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Mr. Jupiter
Lukas lauschte, aber alles, was er wahrnahm, war ein Summen, das in seinem Kopf festhing wie ein feiner Nachgeschmack. Der Nachgroove dieser schönen Nacht. Je mehr er lauschte und sich darauf konzentrierte, desto greifbarer wurde er und ließ ihn mit dem Kopf nicken – Takt für Takt. Fast hörte er wieder die schwirrende Trompete und den brummenden Bass im Magazin, dem besten Club der Stadt. Fast war er wieder dort, wo sie auch war, die Frau in dem roten Kleid; ihr kesses Lächeln, ihr Blick und das Gefühl – als er sie küsste. Unruhig stand er auf und pustete heiße Atemwolken in die Luft. Die Bahn würde gleich im Tunnel auftauchen – ein metallisches Quietschen ertönte. Das erste Licht der Scheinwerfer war schon zu erkennen. Dann ging ein Stoß durch die Erde, die Straße knirschte, die Gleise zirpten, Vögel flatterten krächzend aus den Bäumen und der Boden erzitterte. Es klang, als würde ein Riese Felsen raspeln.
Aus dem Tunnel quoll schwarzer Rauch. Licht flackerte rot. Ein Zischen ertönte, gefolgt vom Kreischen sich biegenden Metalls. Die Rauchwolken wurden dichter. Wo sie vorher zögerlich in die Nachtluft drangen, ergossen sie sich jetzt in dichten Schwaden. Im Tunnel loderte es. Lukas war gelähmt. Sein Herz hämmerte. Seine Gedanken überschlugen sich, wie Leute, die panisch aus einem einstürzenden Haus flüchteten. Es dröhnte in seinem Kopf. Er wollte wissen was los war und gleichzeitig weg, bestenfalls nach Hause. Dann wurde der Krach rhythmisch, wie die Ouvertüre zu einer dramatischen Oper. In der Schwärze bewegte sich etwas. Eine Dampflok, dachte er. Dann erkannte er Umrisse. Einen Kopf. Riesige Hörner. Funken stoben aus einer Schnauze. Sein Bauch sagte, lauf weg! Sein Verstand, dass das nicht wahr sein konnte. Neben ihm im Gleisbett lag ein Drache.
Der Drache auf Schienen entließ Männer in Anzügen, aus einer Tür an seiner Flanke. Lukas sah Schlagringe aufblitzen, locker in Mundwinkeln geparkte Zahnstocher und wunderte sich über die altmodischen schmalkrempigen Hüte. Eine der Mafiavisagen grinste ihn an und schnipste mit dem Finger Richtung Tür. Lukas hob die Augenbrauen und bekam eine Faust in den Magen. „Sonst noch was?“, fragte der Schläger und schleppte ihn mit Hilfe eines Zweiten hinein.
Die Einrichtung war edel. Holzvertäfelte Wände, goldene Blumenornamente, Kristallleuchter und bequeme Polster. Das war auf jeden Fall die erste Klasse. Drinnen rekelten sich weitere Typen im Mafiaverschnitt auf bequemen Bänken. Sie alle musterten Lukas aus zusammengekniffenen Augen.
Schubsend wies man ihm den weiteren Weg ans Ende des Abteils, bis vor einen schweren Vorhang. Plötzlich gab es einen starken Ruck und der Krach, den er schon von draußen kannte, begann erneut. Diesmal gedämpft durch die Außenwände. Das Gefährt bewegte sich. Durch die Fenster sah er die Haltestelle vorbeigleiten. Um sein Gleichgewicht ringend musste er sich an einem der Männer festhalten. Scheiß drauf, dachte er. Er hatte die Nase voll. Wenn er nach Hause wollte, musste er das selbst in die Hand nehmen. Beherzt sprach er den nächsten Mafioso an: „Ist das die Vierundneunzig, im Nachtverkehr?“
Er erhielt keine Antwort, stattdessen hörte er eine Stimme, die sanft, aber durchdringend durch den dicken Vorhang kam: „Das, mein sehr geehrter Gast, ist sicherlich die tollkühnste Einschätzung, die ich je zu diesem Vehikel gehört habe. Obwohl und da liegen Sie gänzlich richtig, Sie mit dem Nachtverkehr unterwegs sind.“
Der Vorhang öffnete sich einen Spalt und Lukas wurde hindurch gedrückt. Protzig, dachte er. Das Abteil wurde von einer großen goldenen Theke dominiert. Am Tresen polierte ein geschniegelter Barkeeper ein Glas.
