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Motte

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20.10.2024
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Anmerkungen zum Text

Loosely inspired by L. Sauer "Das ausgeliehene Sakko" & Jimmy "Grüne Welle"

Motte

Ich hasste die Fahrschule. Es war nicht das Autofahren. Das machte mir Spaß und dafür hatte ich ein Händchen. Mein Vater hatte mich schon früh im Urlaub auf dem Feldweg fahren lassen und seit einem Jahr übte ich auf der Straße vor unserem Haus Anfahren und Einparken. Wir wohnten in einer Sackgasse am Stadtrand, in der Nähe vom Stadtwald, wo das niemanden juckte. Abwürgen, Stottern, die Lücke nicht treffen, so was gab es bei mir schon lange nicht mehr. Nein, es war der Typ, bei dem ich die Fahrstunden nahm, der Besitzer der Fahrschule. Achim Blumenfeld! Ex-Bundeswehr, mit Aknenarben, die sich wie ein Granatenkrater in sein graues Gesicht gegraben hatten. Ich fand das witzig – er hieß Blumenfeld, hatte aber einen Acker in der Fresse. Wenn ich nachmittags in die Fahrschule kam, war meistens nur die Sekretärin da. Es roch nach abgestandener Luft und kaltem Rauch und ich musste warten, bis Blumenfeld eintrudelte. So auch an diesem Tag. Die Sekretärin schenkte mir keine Beachtung und ich schaute mir die dämlichen Erklärtafeln an, weil es keine Zeitschriften gab. Zehn Minuten später bimmelten endlich die Glöckchen über der Tür. Blumenfeld grunzte einen knappen Gruß und zog ein Big-Pack aus der Brusttasche. Ich weiß nicht mehr, was er rauchte, irgendwas mit weißer Schachtel, Krone oder HB, vielleicht auch Lord. Irgendsoeine Altemännermarke, die von uns keiner rauchte. Er steckte sich eine an, inhalierte tief und beim Ausatmen drückte er mir die Schlüssel für den Golf in die Hand.
“Stell schon mal die Spiegel ein!”
Dann ging er zur Filterkaffeemaschine und goss sich eine halbe Tasse ein. Die Sekretärin beachtete auch ihn nicht; es kann sein, dass sie seine Frau war. Ich lief durch die Einfahrt in den Hinterhof, wo der Wagen stand.
Ein paar Minuten später setzte sich Blumenfeld zu mir ins Auto.
“Ausparken, raustasten, dann links die Bonner runter.”
Ich schaute nicht zu ihm rüber, um seinen Atem nicht abzubekommen. Der Gestank seiner Klamotten war schlimm genug. Er machte das immer so, erklärte nicht, was er vorhatte oder wo wir hinfuhren, sondern gab nur Ad-hoc-Anweisungen im letzten Moment. Das sorgte bei mir für Dauerstress, was wohl genau sein Ziel war. Er schien das Ganze als militärische Ausbildung zu betrachten, als harte Schule, durch die man zu gehen hatte, um sich seinen Lappen zu verdienen. Dabei arbeitete er auch mit Demütigung. Als ich mal fragte, ob man nicht schon die Prüfung anpeilen könnte, es liefe doch gut, schwieg er nur. Kurz darauf ließ er mich durch den einzigen Kreisverkehr der Stadt fahren, in dem rechts vor links galt.
“Jetzt wärst du nämlich durchgefallen!”
Er sagte das so, mit diesem “nämlich”, als hätte er zuvor schon etwas zu meiner Frage gesagt und würde nun noch den abschließenden Beweis liefern. Was für ein Arschloch!
An der großen Kreuzung beim Großmarkt befahl er, “Rechts halten und auf die Brühler.”
Ich war froh, dass ich mich in der Gegend auskannte, und meisterte die Situation, ohne dass er was zu meckern hatte. Wir fuhren durch Raderberg, dieses potthässliche Viertel, dem niemand in der Stadt die geringste Beachtung schenkte. Beim Heeresamt dachte ich an meine Musterung, die damals ja noch nicht lange her war, wie ich mich vorbeugen und husten musste, und wie sie dort mit einfachsten Symbolen gearbeitet hatten, um einen in die richtigen Zimmer zu lotsen. Ich hatte mir einen Leuchtturm merken müssen und war dann zum Leuchtturmarzt gekommen; es war ein System für Vollidioten. Und jetzt gab mir doch noch so ein Heini Befehle.
Aber an der Ampel beim Militärring passierte etwas Seltsames. Blumenfeld bekam plötzlich gute Laune.
“Jetzt fahren wir ne Runde Nutten gucken!”, sagte er.
Keine Ahnung, wo das herkam. Vielleicht hatte er vorhin beim Großmarkt begriffen, dass ich so weit war, und jetzt war ich geadelt. Es war mir auch egal; erstens war ich nur daran interessiert, dass er diesen neuen Ton beibehielt, zweitens wollte auch ich gerne die Nutten sehen. Damals standen sie noch nicht alle hinten am Eifeltor, sondern sie verteilten sich lose auf die Parkplätze vom südlichen Stadtwald und auf die Ausfallstraßen in dieser Gegend. Jetzt am Nachmittag herrschte nicht gerade Hochbetrieb, aber hier und da stand eine rum.
“Bisschen langsamer”, sagte Blumenfeld dann und ich nahm den Fuß vom Gas. Wenn wir vorbeirollten, sah er aus dem Beifahrerfenster und gab Urteile ab.
“Die ist ein Schuss!”, oder, “Die ist nur was für die Polen!”
Manche winkten ihm zu und er winkte zurück.
“Geht nicht, Schätzchen, bin im Dienst!”
Während er sichtlich Spaß an der Nummer hatte, die er wahrscheinlich mehrmals die Woche abzog, war ich von den Nutten elektrisiert. Als Blumenfeld sagte, “Eine Straße nehmen wir noch mit, dann müssen wir mal langsam zurück”, war ich enttäuscht. Ich wollte weitermachen und weiterträumen.
Wir fuhren durch ein zwischen zwei großen Wiesen gelegenes Sträßchen. Blumenfeld brauchte jetzt nichts mehr zu sagen, ich verlangsamte selbst früh genug. Wir rollten auf sie zu. Es waren drei. Sie standen mit ein paar Metern Abstand voneinander vor niedrigen Begrenzungspflöcken aus Holz. Blumenfeld entdeckte sie vor mir. “Mann, ist die jung!”, sagte er.
Tatsächlich, eine war in meinem Alter. Ich konnte nicht lang hinsehen, schließlich war ich am Fahren und noch nicht so routiniert, dass ich es wagte, gar nicht mehr auf die Straße zu achten. Beim zweiten Blick merkte ich es dann – ich kannte sie. Sie hieß Natalie und war mal in meiner Klasse gewesen, bevor sie in der achten oder neunten abgegangen war. Bis dahin war sie immer nur so grade mitgekommen, hatte immer nur Vieren und Fünfen gehabt, außer in Kunst und Sport. Da war sie super gewesen, eines der wenigen Mädels, mit denen beim Völkerball zu rechnen war. Sie hatte eine ganz eigene Technik, ging kurz vor dem Wurf in die Knie, sodass sie einem im letzten Moment auf die Beine zielte. Man musste schon geschickt sein, um diesen Würfen auszuweichen. Ich hatte sie damals immer hübsch gefunden und in den Klamotten jetzt sah sie wirklich ziemlich heiß aus. Sie machte mich sofort an. Erst wollte ich Blumenfeld erzählen, dass ich sie kannte, doch dann biss ich mir auf die Lippen.
“Für die würd ich was hinblättern”, sagte er und in diesem Moment hasste ich ihn wieder. Ich stellte mir vor, wie er sie mit seinem Krateratem fickte und es ekelte mich an. Wie sie wohl hier gelandet war? Ich wusste nichts über sie oder ihre Familienverhältnisse, stellte ich fest. Kurz bevor sich der VW an ihr vorbeigeschoben hatte, kreuzten sich unsere Blicke. Ich wusste es nicht genau, aber ich glaube, sie erkannte mich nicht.
Den ganzen Rückweg dachte ich über sie nach. Als wir am Mäkkes vorbei und auf die Eisenbahnbrücke bei der Tanke zufuhren, sagte Blumenfeld, “Nächste Woche kannst du Prüfung machen!”

