich spaßeshalber gegenseitig an.
Er war seit einiger Zeit nicht mehr zu solchen Späßen aufgelegt und beeilte sich, in die Halle zu kommen.
Er fühlte sich gehetzt, während er den mit dem harten Licht blauweißer Dioden ausgeleuchteten Gang entlang ging und die an Sterilität grenzende Sauberkeit des Tunnels sorgte dafür, dass sich auf seinen Armen eine Gänsehaut bildete. Er fror, obwohl es nicht kalt war.
Lukas ging voraus, beklommen, schmalbrüstig und eingesunken, wie auf dem Weg zum Arzt oder ins Krankenhaus. Als suchte er schnell Hilfe und hatte gleichzeitig Angst vor der Diagnose.
Nach einem Rempler seines Hintermannes, der ihn zu drei schnellen Schritten nötigte und beinahe zu Fall brachte, riss er sich zusammen, hob die Schultern und drückte die Brust raus. Einfach um sich selbst das Gefühl zu geben, dass alles in Ordnung und er der Anführer der Staffel war. Dass es ihm gut ging und er nicht das Gefühl hatte, sich in einer Welt aus Plastik zu bewegen.
Es dauerte nur ein paar Schritte, bis er wieder die Haltung eines Menschen hatte, der auf die Hilfe zueilt, die auch Gewissheit über das Ende bringen kann.
Hinter ihm jaulte jemand theatralisch auf.
Er fühlte sich seltsam, irgendwie undefinierbar unwohl, als wäre tief in ihm ein Kampf zwischen seinem Immunsystem und einem Virus im Gange, der gerade auf des Messers Schneide stand. Er war seit dem letzten Einsatz Truppführer, der mit der höchsten MTBF; aber er protzte nicht damit, weil er sich nicht entsprechend fühlte. Etwas nagte an ihm, das nicht an seinen Kameraden nagte. Etwas, das er nicht greifen konnte und das sehr wohl psychisch oder psychosomatisch bedingt sein konnte.
Die Edelstahltür am Ende des Ganges bemühte sich nicht, ein Geräusch zu machen, während sie zur Seite glitt. Nacheinander folgten ihm die halben Männer und mädchenhaften Frauen in den Durchgang.
Die Halle erinnerte entfernt an eine behelfsmäßig eingerichtete Intensivstation mit vielen unterschiedlichen Sitz- und Liegegelegenheiten. Zögernd ging er auf einen der mit Namen gekennzeichneten Plätze zu, während seine Kameraden weiter Beleidigungen und höhnische Worte austauschten. Mittlerweile zogen sie sich gegenseitig mit ihrer MTBF auf, die als unscharfe Tabelle auf der rechten Wand angezeigt wurde.
Reflexartig prüfte Lukas mit der Hand die Oberflächentemperatur des Lederbezugs seines Relaxsessels mit der Kennung „Reality8“, lächelte halb zufrieden und legte sich umständlich darauf. Die aktive Polsterung stellte sich sofort auf seinen Körper ein und ermöglichte ihm tagelange Liegephasen ohne Ermüdungserscheinungen oder Druckstellen. Bei jedem seiner vorigen Einsätze hatte er sich in ihm geborgen gefühlt, so als könnte ihn die Welt einmal kreuzweise.
Heute nicht.
Er trommelte mit den Fingern auf dem Bezug des Sessels und sah schräg nach vorne zu dem erhöhten Bereich am Ende der Halle, während die anderen sich nach und nach auch zu ihren Sitzen begaben. Die mit modernster Technik überladene Bühne wirkte wie ein von allen Seiten zugänglicher, von keinem mildtätigen Tuch verhüllter Notoperationssaal.
Man soll die lebensrettende Technik sehen, dachte er, um Vertrauen zu schöpfen.
Nur dass es hier um das virtuelle Leben von animierten Sprites ging. Und das erste Mal in seinem Leben taten ihm die programmierten Figuren leid.
Mit einem verkrampften Lächeln fragte er sich, wieso er mit künstlichen Figuren ohne Identität oder Bewusstsein Mitleid haben konnte und schalt sich einen Idioten. Eher sollte er mit seinen Gegnern Mitleid haben. Das waren die armen Schweine.
