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Loosely inspired by L. Sauer "Das ausgeliehene Sakko" & Jimmy "Grüne Welle"
Motte
Ich hasste die Fahrschule. Es war nicht das Autofahren. Das machte mir Spaß und dafür hatte ich ein Händchen. Mein Vater hatte mich schon früh im Urlaub auf dem Feldweg fahren lassen und seit einem Jahr übte ich auf der Straße vor unserem Haus Anfahren und Einparken. Wir wohnten in einer Sackgasse am Stadtrand, in der Nähe vom Stadtwald, wo das niemanden juckte. Abwürgen, Stottern, die Lücke nicht treffen, so was gab es bei mir schon lange nicht mehr. Nein, es war der Typ, bei dem ich die Fahrstunden nahm, der Besitzer der Fahrschule. Achim Blumenfeld! Ex-Bundeswehr, mit Aknenarben, die sich wie ein Granatenkrater in sein graues Gesicht gegraben hatten. Ich fand das witzig – er hieß Blumenfeld, hatte aber einen Acker in der Fresse. Wenn ich nachmittags in die Fahrschule kam, war meistens nur die Sekretärin da. Es roch nach abgestandener Luft und kaltem Rauch und ich musste warten, bis Blumenfeld eintrudelte. So auch an diesem Tag. Die Sekretärin schenkte mir keine Beachtung und ich schaute mir die dämlichen Erklärtafeln an, weil es keine Zeitschriften gab. Zehn Minuten später bimmelten endlich die Glöckchen über der Tür. Blumenfeld grunzte einen knappen Gruß und zog ein Big-Pack aus der Brusttasche. Ich weiß nicht mehr, was er rauchte, irgendwas mit weißer Schachtel, Krone oder HB, vielleicht auch Lord. Irgendsoeine Altemännermarke, die von uns keiner rauchte. Er steckte sich eine an, inhalierte tief und beim Ausatmen drückte er mir die Schlüssel für den Golf in die Hand.
“Stell schon mal die Spiegel ein!”
Dann ging er zur Filterkaffeemaschine und goss sich eine halbe Tasse ein. Die Sekretärin beachtete auch ihn nicht; es kann sein, dass sie seine Frau war. Ich lief durch die Einfahrt in den Hinterhof, wo der Wagen stand.
Ein paar Minuten später setzte sich Blumenfeld zu mir ins Auto.
“Ausparken, raustasten, dann links die Bonner runter.”
Ich schaute nicht zu ihm rüber, um seinen Atem nicht abzubekommen. Der Gestank seiner Klamotten war schlimm genug. Er machte das immer so, erklärte nicht, was er vorhatte oder wo wir hinfuhren, sondern gab nur Ad-hoc-Anweisungen im letzten Moment. Das sorgte bei mir für Dauerstress, was wohl genau sein Ziel war. Er schien das Ganze als militärische Ausbildung zu betrachten, als harte Schule, durch die man zu gehen hatte, um sich seinen Lappen zu verdienen. Dabei arbeitete er auch mit Demütigung. Als ich mal fragte, ob man nicht schon die Prüfung anpeilen könnte, es liefe doch gut, schwieg er nur. Kurz darauf ließ er mich durch den einzigen Kreisverkehr der Stadt fahren, in dem rechts vor links galt.
“Jetzt wärst du nämlich durchgefallen!”
Er sagte das so, mit diesem “nämlich”, als hätte er zuvor schon etwas zu meiner Frage gesagt und würde nun noch den abschließenden Beweis liefern. Was für ein Arschloch!
An der großen Kreuzung beim Großmarkt befahl er, “Rechts halten und auf die Brühler.”
Ich war froh, dass ich mich in der Gegend auskannte, und meisterte die Situation, ohne dass er was zu meckern hatte. Wir fuhren durch Raderberg, dieses potthässliche Viertel, dem niemand in der Stadt die geringste Beachtung schenkte. Beim Heeresamt dachte ich an meine Musterung, die damals ja noch nicht lange her war, wie ich mich vorbeugen und husten musste, und wie sie dort mit einfachsten Symbolen gearbeitet hatten, um einen in die richtigen Zimmer zu lotsen. Ich hatte mir einen Leuchtturm merken müssen und war dann zum Leuchtturmarzt gekommen; es war ein System für Vollidioten. Und jetzt gab mir doch noch so ein Heini Befehle.
Aber an der Ampel beim Militärring passierte etwas Seltsames. Blumenfeld bekam plötzlich gute Laune.
“Jetzt fahren wir ne Runde Nutten gucken!”, sagte er.