Am frühen Abend zog ich mir meinen Trainingsanzug und die Laufschuhe an und ging joggen. Beim Wendehammer lief ich rechts auf den Weg bei den Belgierhäusern und dann über den Militärring drüber und rein in den Stadtwald. Am ersten Parkplatz stand nur ein Wohnwagen. Das Leuchtschild im Fenster war an. Ich lief an der Nutte vorbei und sie verzog keine Miene, während sie mich taxierte. Beim nächsten Parkplatz war mehr los und eine lächelte mir zu. Ich stellte mir vor, einfach Halt zu machen und mit ihr in den Wagen zu gehen, und diese Vorstellungen löste sofort etwas in mir aus. Nach dem Parkplatz kamen lange nur Wege und Wald und Wiesen. Mein Atem ging jetzt schneller und ich spürte, wie das T-Shirt unter den Nylonjacke langsam feucht wurde. Mit jedem Schritt fühlte ich mich kräftiger und fitter und lebendiger. Ich achtete stärker auf meine Lauftechnik und federte bewusster ab, machte größere Schritte, versuchte ganz zur Bewegung zu werden und die einsetzende Erschöpfung zu ignorieren. Bei der kleinen Straße lief ich langsamer. Ich sah zu der Stelle rüber, wo sie vorhin gestanden hatte, aber sie war nicht mehr da. Es stand nur eine einzige Nutte rum und die hatte dicke Beine. Auch wenn sie dagewesen wäre, wäre ich einfach weitergelaufen, aber trotzdem war ich enttäuscht.
Zu Hause dachte ich an sie und holte mir einen runter. Meinen Freunden erzählte ich nicht, dass ich sie gesehen hatte. Normalerweise hätte ich das direkt getan; es ging mir nicht darum, sie vor ihren Wertungen zu schützen oder so was. Es ging mir um mich: Ich wollte sie für mich behalten, denn ich wollte zu ihr gehen. Schon bei Blumenfeld im Auto hatte ich diese Idee gehabt. Natürlich, zwischenzeitlich hatte ich sie aus allerlei Gründen wieder verworfen, aber tief in mir drin hatte ich sofort gewusst, dass ich es tun würde. Es war einfach zu perfekt! Ich hatte einen Riss im System gefunden, einen Weg, der aus der Welt hinaus in einen Zwischenraum führte, in dem ich ganz allein und vollkommen frei war.