Er wischte sich über die Stirn und das Bedauern beiseite. Dann sah er auf die Anzeige an der Seitenwand und jetzt leuchtete doch so etwas wie Stolz in seinen Augen auf.
‚MTBF Petzold: vierunddreißig Komma sieben’
Lukas Petzold, der sich immer wieder grinsend damit entschuldigte, dass er vor lauter langen, nie enden wollenden Einsätzen keine Zeit zum rasieren fand, hatte eine über zwei Stunden höhere MTBF als jeder andere im Saal. Er schob seinen Körper mit den Beinen ein bisschen nach oben, damit seine Füße ausgestreckt auf dem Fußteil des Sessels liegen konnten.
Mit einem Nicken grüßte er seinen Gruppenführer zwischen den Geräten auf dem Leitstand.
Nicht mehr lange, bis er wieder im Spiel war und das tat, was er konnte.
Sein Unwohlsein verschwand und die Beklemmung löste sich auf.
Er atmete aus, hörte auf zu trommeln und entspannte sich.
Er glich einem lebenden Toten, so ruhig lag er da.
Lukas erkannte das Holo auf dem Leitstand sofort als das räumliche Bild einer Stadt mit zerschossenen Bürotürmen, ausgebrannten Kaufhäusern und zerbombten Fabriken am Stadtrand.
Er war angekotzt. Nicht nur, dass er immer noch nicht hundertprozentig fit war. Nein, heute mussten sie auch noch in einen Häuserkampf. Das bedeutete hohe Verlustraten, schnelle Ausfälle und in der Regel am Ende eine niedrigere MTBF. Eine wesentlich niedrigere.
Nur wenn er die anderen schneller erwischte, behielt er seinen Vorsprung. An ein Vergrößern desselben war im Stadtkampf gar nicht zu denken.
Lukas erinnerte sich, dass noch vor Wochen die gekillten Feinde gezählt worden waren und aufgrund dieser Zahlen die Tabelle erstellt wurde. Dann, von einem Tag zum anderen wurde MTBF die Messgröße. Zur Ressourcenschonung, hatte der Gruppenführer gesagt. Weil bei den Einsätzen jedes Mal ein mit viel Aufwand programmiertes Sprite den Tod fand. Sie hatten alle gelacht.
Der Gruppenführer ging durch die Reihen junger Menschen und schüttelte jedem die Hand, hatte noch ein lockeres oder aufmunterndes Wort, je nachdem, was er im Gesicht des Betreffenden las. Dann legte er die Armmanschette an, durch die er die nächsten Stunden, im besten Fall Tage, mit Nährstoffen versorgt wurde, klappte die Luke über dem rechten Ohr auf und stöpselte ihn ein.
Dann der Nächste.
Lukas fand es nur richtig, dass er sich die Mühe machen musste, auch wenn ihm das Procedere eigentlich peinlich war und er gerne darauf verzichtet hätte. Nach einem lauwarmen „Hey, du siehst Scheiße aus! Solltest mal wieder richtig spielen!“ von seinem Vorgesetzten schloss dieser ihn an. Grinsend dachte Lukas an die Tekks, die er sich zum spielen in den Kopf hatte operieren lassen. Noch am Tag der Einberufung hatten Bundeswehrärzte ihm die langsamen und ungenauen frei erhältlichen Implantate herausoperiert und durch vom Verteidigungsministerium freigegebene ersetzt.
Kurz fragte er sich, ob seine Gegner auch so heiß auf das Spiel waren, wischte den Gedanken aber zur Seite. Nichts war real in einer Welt wie dieser, in der Schlachten in Online-Welten geschlagen wurden und wo das Blut der Gegner in Hektolitern berechnet werden konnte.
Dafür war es von Bedeutung, dass er in eine Kaserne nach Frankreich einberufen worden war, nachdem er bei der Musterung einen eigens veranstalteten Wettkampf im Shooter „Reality“ gewonnen hatte. Seine Reflexe und schnellen Reaktionen hatten ihn zum Mann der Wahl gemacht.
Wahrscheinlich hatten diese Fähigkeiten in „Reality“ ihm das Leben gerettet, denn während seine Altersgenossen einberufen wurden, um irgendwo an der Front weit im Osten im Kampf gegen die Chinesen ihr Leben zu riskieren, war er in einer Trainigseinheit gelandet.