Lukas versuchte, abgebrüht zu klingen und erwiderte: „Wie wünschen Eure Durchlaucht denn, dass man dieses Vehikel bezeichnet?“
Dabei deutete er eine Verbeugung in Richtung des Barkeepers an, dessen fassungsloser Blick zwischen Lukas und einer Stelle wechselte, hüfthoch zu dessen Linken. Lukas sah nun ebenfalls zu dieser Stelle und ergänzte seine Frage durch ein verwirrtes: „Hä?“
Auf einem Canapé saß ein Wesen, das er sogleich als Katze identifizierte, aber keiner Katze glich, die er kannte. Es war viel größer als eine normale Hauskatze, aber zu klein für einen Tiger. Gekleidet wie die Mafiosi, mit einem Hauch mehr an Eleganz. Lukas starrte mit offenem Mund die Katze an. Mit ihrer Pfote gab sie zu verstehen, dass er sich setzen solle.
„Sie erscheinen überrascht“, amüsierte sich das Katzenwesen. „Möchten Sie vielleicht etwas trinken? Mr. Jonny serviert einen fabelhaften Old Fashioned.“
Seine Bewegungslosigkeit animierte einen der Anzugträger, ihn vorsichtig in Richtung des gegenüberliegenden Canapés zu bugsieren und ihn mit leichtem, aber bestimmendem Druck zum Setzen zu zwingen. Ein Gedanke drehte sich unterdessen in seinem Kopf und ließ sich so schwer festhalten wie das eigene Spiegelbild in einer Discokugel. Was waren das für Drogen und wie viel hatte er davon genommen? Krampfhaft versuchte er sich zu erinnern, was er in den letzten Stunden getan hatte.
Er war zu Hause mit einem Bier in jeder Jackentasche und einem in jeder Hand gestartet. Traf sich mit einem Freund auf dem Weg zum Magazin, wo Jupiters Rat‘s auftreten würden. Am Hintereingang hatte er mit Sicherheits-Bob einen Joint geraucht. Der daraufhin blass wurde und sagte, dass sich das Gras anscheinend nicht mit dem Château Lafite verträgt, den er kurz vorher heimlich auf Toilette getrunken hatte. Lukas nutzte die Chance und huschte durch den Backstage-Bereich direkt vor die Bühne des Magazins. Genau pünktlich, denn Armand Amar klinkte gerade das Kabel in seine E-Gitarre und zupfte langsam, fast zärtlich die ersten Töne des ersten Songs, Hors-la-loi. Der Abend verlief besser, als Lukas sich erhofft hatte. Eingewoben im Netz aus Rhythmus und Klang zog ihn die Musik in einen wilden Rausch. Er stellte sich vor, wie es wäre selbst auf der Bühne zu stehen. Das Publikum gehörte ihm, zuckte willig im Bann seiner Musik und dann, sah er Sie. Ein Augenpaar zwischen schwitzenden grinsend weggetretenen Menschen fing seinen Blick ein. Wurde zum Leitstrahl. Zog an ihm. Verdampfte alles andere und verlangsamte die Zeit. Er konnte sich nicht erinnern, zu ihr gegangen zu sein, doch sie küssten sich, als Peter Pollaks Posaune einsetzte und Armand Amars abgründig schmollende Stimme über die wahre Liebe sang. Es war ein perfekter Moment.
„Mr. Jonny, machen Sie unserem Gast einen Michael Collins, er sieht nicht aus wie der Old Fashioned-Typ.“
Das elegante Katzenwesen, mit seinem weißen Einstecktuch und dem Gehstock, auf dem es jetzt seinen Kopf auflegte, sah ihn an – sein Gesichtsausdruck wirkte interessiert.
„Wissen Sie, warum Sie hier sind Mr. Luka?“
Er wusste nur, dass er gerade den krassesten Trip in der Geschichte der Trips schob und ahnte, dass die Antwort nicht: "wegen der Drogen", lautete.
„Wegen der Frau“, sagte er, ohne nachzudenken.
„Mr. Luka, ich bin begeistert.“
Das Katzenwesen war in der Tat sichtlich begeistert und grinste breit. Lukas hingegen war nicht weniger verwirrt als vorher. Hatte sie ihm etwa die Drogen verabreicht?