Die Prüfung verlief problemlos. Blumenfeld kannte den Prüfer und quatschte mit ihm die ganze Zeit über dessen Urlaub. Der Prüfer interessierte sich überhaupt nicht für mich und überließ es sogar Blumenfeld, die Ansagen zu machen. Und Blumenfeld, der kleine Wichser, ließ mich wieder zum Militärring fahren. Als die erste Nutte auftauchte, sagte er zum Prüfer, “Hier kennt er sich aus, weißte!”, und der Prüfer lachte.
Ich war froh, als wir an der kleinen Straße vorbeifuhren, ohne abzubiegen. Am Ende erhielt ich einen vorläufigen Schein aus Papier und gab Blumenfeld die Hand.
“Also, vielen Dank!”
Er schlug ein und atmete mich ein letztes Mal an.

Am Wochenende waren meine Eltern weg, auf einem Wochenendtrip nach Holland. Sie nahmen den Renault und ließen mir den Fiat da. Noch am Freitagabend fuhr ich zu ihr. Als ich in die Straße einbog, schlug mein Herz wie verrückt und ich hatte auch schon einen Ständer. Ich stoppte und schaltete den Motor ab, atmete ein paar Minuten durch und zählte noch einmal die Scheine durch. Hundertfünfzig. Als ich sah, dass hinter mir jemand in die Straße hineinfuhr, drehte ich sofort den Schlüssel um und fuhr ihm voraus. Ich hatte Natalie schon entdeckt und wollte nicht, dass er sie sich schnappte. Nach ein paar Metern war mein Herzschlag wieder auf Hochtouren. Ich nahm es jetzt einfach hin. Da der Fiat keine elektrischen Fensterheber hatte, musste sie die Tür öffnen. Sie lehnte sich zu mir hinein und ich glaube, sie erkannte mich sofort, sagte aber nichts. Ich wusste nicht, was man in so einer Situation zu sagen hatte.
“Hi!”, sagte ich. “Hast du Zeit?”
“Klar, wie lange?”
Ich überlegte.
“Eine bis anderthalb Stunden. Was würde das kosten?”
“Kommt drauf an, was du haben willst.”
“Normal.”
“Normal heißt?”
Die Rückfrage war mir peinlich.
“Naja”, sagte ich. “Normalen Sex halt.”
“Blasen mit Gummi, GV, ein Stellungswechsel, 20 Minuten sind fünfzig Mark.”
Ich musste rechnen.
“Eine Stunde in dem Fall.”
“Geld vorab.”
Sie nahm die Scheine entgegen und stieg ein.
“Da vorne rechts kannst du halten.”
“Ich wollte eigentlich zu uns fahren. Also zu mir. Geht das auch? Ist nur zehn Minuten von hier.”
“Klar, aber der Weg geht von der Zeit ab.”
“Klar!”