Und er kämpfte gegen die Rekruten, die für ihn gegen die Chinesen kämpfen sollten. Sie waren am Ende der Ausbildung und sollten sich mit den psychischen Belastungen eines echten Kampfes vertraut machen, um eine höhere Überlebenschance zu haben.
Außerdem argwöhnte Lukas, dass die trainierten Rekruten später im Kampf den Ernst der Lage mit dem Trainingsspiel verwechseln sollten. Vielleicht sollten sie dadurch eher bereit sein, Gefahren einzugehen.
Bis auf heute morgen fühlte er sich wohl in der Kaserne, und wenn jetzt noch das Spiel begann, war er glücklich.
Auf jeden Fall verdankte er seinen Nick diesem Spiel, das er spielte, seit er Teil zwei auf dem Heimrechner starten konnte.
Er streckte sich noch einmal auf dem Sessel, bog den Kopf so weit es ging nach beiden Seiten und nach einem letzten Blick auf die Tabelle schloss er die Augen und für einen Moment roch er nur noch das warme Leder seines Sessels.
Die Übelkeit war verschwunden, seine Gedanken wurden leichter, freier.
Ein letzter Moment der Ruhe.
Er war bereit, so bereit, wie er nur sein konnte.
Fertig.
Per Signalton wurde die Freigabe gegeben und entschlossen hieb er mit der beinahe noch kindlichen Faust auf den roten Knopf an der Seite seines Liegesessels. Damit war er nur noch Geist und Spiel, sein Fleisch war jetzt in der Hand von Pflegern, die, wie er wusste, noch diverse Schläuche und Geräte an seinen Körper anschlossen.
Er sah nichts, dann wurde sein Sichtfeld hellblau und ein paar Buchstaben fragten ihn nach seinem Login. Er erlaubte den Iris-Scan und das Spiel begrüßte ihn mit „Willkommen Reality8“ und einem kurzen Briefing, das er übersprang. Der Auftrag war sowieso klar. So lange wie möglich am Leben bleiben und dabei die maximale Anzahl Gegner erledigen.
Die Buchstaben verschwanden und ein verwaschenes Bild aus dunklen Grautönen und vor allem Schwarz erschien, mit dem er nichts anfangen konnte. Mehrmaliges Blinzeln klärte die Lage einigermaßen. Es war wirklich dunkel und er konnte tatsächlich kaum etwas erkennen. Reality8 setzte sich auf und sah sich langsam um. Es dauerte eine Weile, bis er sich klar darüber war, wo er dieses Spiel begann. Er befand sich wahrscheinlich in einem roh betonierten Keller. Nur durch die Restlichtverstärkung, die ihm die Software zur Verfügung stellte, konnte er Schemen erkennen.
Seine Kameraden waren ebenfalls am Aufwachen und er regelte zuerst das Adrenalin seiner Figur ein bisschen hoch. Dann erhob er sich und ließ sein Sprite sich strecken. Mit den Fingerspitzen berührte er die rau abgeformten Holzmaserungen im Beton der Decke. Er machte ein paar Aufwärmübungen, die länger als normal dauerten. Nachdem die Anzeigen für die Muskelbereitschaft einen erträglichen Wert erreicht hatten, war er warm und einsatzfähig.
Er verriegelte die Adrenalinversorgung auf dem eingestellten Wert. Bei Gelegenheit würde er feststellen müssen, warum er diesmal einen höheren Grundpegel an Adrenalin brauchte. Im Moment wussten nur der Henker und der Programmierer, warum. Er kicherte und ein paar seiner Kameraden drehten ihm ihre verwaschenen Gesichter zu.
Reality8 ließ sein Sprite die Ausrüstung überprüfen, ging mit ihr im Schein der Taschenlampe in die nächste Ecke. Nacheinander schaltete er die noch deaktivierten Sinne ein. Dann stellte er sich an die Wand und packte aus.
Mit einem Gefühl der Befreiung nahm er schlagartig den nass-muffigen Zementgeruch des betonierten Kellers und Sekunden später erst den süßlichen Gestank von stundenaltem Morgenurin wahr.
Er verzog das Gesicht unter seinem Helm und machte sich eine mentale Notiz, den Geruchsinn erst nach dem Urinieren einzuschalten. Das virtuelle Post-it verschwand in der geistigen Schublade, in der auch die anderen mit gleichem Inhalt verschwunden waren.