„Was bedeutet das?“, fragte er.
„Was denken Sie denn, Mister Luka?“
Der vermeintlichen Logik eines Drogentrips folgend, vermutete er laut: „Sie sind das Schmusekätzchen meiner Bekanntschaft und bringen mich jetzt zu ihr?“
Das Grinsen der Katze wich, zwei Mafiagorillas sprangen vor, packten seine Arme, drücken ihn weiter in das Canapé und Mr. Jonny platzierte eine Linksrechtskombination in Lukas´ Gesicht.
Sofort hatte er das schmerzliche Gefühl, dass irgendetwas mit seiner Nase nicht mehr stimmte.
„Entschuldigen Sie bitte.“ Der Kater schmunzelte nun wieder. „Meine Angestellten sind sehr aufmerksam. Es gibt ein Wort und das haben sie gerade genannt, das ich ohnegleichen verabscheue.“ Der Kater sah aus, als müsste er ein Fellknäuel hochwürgen, während er das sagte.
„Sie meinen Schmu…?“ Der Kater neigte den Kopf wie bei einem: fast, aber nah dran.
„Ka…?“ Die Schlägertypen zuckten, Lukas kniff die Augen zu und hob die Hände.
„Wissen Sie Mr. Luka, das ist meine Schuld. Ich habe mich nicht vorgestellt. Wüssten Sie, wer ich bin, hätten Sie diesen Fehler nicht begangen. Es sei denn, Sie wären sehr dumm. Sie sind doch nicht dumm – oder Mr. Luka?“
Obwohl er sich gerade sehr dumm vorkam, schüttelte Lukas den Kopf, dann nickte er. Keine Ahnung, wie er ausdrücken sollte, dass er sich eigentlich für ziemlich clever hielt.
„Mein Name ist: Mr. Jupiter.“
Ein stechender Schmerz durchzuckte Lukas´ Nase, als er drauf und dran war sein „Was-soll-der-Scheiß-Gesicht“ aufzusetzen. Er versuchte, jede Mimik zu vermeiden, als er leise sagte:
„Mi. Au?“ Sofort kam wieder Bewegung in die Gorillas. „Aua, aua, aua! Es tut weh, ich habe Aua gesagt.“
Diese Ausgeburt seiner Fantasie war eindeutig nicht zu Späßen aufgelegt – und wer verdammt war Mr. Jupiter? Der seltsame Ka… beschwichtigte seine Spießgesellen mit der Pfote und fuhr dabei eine Kralle aus, so dass man meinen konnte, er wolle ihm den Mittelfinger zeigen.
„Warum bin ich hier?“
„Oh, Sie sagten es schon. Ich vermute allerdings, dass Ihnen die Hintergründe nicht hinreichend bekannt sind. Ich möchte Sie gerne aufklären. Die Ursache für unser Zusammentreffen ist einem Vertrag zuzuschreiben, den Sie heute gebrochen haben.“
„Einem Vertrag?“
Er lächelte Lukas spöttisch an.
„Armer Mr. Luka. Ihnen ist sicher der Name Mr. Manfred geläufig?“
„Nein.“
„Nicht? Das ist seltsam, meinen Informationen nach kennen Sie ihren Großvater.“
„Äh …“ er runzelte die Stirn. „Was hat denn mein Großvater mit der ganzen Sache zu tun?“
„Trinken Sie ihren Michael Collins, Mr. Luka, er ist sehr gut.“
„Ich kannte meinen Großvater, aber nur kurz. Ist früh verstorben.“
„Ja, was für eine Verschwendung. So viel Talent.“
Lukas wusste, worauf er anspielte. Sein Großvater war ein begnadeter Blues-Gitarrist gewesen und ständig auf Tournee, bis das immerwährende Leben auf der Überholspur seinen Tribut forderte. Ein tödlicher Herzinfarkt auf der Bühne und das war’s.
„Was hat das mit mir zu tun?“
„Nun, Mr. Manfred und meine Wenigkeit hatten einen Vertrag, der über zehn Generationen geknüpft wurde. Was so viel heißt wie: Wir haben einen Vertrag.“
Lukas verstand nicht. Was sollte dieses Gerede?