Auf dem Weg wollte ich mehrmals ansetzen, etwas zu sagen, aber ich ließ es bleiben.
“Ich wohne noch bei meinen Eltern”, sagte ich, als wir in unsere Straße einbogen.
“Macht ja nichts!”
“Nur, dass du dich nicht wunderst. Die sind natürlich nicht da.”
“Das hab ich mir gedacht.”
Ich wollte ihr die Tür aufmachen, aber sie war schon ausgestiegen. Im Haus führte ich sie in mein Zimmer. Ich hatte aufgeräumt und ein paar Kerzen aufgestellt, was mir jetzt völlig bescheuert vorkam. Statt sie anzuzünden, machte ich die Schreibtischlampe an. Ihr Licht war kalt und ich überlegte, schnell eine bessere Lampe zu suchen. Aber das schien mir auch irgendwie blöd rüberzukommen. Naja, dachte ich mir, sie braucht auch bestimmt keine Romantik, wenn sie es sonst in Autos auf dem Parkplatz mit irgendwelchen Pennern treibt. Plötzlich tat sie mir Leid. Natürlich hatte sie mir die ganze Zeit über Leid getan, immer mal wieder, aber der Reiz meiner Fantasie war jedes Mal wieder stärker geworden. Jetzt irgendwie nicht mehr. Sie sah sich in dem Raum um und ihr Blick blieb bei meinen Schulsachen hängen, die ich sauber übereinander gestapelt hatte.
“Du heißt Natalie, oder?”
Ich hörte mir selbst zu, wie ich das sagte.
“Ja. Und du heißt Henry, oder?”
“Ja.”
“Ich hab dich direkt erkannt.”
“Ich dich auch.”
Wir sahen uns an und es war ziemlich komisch.
“Sollen wir trotzdem?”, sagte ich.
“Wie du willst.”
“Macht es dir was aus?”
“Nein, glaub nicht.”
“Ich erzähle es auch niemandem.”
“Ok.”
Sie machte einen Schritt auf mich zu und begann, mich anzufassen. Ich war unsicher, was ich zu tun hatte.
“Wenn ich was bestimmtes ... ”
Sie ging gar nicht darauf ein. Es war, als hätte sie etwas in sich angeknipst. Oder besser: ausgeknipst.

Es war schnell vorbei. Ich streichelte sie, ohne dass das bei ihr irgendeine Regung auslöste.
“Ich muss jetzt los”, sagte sie nach einiger Zeit.
Wir zogen uns an und ich fuhr sie zurück. Ich kam mir fremd vor und wollte plötzlich etwas für sie tun.
“Wenn ich dir irgendwie helfen kann”, sagte ich, als wir ihren Platz erreicht hatten.
Sie lachte kurz auf.
“Danke, aber alles gut.”
Dann schlug sie die Tür zu.

Ich fuhr den Militärring runter bis zum Rhein, bog links ab und fuhr dann die Rheinuferstraße hoch bis zum Colonia-Hochhaus, fuhr über die Mülheimer Brücke und am Wiener Platz vorbei weiter nach Norden, durch Flittard und wie die ganzen Viertel da oben heißen, fuhr am grellen Bayer-Werk vorbei, fuhr immer weiter auf dieser einen Straße, bis ich Leverkusen hinter mir gelassen hatte. Irgendwo im Nichts fuhr ich auf die A3 und zurück nach Süden, bis zum Dreieck Heumar und dann auf die A4, doch in Köln-Süd fuhr ich nicht ab, sondern auf die 555, die damals zwischen Godorf und Wesseling noch beleuchtet war. Im Radio lief eine Live-Übertragung von der Mayday in Dortmund, gerade legte Dr. Motte auf und es hätte nicht besser passen können. Ich gab Gas und kitzelte alles aus dem Fiat heraus, bis die Laternenreihe auf dem Mittelstreifen auslief und die Äcker von Bornheim die Fahrbahn in tiefstes Schwarz tauchten. Ich lenkte den Wagen auf den Verzögerungsstreifen und bremste erst an seinem Ende hart ab. Blumenfeld wäre ausgerastet. Auf einer Landstraße steuerte ich auf die Raffinerieanlagen zu. Die Shell sah in der Nacht aus wie eine Raumstation, ein einziges Metallgeflecht aus Rohren und Silos, alles taghell erleuchtet von kalten Neonröhren. Kein Auto war auf den Straßen und ich fuhr erst mit achtzig durch die Kurven, dann mit hundert. Als die Anlagen hinter mir lagen, fand ich kein Ziel mehr. Ich machte mich auf den Heimweg und realisierte erst kurz vor dem Militärring, dass er mich wieder an den Nutten vorbeiführen würde. Mein Herz begann schneller zu schlagen, schneller als die 160 BpM im Radio.