Keine Ahnung, wo das herkam. Vielleicht hatte er vorhin beim Großmarkt begriffen, dass ich so weit war, und jetzt war ich geadelt. Es war mir auch egal; erstens war ich nur daran interessiert, dass er diesen neuen Ton beibehielt, zweitens wollte auch ich gerne die Nutten sehen. Damals standen sie noch nicht alle hinten am Eifeltor, sondern sie verteilten sich lose auf die Parkplätze vom südlichen Stadtwald und auf die Ausfallstraßen in dieser Gegend. Jetzt am Nachmittag herrschte nicht gerade Hochbetrieb, aber hier und da stand eine rum.
“Bisschen langsamer”, sagte Blumenfeld dann und ich nahm den Fuß vom Gas. Wenn wir vorbeirollten, sah er aus dem Beifahrerfenster und gab Urteile ab.
“Die ist ein Schuss!”, oder, “Die ist nur was für die Polen!”
Manche winkten ihm zu und er winkte zurück.
“Geht nicht, Schätzchen, bin im Dienst!”
Während er sichtlich Spaß an der Nummer hatte, die er wahrscheinlich mehrmals die Woche abzog, war ich von den Nutten elektrisiert. Als Blumenfeld sagte, “Eine Straße nehmen wir noch mit, dann müssen wir mal langsam zurück”, war ich enttäuscht. Ich wollte weitermachen und weiterträumen.
Wir fuhren durch ein zwischen zwei großen Wiesen gelegenes Sträßchen. Blumenfeld brauchte jetzt nichts mehr zu sagen, ich verlangsamte selbst früh genug. Wir rollten auf sie zu. Es waren drei. Sie standen mit ein paar Metern Abstand voneinander vor niedrigen Begrenzungspflöcken aus Holz. Blumenfeld entdeckte sie vor mir. “Mann, ist die jung!”, sagte er.
Tatsächlich, eine war in meinem Alter. Ich konnte nicht lang hinsehen, schließlich war ich am Fahren und noch nicht so routiniert, dass ich es wagte, gar nicht mehr auf die Straße zu achten. Beim zweiten Blick merkte ich es dann – ich kannte sie. Sie hieß Natalie und war mal in meiner Klasse gewesen, bevor sie in der achten oder neunten abgegangen war. Bis dahin war sie immer nur so grade mitgekommen, hatte immer nur Vieren und Fünfen gehabt, außer in Kunst und Sport. Da war sie super gewesen, eines der wenigen Mädels, mit denen beim Völkerball zu rechnen war. Sie hatte eine ganz eigene Technik, ging kurz vor dem Wurf in die Knie, sodass sie einem im letzten Moment auf die Beine zielte. Man musste schon geschickt sein, um diesen Würfen auszuweichen. Ich hatte sie damals immer hübsch gefunden und in den Klamotten jetzt sah sie wirklich ziemlich heiß aus. Sie machte mich sofort an. Erst wollte ich Blumenfeld erzählen, dass ich sie kannte, doch dann biss ich mir auf die Lippen.
“Für die würd ich was hinblättern”, sagte er und in diesem Moment hasste ich ihn wieder. Ich stellte mir vor, wie er sie mit seinem Krateratem fickte und es ekelte mich an. Wie sie wohl hier gelandet war? Ich wusste nichts über sie oder ihre Familienverhältnisse, stellte ich fest. Kurz bevor sich der VW an ihr vorbeigeschoben hatte, kreuzten sich unsere Blicke. Ich wusste es nicht genau, aber ich glaube, sie erkannte mich nicht.
Den ganzen Rückweg dachte ich über sie nach. Als wir am Mäkkes vorbei und auf die Eisenbahnbrücke bei der Tanke zufuhren, sagte Blumenfeld, “Nächste Woche kannst du Prüfung machen!”
Am frühen Abend zog ich mir meinen Trainingsanzug und die Laufschuhe an und ging joggen. Beim Wendehammer lief ich rechts auf den Weg bei den Belgierhäusern und dann über den Militärring drüber und rein in den Stadtwald. Am ersten Parkplatz stand nur ein Wohnwagen. Das Leuchtschild im Fenster war an. Ich lief an der Nutte vorbei und sie verzog keine Miene, während sie mich taxierte. Beim nächsten Parkplatz war mehr los und eine lächelte mir zu. Ich stellte mir vor, einfach Halt zu machen und mit ihr in den Wagen zu gehen, und diese Vorstellungen löste sofort etwas in mir aus. Nach dem Parkplatz kamen lange nur Wege und Wald und Wiesen. Mein Atem ging jetzt schneller und ich spürte, wie das T-Shirt unter den Nylonjacke langsam feucht wurde. Mit jedem Schritt fühlte ich mich kräftiger und fitter und lebendiger. Ich achtete stärker auf meine Lauftechnik und federte bewusster ab, machte größere Schritte, versuchte ganz zur Bewegung zu werden und die einsetzende Erschöpfung zu ignorieren. Bei der kleinen Straße lief ich langsamer. Ich sah zu der Stelle rüber, wo sie vorhin gestanden hatte, aber sie war nicht mehr da. Es stand nur eine einzige Nutte rum und die hatte dicke Beine. Auch wenn sie dagewesen wäre, wäre ich einfach weitergelaufen, aber trotzdem war ich enttäuscht.