Es war gegen die Vorschriften, ein Sprite Aktionen ohne eingeschaltete Sinneswahrnehmungen durchführen zu lassen, aber er hasste diesen Gestank, den die Programmierer wohl aus Bosheit und übertriebenem Realitätssinn in den Code aufgenommen hatten.
Reality8 fragte sich, ob überhaupt jemand einen solchen Gestank programmieren konnte.
Tief gebückt schlich er hinter der Figur seines Kameraden Robert an den Fassaden unter den Fenstern im Erdgeschoss die Seitenstraße entlang, drückte sich wie dieser an die Wände der mehrstöckigen Häuser, die den Gehweg säumten. Auf der anderen Seite der Straße versuchten zwei weitere Sprites aus seiner Gruppe in gleicher Weise, am Leben zu bleiben. Der Hintere sah ihn an. Das wusste er.
Reality8 blieb an die Wand gedrückt stehen und sah ihm in das verwaschene Oval, das anstelle eines Gesichts über den Rumpf programmiert war. Absichtlich nicht detailliert, nicht animiert. Er grinste dem konturlosen Ei mit Haaren zu, obwohl der andere seine Züge auch nicht sehen konnte.
Eine Geschossgarbe riss Robert von den Beinen.
Reality8 warf sich blitzschnell zur Seite, der ihm zugedachte Feuerstoß des Gegners ging fehl. Er schaffte es, in einen Hauseingang zu hechten. Weitere Kugeln gingen fehl, rissen große Stücke aus dem schon löchrigen Putz der Wände. Er drückte sich an das verschlissene Kleid des Gebäudes und wagte einen schnellen Blick zu Robert. Dessen Sprite lag strampelnd und sich krümmend am Boden, wischte ihr eigenes Blut in das graue Pflaster des Gehwegs und ließ es lebendig erscheinen.
Wenigstens hatten die Programmierer für die Trainer die Schreie nicht in den Code eingebaut.
Reality8 war elend zumute, so real war die Szene, auch wenn er Sprites schon öfter grausam sterben gesehen hatte. Und es mit seinen Figuren erlebt hatte.
Reality8 zuckte sofort zurück als der senkrechte Gesundheitsbalken an der linken Seite seines Sichtfeldes schlagartig auf zweiundneunzig Prozent sank. Ein Icon in Form seiner linken Hand erschien unter dem Balken und er hob sie. Durch ein Loch in der Mitte konnte er hindurch schauen.
Er war getroffen. Und nur weil er Roberts Sprite sterben sehen wollte.
„Verdammt!“, fluchte er.
Ab jetzt war besondere Vorsicht angesagt. Bei einer Gesundheitsquote von siebzig Prozent war man so gut wie erledigt, so empfindlich waren die Figuren programmiert.
Ein Fehler wie eben war unnötig wie ein Voodoo-Priester in einem Krankenhaus und durfte ihm einfach nicht passieren. Mit solchen Kleinigkeiten konnte man sich die beste MTBF ruinieren.
Er meldete Roberts Ausfall an den Gruppenführer, obwohl dieser ihn bestimmt schon auf dem Schirm im Leitstand hatte.
Roberts Spielfigur wurde nicht ausgeblendet.
Der Befehl war eindeutig, und Reality8 kontaktierte sofort die Beiden auf der gegenüberliegenden Straßenseite, teilte ihnen durch Aktivierung der in seinem Sichtfeld vorgeblendeten Icons mit, dass er ihnen beim Überqueren der Straße mit der Maschinenpistole Feuerschutz geben würde.
Während er mit kurzen Feuerstößen die Fenster auf der Gegenseite bestrich, das Magazin wechselte und weiter schoss, rannten sie im Zickzack zu ihm herüber. Er wechselte das Magazin erneut und spähte noch mal zu den Fenstern, bevor sie sich kurz per Icons unterhielten.
Die beiden hatten nicht bemerkt, woher die Schüsse gekommen waren, wahrscheinlich irgendwo aus einem der oberen Stockwerke. Vielleicht ein ausgebildeter Scharfschütze, aber das konnte sich Reality8 selbst denken.