 
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Hallo @H. Kopper!

Dass das gut geschrieben ist, steht außer Frage. Hatte ich bei dir auch nicht anders erwarten, das liest sich richtig schön flüssig weg. Aber: Das ist auch noch verdammt gut! Hat mich ziemlich fix gepackt und ohne jede Länge bis zum Ende mitgenommen. Hut ab – das ist ein starker Text!

Achim Blumenfeld! Ein widerlicher Kerl, Ex-Bundeswehr, mit Aknenarben, die sich wie Granatenkrater ein sein graues Gesicht gegraben hatten.

Es stank nach abgestandener Luft und kaltem Rauch und ich musste warten, bis Blumenfeld eintrudelte.
Könnte konkreter sein.

Die Sekretärin schenkte mir keine Beachtung und ich schaute mir die dämlichen Erklärtafeln an, weil es keine Zeitschriften gab, mit denen man sich die Zeit vertreiben konnte.

Zehn Minuten nach Treffpunkt bimmelten endlich die Glöckchen über der Tür.
Ist für mich ein Ort, keine Zeit.

Er steckte sie an, inhalierte tief und beim Ausatmen drückte er mir die Schlüssel für den Golf in die Hand.
sich eine an – ansonsten könnten Klugscheißer behaupten, er zündet die Schachtel an :D

Die Sekretärin beachtete ihn gar nicht; es kann sein, dass sie seine Frau war. Ich lief durch die Einfahrt in den Hinterhof, wo der Wagen stand.
Vielleicht: auch ihn nicht
Und bei ienem Golf würde ich bei Auto bleiben.
Ein paar Minuten später setzte sich Blumenfeld zu mir ins Auto.
Verstehe :lol:

Der Gestank seiner Klamotten war schlimm genug. Er machte das immer so, erklärte nicht, was er vorhatte oder wo wir hinfuhren, sondern gab nur situative Anweisungen.
etwas drüber

Das sorgte bei mir für Dauerstress, was wohl genau sein Ziel war.
Vielleicht: Absicht

Er schien den ganzen Quatsch als militärische Ausbildung zu betrachten, als harte Schule, durch die man zu gehen hatte, um sich seinen Lappen zu verdienen.
Vielleicht: das alles – die Ausbildung an sich is ja kein Quatsch, wird wohl auch der Fahrschüler nicht so sehen

Wir fuhren durch Raderberg, dieses potthässliche Viertel, dem selbst Urkölner nicht die geringste Beachtung schenkten.
Nicht unbedingt der Gedanke eines 18jährigen

Beim Heeresamt dachte ich an meine Musterung, die damals ja noch nicht lange her war, wie ich mich vorbeugen und husten musste, und wie sie dort mit einfachsten Symbolen gearbeitet hatten, um einen in die richtigen Zimmer zu lotsen.
Hier erst der Hinweis ob Männlein oder Weiblein – bisschen spät vielleicht

Ich hatte mir einen Leuchtturm merken müssen und war dann zum Leuchtturmarzt gekommen; es war ein System für Vollidioten, naja Militär halt.

Es war mir auch egal; erstens war ich nur daran interessiert, dass er diesen neuen Ton beibehielt, zweitens wollte ich auch gerne die Nutten sehen.
Könnte man zwecks Betonung umdrehen: auch ich

Wir fuhren durch ein zwischen zwei großen Wiesen gelegenes Sträßchen. In einiger Entfernung auf der Wiese gingen drei Leute mit ihren Hunde spazieren. Sie hielten wohl extra Abstand. Blumenfeld brauchte jetzt nichts mehr zu sagen, ich verlangsamte selbst früh genug. Wir rollten auf sie zu. Es waren drei. Sie standen mit ein paar Metern Abstand voneinander vor niedrigen Begrenzungspflöcken aus Holz.
Das ist verwirrend: Drei Spaziergänger und dann drei Nutten, wenn ichs richtig verstanden hab – etwas unglücklich, oder?