„Was für ein Vertrag soll das sein?“
„Zusammengefasst habe ich Mr. Manfred und den ihn folgenden Generationen ein besonderes Talent zugesprochen. Als Gegenleistung trat er mir ihr Recht auf die wahre Liebe ab.“
Lukas nahm den Michael Collins und trank. Die wahre Liebe – abgetreten? Er dachte an seine Eltern, die sich hatten scheiden lassen und an seinen Großvater, der zeit seines Lebens ein Weiberheld gewesen war.
„Sie meinen, mein Großvater hat Ihnen die wahre Liebe verkauft?“ Das war ein bisschen zu abgedreht, als das Lukas sich ein Schmunzeln hätte verkneifen können.
„Etwas vereinfacht ausgedrückt, aber ja, das hat er.“
„Wie soll das gehen?“
„Indem er ihr aus dem Weg ging.“
Jetzt musste er lachen. „Seine große Liebe war die Musik, er hat Sie reingelegt.“
Wieder zeigte der Katzen-Mister, dass er zu einer sehr menschlichen Mimik fähig war, indem er gespielt einen Schmollmund verzog und dann so tat, als hätte Lukas einen flachen Witz erzählt.
„Köstlich, Mr. Luka. Sie sind gewitzt, aber auf der falschen Fährte. Es geht um die wahre Liebe, die uneigennützige Liebe zu einem anderen Menschen, die jede Liebhaberei übertrifft und alle Gelüste in den Schatten stellt.“
Lukas kam aus dem Grinsen nicht mehr raus. „Sie meinen die Liebe, wie sie in Märchen und Geschichten vorkommt?“
„Sie sind Ihrem Großvater sehr ähnlich.“
„Das stimmt nicht – und wissen Sie was? Das ist der Beweis, dass alles hier, und ich meine, wirklich alles“, wobei Lukas mit seinem Arm die ganze verrückte Drachenbahn mit einbezog, „nur ein riesiger Scherz sein kann. Ich habe nämlich kein besonderes Talent. Mein Vater hat kein besonderes Talent und die wahre Liebe würde ich nicht mal erkennen, wenn sie direkt vor mir stehen würde.“
Plötzlich fehlte Lukas die Luft, um weiterzusprechen, und er fing das mitleidsvolle Lächeln ein, das über die Gesichter der beiden Gorillas huschte.
Mr. Jupiter beugte sich nach vorn und ein Schnurren lag in seiner Stimme, als er sagte:
„Wissen Sie Mr. Luka, ich glaube Ihnen. Deswegen ein gut gemeinter Rat von mir. Mit Talenten verhält es sich wie mit der Liebe, man muss sie erst finden, bevor man etwas für sie opfern kann“, dann sah er an Lukas vorbei und schnurrte in Richtung des Barkeepers, dass er „Sie“ jetzt holen solle. Halb erwartete Lukas, dass „Sie“, die Frau aus dem Magazin sein würde, sein Herz tat einen Sprung. Doch Mr. Jonny brachte nur eine Gitarre und reichte sie ihm.
„Spielen Sie“, forderte ihn Mr. Jupiter auf, doch Lukas sah ihn nur verständnislos an. Er konnte nicht spielen. Kopfschüttelnd wollte er das Instrument zurückgeben, provozierte aber nur, dass die beiden Schlägertypen ihre Fäuste ballten und ihm aufmunternde Blicke zuwarfen. Zögernd legte er seine Finger auf die Saiten. Es kribbelte. Die Gitarre kam ihm warm vor. Mit geschlossenen Augen presste er seine Finger auf das Griffbrett und schlug einen Ton an. Die Umstehenden verzogen ihre Mienen, als der Akkord schief durch die Luft schnarrte und sich in Missklang auflöste. Lukas war selbst überrascht, wie grausam sich das anhörte. Mr. Jupiter, dem sichtlich die Nackenhaare zu Berge standen, hatte die Krallen ausgefahren und fauchte: „Nett Mr. Luka, aber wir sind nicht dumm. Sehen Sie das als Chance und spielen Sie etwas Schönes oder meine Männer entfernen Ihnen Ihr Talent mit einem Hammer.“ Dem Kater war es ernst, das konnte Lukas in seinen Augen sehen. Die Männer waren fraglos zu allem bereit. Mit einem Hammer – dachte er und spürte, wie ihm heiß wurde. Mach dich locker, sagte er zu sich selbst. Aufs Neue drückte er die Gitarre fest gegen seinen Bauch und schloss die Augen.