Zu Hause dachte ich an sie und holte mir einen runter. Meinen Freunden erzählte ich nicht, dass ich sie gesehen hatte. Normalerweise hätte ich das direkt getan; es ging mir nicht darum, sie vor ihren Wertungen zu schützen oder so was. Es ging mir um mich: Ich wollte sie für mich behalten, denn ich wollte zu ihr gehen. Schon bei Blumenfeld im Auto hatte ich diese Idee gehabt. Natürlich, zwischenzeitlich hatte ich sie aus allerlei Gründen wieder verworfen, aber tief in mir drin hatte ich sofort gewusst, dass ich es tun würde. Es war einfach zu perfekt! Ich hatte einen Riss im System gefunden, einen Weg, der aus der Welt hinaus in einen Zwischenraum führte, in dem ich ganz allein und vollkommen frei war.
Die Prüfung verlief problemlos. Blumenfeld kannte den Prüfer und quatschte mit ihm die ganze Zeit über dessen Urlaub. Der Prüfer interessierte sich überhaupt nicht für mich und überließ es sogar Blumenfeld, die Ansagen zu machen. Und Blumenfeld, der kleine Wichser, ließ mich wieder zum Militärring fahren. Als die erste Nutte auftauchte, sagte er zum Prüfer, “Hier kennt er sich aus, weißte!”, und der Prüfer lachte.
Ich war froh, als wir an der kleinen Straße vorbeifuhren, ohne abzubiegen. Am Ende erhielt ich einen vorläufigen Schein aus Papier und gab Blumenfeld die Hand.
“Also, vielen Dank!”
Er schlug ein und atmete mich ein letztes Mal an.
Am Wochenende waren meine Eltern weg, auf einem Wochenendtrip nach Holland. Sie nahmen den Renault und ließen mir den Fiat da. Noch am Freitagabend fuhr ich zu ihr. Als ich in die Straße einbog, schlug mein Herz wie verrückt und ich hatte auch schon einen Ständer. Ich stoppte und schaltete den Motor ab, atmete ein paar Minuten durch und zählte noch einmal die Scheine durch. Hundertfünfzig. Als ich sah, dass hinter mir jemand in die Straße hineinfuhr, drehte ich sofort den Schlüssel um und fuhr ihm voraus. Ich hatte Natalie schon entdeckt und wollte nicht, dass er sie sich schnappte. Nach ein paar Metern war mein Herzschlag wieder auf Hochtouren. Ich nahm es jetzt einfach hin. Da der Fiat keine elektrischen Fensterheber hatte, musste sie die Tür öffnen. Sie lehnte sich zu mir hinein und ich glaube, sie erkannte mich sofort, sagte aber nichts. Ich wusste nicht, was man in so einer Situation zu sagen hatte.
“Hi!”, sagte ich. “Hast du Zeit?”
“Klar, wie lange?”
Ich überlegte.
“Eine bis anderthalb Stunden. Was würde das kosten?”
“Kommt drauf an, was du haben willst.”
“Normal.”
“Normal heißt?”
Die Rückfrage war mir peinlich.
“Naja”, sagte ich. “Normalen Sex halt.”
“Blasen mit Gummi, GV, ein Stellungswechsel, 20 Minuten sind fünfzig Mark.”
Ich musste rechnen.
“Eine Stunde in dem Fall.”
“Geld vorab.”
Sie nahm die Scheine entgegen und stieg ein.
“Da vorne rechts kannst du halten.”
“Ich wollte eigentlich zu uns fahren. Also zu mir. Geht das auch? Ist nur zehn Minuten von hier.”
“Klar, aber der Weg geht von der Zeit ab.”
“Klar!”
Auf dem Weg wollte ich mehrmals ansetzen, etwas zu sagen, aber ich ließ es bleiben.
“Ich wohne noch bei meinen Eltern”, sagte ich, als wir in unsere Straße einbogen.