Der Schmerz in den Beinen war mittlerweile weg und mit jedem Schritt fühlte ich mich kräftiger und fitter und lebendiger.
Klar, wies gemeint ist – kommt dennoch komisch, da zuvor von keinem Schmerz die Rede ist

Auch wenn sie dagewesen wäre, wäre ich wohl einfach weitergelaufen, aber trotzdem war ich enttäuscht.
?

Es war einfach zu perfekt! Ich hatte einen Riss im System gefunden, einen Weg, der aus der Welt hinaus in einen Zwischenraum führte, in dem ich ganz allein und vollkommen frei war.
Das sticht mMn zu sehr aus dem Text.

Ich wollte ihr die Tür aufmachen, aber sie war schon selbst ausgestiegen.
selbst aussteigen würde sie auch, wenn er ihr die Tür aufmacht

“Sollen wir trotzdem?”, sagte ich.
fragte ich

Es war, als hätte sie etwas in sich angeknipst. Oder vielleicht besser: ausgeknipst.
Gefällt mir sehr! Würde es dennoch knapper halten.

“Ich muss jetzt zurück”, sagte sie nach einiger Zeit.
Wir zogen uns an und ich fuhr sie zurück.
Ich muss jetzt los

Ich fuhr den Militärring runter bis zum Rhein, bog links ab und fuhr dann die Rheinuferstraße hoch bis zum Colonia-Hochhaus, fuhr über die Mülheimer Brücke und am Wiener Platz vorbei weiter nach Norden, durch Flittard und wie die ganzen Viertel da oben heißen, fuhr am grellen Bayer-Werk vorbei, fuhr immer weiter auf dieser einen Straße, bis ich Leverkusen hinter mir gelassen hatte. Irgendwo im Nichts fuhr ich auf die A3 und zurück nach Süden, bis zum Dreieck Heumar und dann auf die A4, doch in Köln-Süd fuhr ich nicht ab, sondern auf die 555, die damals zwischen Godorf und Wesseling noch beleuchtet war.
Da könnte man jetzt fragen: Brauchte es all die Straßenbezeichnungen? Würde ich normalerweise auch, aber hier finde ich es passend – zeigt seine Lostheit und zugleich die Freude, endlich fahren zu können, wohin er möchte.

Ich gab Gas und kitzelte die 180 aus dem Fiat heraus, bis die Laternenreihe auf dem Mittelstreifen auslief und die Äcker von Bornheim die Fahrbahn in tiefstes Schwarz tauchten.

Ich lenkte den Wagen auf den Verzögerungsstreifen und bremste erst am Ende hart ab.

Die Shell, wie wir sagten, sah in der Nacht aus wie eine Raumstation, ein einziges Metallgeflecht aus Rohren und Silos, alles taghell erleuchtet von kalten Neonröhren.

Gruß,
Sammis

 

Hallo, @H. Kopper,
das ist ein zweifellos kurzweilig lesbarer Text, ungeachtet der Tatsache, dass ich für mich nicht recht den roten Faden darin gefunden habe.
Es fängt an mit der Fahrschule und dem unsympathischen Fahrlehrer, tangiert dann die Nutten, greift von dort aus eine juvenile Besessenheit von Sex auf, was du nach Erlangung des Führerscheins (1. Reifeprüfung) mit dem "ersten Mal" (2. Reifeprüfung) nachlegst, und dann eine Emotion "rausfährst", die ich nicht ganz erfasst habe.
Möglicherweise bin ich aber auch nur ein mittelmäßiger Textexeget. Oder es hat etwas mit dem titelgebenden Dr. Motte und Raves und der Mayday zu tun, die mir etwa so fremd sind wie die Marsoberfläche.
Das heißt aber wie oben geschrieben nicht, dass der Text an sich mir nicht gefallen hat. Darum komme ich dir hier nun nicht mit inhaltlichen, sondern eher textlichen Anmerkungen, an denen ich mir beim Lesen die Hosenbeine aufgerissen habe.