Er spuckte aus und trat gegen die Tür im rettenden Hauseingang, aber sie bewegte sich nicht. Ein Feuerstoß aus der Hüfte erledigte dieses Problem.
Sie gingen geduckt das Treppenhaus hinauf und suchten sich aufs Geradewohl eine Wohnung im dritten Stock des Gebäudes aus und drangen, sich gegenseitig Deckung gebend, ein. Dann teilten sie sich und er sicherte nach allen Richtungen, als er die grüne Resopalküche betrat.
Sie war einigermaßen aufgeräumt, ein paar ungewaschene Teller in der Spüle, seitwärts lag ein Zeitungsanzeigegerät, ein elektronisches Gerät, so groß wie ein Blatt Papier, so dick wie eine Scheibe Käse, daneben ein angeschnittener Laib Brot, aufrecht stehend vor der Schneidemaschine.
Damit der Anschnitt nicht austrocknet.
Wie bei uns zu Hause, dachte Reality8.
Er überflog die aufgeregten Schlagzeilen des Dresdner Boten, die verkündeten, dass der Gegner kurz vor der Stadt stand, dann schaute er auf die Datumsanzeige des Anzeigers. Wahnsinn, welche Mühe sich die Programmierer mit den Details gemacht hatten.
Er ging in den Gang zurück, und checkte das Kinderzimmer auf der anderen Seite. Vorsichtig, die Waffe schussbereit in Brusthöhe haltend, betrat er, über benutzte Kleider, Zeitschriften und Teller steigend, das Jugendzimmer. Popstars und Pferde grinsten ihm von den Wänden entgegen. Ein Puppenhaus stand ordentlich in der Ecke, alle Figuren sauber bekleidet und akkurat in sauberen Räumen aufgestellt. Auch die im Kinderzimmer. Er fand es amüsant, wie die Programmierer die Realität des Spiels in der Realität des Spiels im Spiel negiert hatten.
„Reality8“ nahm einen Ausdruck mit dem Programm mehrerer Internetfernsehsender vom aufgewühlten Bett und ließ ihn sofort wieder sinken.
Entweder war dieser Programmteil noch nicht alt oder er bezog das Datum online.
Er trat den Haufen Kleider und Hefte zur Seite und verließ den Raum.
Reality8 überdachte die unterschiedliche Ordnung der Details des Lebens im Spiel.
Er öffnete die Tür zum Bad, ging am Waschbecken vorbei zur Schüssel und checkte automatisch die Toilettenartikel unter dem Spiegel.
Und zuckte zusammen.
Blieb stehen.
Vor ihm war ein Gesicht.
Das Gesicht seines Sprites.
Der Spiegel zeigte ihm kein verwaschenes Oval, sondern stiere Augen tief in den dunkel unterlaufenen Höhlen, grobe Falten an den Augenwinkeln und auf der hohen Stirn, das graue Haar verfilzt und abstehend, wahrscheinlich tagelang nicht gewaschen, die dünnen Lippen blass und rau.
Er schätzte die Figur auf Mitte oder Ende sechzig und wusste jetzt auch, warum sie so träge reagierte und mehr Adrenalin brauchte.
Seine Figur war alt. Programmiert.
Irgendwie hatten die Programmierer die Figuren doch stärker detailliert, als sie es die Spieler erkennen ließen. Warum? Für seine Gegner? Oder sollte das nächste Update richtige Figuren erhalten? Noch mehr Realismus? Man hatte die relieflosen Eier programmiert, nachdem einige Spieler nach dem Tod ‚ihres’ Sprites traumatisiert und für das Spiel nicht mehr zu gebrauchen waren. Oder hatte sich da nur ein Programmierer einen Spaß gemacht? Das war genauso wahrscheinlich, wie die Möglichkeit, dass alles, was er erlebte real war.
Er beugte sich vor, näher an den Spiegel heran, betrachtete kurz die Haut mit den groben Poren, aber was ihn fesselte, waren die Augen. Sie schienen schon alles gesehen zu haben, sich aber an nichts mehr erinnern zu können. Die Pupillen waren weit, als stünde die Figur unter Drogen, aber glücklich war sie nicht.