“Macht ja nichts!”
“Nur, dass du dich nicht wunderst. Die sind natürlich nicht da.”
“Das hab ich mir gedacht.”
Ich wollte ihr die Tür aufmachen, aber sie war schon ausgestiegen. Im Haus führte ich sie in mein Zimmer. Ich hatte aufgeräumt und ein paar Kerzen aufgestellt, was mir jetzt völlig bescheuert vorkam. Statt sie anzuzünden, machte ich die Schreibtischlampe an. Ihr Licht war kalt und ich überlegte, schnell eine bessere Lampe zu suchen. Aber das schien mir auch irgendwie blöd rüberzukommen. Naja, dachte ich mir, sie braucht auch bestimmt keine Romantik, wenn sie es sonst in Autos auf dem Parkplatz mit irgendwelchen Pennern treibt. Plötzlich tat sie mir Leid. Natürlich hatte sie mir die ganze Zeit über Leid getan, immer mal wieder, aber der Reiz meiner Fantasie war jedes Mal wieder stärker geworden. Jetzt irgendwie nicht mehr. Sie sah sich in dem Raum um und ihr Blick blieb bei meinen Schulsachen hängen, die ich sauber übereinander gestapelt hatte.
“Du heißt Natalie, oder?”
Ich hörte mir selbst zu, wie ich das sagte.
“Ja. Und du heißt Henry, oder?”
“Ja.”
“Ich hab dich direkt erkannt.”
“Ich dich auch.”
Wir sahen uns an und es war ziemlich komisch.
“Sollen wir trotzdem?”, sagte ich.
“Wie du willst.”
“Macht es dir was aus?”
“Nein, glaub nicht.”
“Ich erzähle es auch niemandem.”
“Ok.”
Sie machte einen Schritt auf mich zu und begann, mich anzufassen. Ich war unsicher, was ich zu tun hatte.
“Wenn ich was bestimmtes ... ”
Sie ging gar nicht darauf ein. Es war, als hätte sie etwas in sich angeknipst. Oder besser: ausgeknipst.
Es war schnell vorbei. Ich streichelte sie, ohne dass das bei ihr irgendeine Regung auslöste.
“Ich muss jetzt los”, sagte sie nach einiger Zeit.
Wir zogen uns an und ich fuhr sie zurück. Ich kam mir fremd vor und wollte plötzlich etwas für sie tun.
“Wenn ich dir irgendwie helfen kann”, sagte ich, als wir ihren Platz erreicht hatten.
Sie lachte kurz auf.
“Danke, aber alles gut.”
Dann schlug sie die Tür zu.
Ich fuhr den Militärring runter bis zum Rhein, bog links ab und fuhr dann die Rheinuferstraße hoch bis zum Colonia-Hochhaus, fuhr über die Mülheimer Brücke und am Wiener Platz vorbei weiter nach Norden, durch Flittard und wie die ganzen Viertel da oben heißen, fuhr am grellen Bayer-Werk vorbei, fuhr immer weiter auf dieser einen Straße, bis ich Leverkusen hinter mir gelassen hatte. Irgendwo im Nichts fuhr ich auf die A3 und zurück nach Süden, bis zum Dreieck Heumar und dann auf die A4, doch in Köln-Süd fuhr ich nicht ab, sondern auf die 555, die damals zwischen Godorf und Wesseling noch beleuchtet war. Im Radio lief eine Live-Übertragung von der Mayday in Dortmund, gerade legte Dr. Motte auf und es hätte nicht besser passen können. Ich gab Gas und kitzelte alles aus dem Fiat heraus, bis die Laternenreihe auf dem Mittelstreifen auslief und die Äcker von Bornheim die Fahrbahn in tiefstes Schwarz tauchten. Ich lenkte den Wagen auf den Verzögerungsstreifen und bremste erst an seinem Ende hart ab. Blumenfeld wäre ausgerastet. Auf einer Landstraße steuerte ich auf die Raffinerieanlagen zu. Die Shell sah in der Nacht aus wie eine Raumstation, ein einziges Metallgeflecht aus Rohren und Silos, alles taghell erleuchtet von kalten Neonröhren. Kein Auto war auf den Straßen und ich fuhr erst mit achtzig durch die Kurven, dann mit hundert. Als die Anlagen hinter mir lagen, fand ich kein Ziel mehr. Ich machte mich auf den Heimweg und realisierte erst kurz vor dem Militärring, dass er mich wieder an den Nutten vorbeiführen würde. Mein Herz begann schneller zu schlagen, schneller als die 160 BpM im Radio.