Ich fand das witzig – er hieß Blumenfeld, hatte aber einen Acker in der Fresse.
Ich weiß, Henry ist 18 oder so, aber mich reißen diese Formulierungen immer irgendwie raus, weil sie zu salopp sind für einen Text. Aus meiner Sicht. Direkte Rede, ja, da herrscht Redefreiheit, aber im Text, da lass ich mich nicht so gerne anlabern. Vielleicht eher sowas wie "hieß Blumenfeld, hatte aber ein Gesicht wie ein Truppenübungsplatz". Würde dann auch seinen Militärhintergrund spiegeln.
und ich schaute mir die dämlichen Erklärtafeln an
Warum sind die dämlich? Das habe ich mich wirklich an dieser Stelle gefragt.
“Stell schon mal die Spiegel ein!”
Sehr schön, den Satz kenn ich auch noch.
Die Sekretärin beachtete ihn gar nicht; es kann sein, dass sie seine Frau war.
Das Semikolon triggert mich. Und auch der Zusammenhang "die Sekretärin beachtet ihn nicht, muss also seine Frau sein" spielt seinen humoristischen Aspekt nicht so wirklich aus.
Der Gestank seiner Klamotten war schlimm genug.
Wonach riecht er denn so? Kalte Kippen? Oder was für Aromen schwingen da noch so mit? Ich will mich gerne mitekeln.
Er machte das immer so, erklärte nicht, was er vorhatte oder wo wir hinfuhren, sondern gab nur situative Anweisungen. Das sorgte bei mir für Dauerstress, was wohl genau sein Ziel war.
@Sammis hat das "situative" bereits angemerkt, mich beunruhigt hier auch der "Dauerstress". Und die Mechanik dieses letzten Satzes ist auch nicht so überzeugend. Ich verstehe, was du ausdrückend willst, aber das geht sicherlich besser, ich finde das hier etwas ungelenk.
Und jetzt gab mir doch noch so ein Eumel Befehle.
Eumel, bitte nicht.
In einiger Entfernung auf der Wiese gingen drei Leute mit ihren Hunde spazieren. Sie hielten wohl extra Abstand. Blumenfeld brauchte jetzt nichts mehr zu sagen, ich verlangsamte selbst früh genug. Wir rollten auf sie zu. Es waren drei. Sie standen mit ein paar Metern Abstand voneinander vor niedrigen Begrenzungspflöcken aus Holz.
Hier habe ich die zweimal drei Leute verwechselt. Ich war erst irritiert, wie die drei Leute mit Hunden von der Wiese plötzlich an die Straße gelangt sind. Stolperstelle.
Als wir am Mäkkes vorbei und auf die Eisenbahnbrücke bei der Tanke zufuhren
Mäkkes, aber warum denn?!
Am frühen Abend zog ich mir meinen Trainingsanzug vom Fußballverein und die Laufschuhe an
Welcher Verein? Ich will wissen!
Ich stellte mir vor, einfach Halt zu machen und mit ihr in den Wagen zu gehen, und diese Vorstellungen löste sofort etwas in mir aus.
Ich brauche mehr Details. Was löst das aus? Ich habe eine Vermutung, aber sicher bin ich mir nicht. Speichelfluss, Haarausfall, Milzriss? Was ist es?
Zu Hause dachte ich an sie und holte mir einen runter. Meinen Freunden erzählte ich nicht, dass ich sie gesehen hatte. Normalerweise hätte ich das direkt getan; es ging mir nicht darum, sie vor ihren Wertungen zu schützen oder so was. Es ging mir um mich: Ich wollte sie für mich behalten, denn ich wollte zu ihr gehen. Schon bei Blumenfeld im Auto hatte ich diese Idee gehabt. Natürlich, zwischenzeitlich hatte ich sie aus allerlei Gründen wieder verworfen, aber tief in mir drin hatte ich sofort gewusst, dass ich es tun würde. Es war einfach zu perfekt! Ich hatte einen Riss im System gefunden, einen Weg, der aus der Welt hinaus in einen Zwischenraum führte, in dem ich ganz allein und vollkommen frei war.
Das ist für mich der Dreh- und Angelabsatz in der Story. Hier ist dieses verwirrende Wechselspiel von Begehren, Geheimnis, Mitleid, Eifersucht, Erwachsenwerden beschrieben, so viele verschiedene Motivationen und Fliehkräfte, und diese Motive hätte ich sehr gerne noch viel stärker an anderen Stellen in der Geschichte gelesen.
Und Blumenfeld, der kleine Wichser, ließ mich wieder zum Militärring fahren.