Lukas stellte sich wieder gerade hin und sah dann an seinem Spiegelbild herab. Die Figur trug ein Hemd in oliv und als er sich drehte, sah er schwarz, rot und gold auf dem Ärmel prangten. Irritiert blinzelte er. Die Flagge war schon vor langem zugunsten des blauen Sternenbanners abgeschafft worden. Aber seine Figur trug sie wie ein Abzeichen.
Was sollte das alles?
Diese Details einzuprogrammieren dauerte lange und brachte nichts. Wofür war es dann programmiert worden?
Irgendwo tief in ihm konnte er jetzt das ungute Gefühl lokalisieren.
Keine Grippe, kein Unwohlsein.
Argwohn.
Es schüttelte ihm die Schultern, als er daran dachte, wie wohl eine Handverletzung aussehen würde, die acht Prozent wert war?
Er fürchtete um seinen programmierten Mageninhalt.
Und hob trotzdem die Hand.
Virtuelle Übelkeit ersetzte den Argwohn tief in ihm.
Die Hand hing in Fetzen, die beiden letzten Finger fehlten und Reality8 sah sogar die Knochen und Sehnen. Seine Knie wurden weich, als er daran dachte, wie sich das anfühlen musste.
Das war acht Punkte wert, entschied er.
Dann dachte er an den alten Mann im Spiegel.
Ob er echt war?
Es wurde dunkel und gleichzeitig schmerzte sein Herz als würde seine Brust implodieren.
Auf schwarzem Grund erschienen die weißen, unbarmherzigen Boten seines Versagens. „Game over“ riefen sie ihm groß in Arial zu.
Die Wohnung musste von einer Rakete getroffen worden sein. Er schimpfte lauthals, hörte jetzt zum ersten Mal seit Beginn wieder etwas anderes als die Geräusche aus dem Tekk. Die Flüche anderer Spieler.
Die beiden aus der Wohnung hörte er nicht wettern.
Er zuckte mit den Schultern und ließ sich seine MTBF anzeigen.
Einundzwanzig Komma sieben.
Stunden.
Er fühlte sich elend, legte die Arme vor seinen Bauch.
Ein Streiflicht Erinnerung zog einen flimmernden Schweif durch sein Hirn, während der obligatorische Nachspann des Programms lief. Bilder vom Ufer eines dahin fließenden Baches, damit er sich wieder beruhigte.
Hatte man heute vielleicht ein paar Funktionen getestet, die für die Ausbildung der Soldaten vorgesehen waren, die tatsächlich an der Front kämpfen mussten?
Hatte der Alte vielleicht alles miterleben müssen, ein Tekk im Kopf, gesteuert von einem Jugendlichen, beinahe tot vor Angst und mit einer Hand, die er sich vor Schmerzen vielleicht gerne abgeschnitten hätte?
Oder spürte er seinen Körper nicht, so wie er selbst, der vielleicht die Fäden des alten Mannes in der Hand gehalten hatte. Sozusagen.
Es ist alles echt, dachte Lukas und schrie unkontrolliert. Dann löste sich die Szene vor ihm auf und ging in einen farbenfrohen Wirbel aus Komplementärfarben über, aus dem es ab und an aufblitzte. Er wurde bewegt, merkte es an der Beschleunigung seiner Liege, strampelte mit den Beinen, schrie weiter. Dann sah er nichts mehr.
„Lukas, du spielst ein Spiel, in dem Sprites getötet werden“, sagte der neben ihm gehende Hypnotiseur mit tiefer, sonorer Stimme immer und immer wieder und schob den Rollständer mit dem Infusionsbeutel, während ein Uniformierter ihn an der Bühne vorbei auf eine Tür zu schob.
„Seine MTBF2 geht in den Keller“, sagte einer der grau uniformierten Männer zu seinem Kameraden mit dem brillanteren Abzeichen. „Er bricht seit ein paar Wochen schon nach dem vierten Einsatz zusammen.“
„Ich hab mich schon lange gefragt, ob bei diesen jungen Leuten etwas im Kopf zurückbleibt, das sie irgendwie … aufmerksamer macht. So aufmerksam, dass sie in immer kleineren Abständen behandelt werden müssen.“
„Möglich. Ich weiß es nicht.“
„Egal, war nur so ein Gedanke. Wenn er nur noch zwei Einsätze ohne Behandlung aushält, wird auch er anderweitig verwendet.“