Der kleine Wichser soll sich verpissen! Und wer hat eigentlich einen Absatz weiter vorne gewichst? Blumenfeld? Nee, eben nicht.
Nach ein paar Metern war mein Herzschlag wieder auf Hochtouren. Ich nahm es jetzt einfach hin, scheinbar konnte man da nichts machen.
Der zweite Satz ist ganz doll unnötig. "Schade, da kann man nichts machen" ist sowieso ein Satz, der überall und unter allen Umständen verboten gehört.
Naja, dachte ich mir, sie braucht auch bestimmt keine Romantik, wenn sie es sonst in Autos auf dem Parkplatz mit irgendwelchen Widerlingen treibt. Plötzlich tat sie mir Leid. Natürlich hatte sie mir die ganze Zeit über Leid getan, immer mal wieder, aber der Reiz meiner Fantasie war jedes Mal wieder stärker geworden. Jetzt irgendwie nicht mehr.
Auch das ein wichtiger Absatz, aber der rumpelt für mich trotzdem irgendwie. Die Widerlinge sind auch wieder so ein kolloquiales Wort, das mir quer zum Lesefluss läuft. Und was genau ist "der Reiz der Fantasie"? Das ist mir zu unscharf.
Es war, als hätte sie etwas in sich angeknipst. Oder vielleicht besser: ausgeknipst.
Bester (Doppel-)Satz in der Geschichte ... ohne "vielleicht besser" vielleicht noch besser.
Ich kam mir fremd vor und wollte plötzlich etwas für sie tun.
"Ich kam mir fremd vor" ist auch schön, aber die zweite Hälfte braucht etwas mehr Elaboration. Was denn tun. Und selbst, wenn dabei herauskommt, dass er es nicht weiß, und seine Mitleidstour irgendwie auch pubertär ist, ist zumindest klar, dass er es wirklich nicht weiß, also nur "irgendwas" übrig bleibt.
Als die Anlagen hinter mir lagen, fand ich kein Ziel mehr.
Ziel für was? Teile der Strecke kenn ich sogar ganz gut, die bin ich früher auch öfters gefahren, aber ich habe bei all der Fahrerei nicht verstanden, was Henry sich da von der Seele fährt.
Mein Herz begann schneller zu schlagen, schneller als die 160 BpM im Radio.
Auch hier fehlt mir die Unterstützung des Texts, diese körperliche Reaktion zu verstehen. Der bezahlte Sex mit Natalie war scheint's nicht das Erweckungserlebnis, eher ernüchternd (und ich fand gut, dass der so eine Leerstelle im Text ist), aber trotzdem macht dat kölsche Hätz jetzt wieder bumm-bumm-bumm. Was ist der verruchte Reiz, den die Mädels vom Militärring auf Henry ausüben?
Das sind meine ersten Impressionen.
Ich finde insgesamt, dass die Geschichte stilsicher daherkommt, und auch etwas zu erzählen hat, das aber mehr rausgearbeitet werden sollte. An einigen Stelle zu sehr befasst mit irgendwelche Banalitäten (der Musterung - okay, da packt ihm auch einer an die Eier, aber das mit dem Leuchtturm ist doch tote Information, oder der Völkerballexkurs, auch wenn der nur zwei Zeilen ausmacht, wozu?), an anderen zu vage, wenn es um innere Konflikte oder komplexe Gemütslagen geht.
Auf jeden Fall: Danke fürs Reinstellen.
Gruß,
bvw

 

Hallo @H. Kopper ,
totale Begeisterung meinerseits. Gehört zu den stärksten Geschichten, die ich hier gelesen habe. Es ist besser, wenn Du da nichts mehr dran machst. Die Story könnte nur verlieren. Das mit der Fahrt auf der Autobahn und die Beschreibung der Umgebung gefällt mir. Hat was. Das bringt Lokalkolorit mit rein. Alles sehr realistisch beschrieben. Die Führerscheinprüfung hat mich sehr stark an meine erinnert. Auch die Beschreibung der Übungsstunden. Wir tourten im ersten Lehrjahr, da war ich sechzehn, immer mit dem Traktor und später im dritten Lehrjahr mit dem LKW durch Stralsund. Ich erinnere mich noch gut an eine abschüssige Straße vor der ein Stoppschild stand. "Geh auf die Klötzer", brüllte der Lehrer dort immer. Das war später auch meine Prüfungsstrecke, die ich auswendig können musste.
Gruß Frieda

 
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Aber: Das ist auch noch verdammt gut! Hat mich ziemlich fix gepackt und ohne jede Länge bis zum Ende mitgenommen. Hut ab – das ist ein starker Text!

totale Begeisterung meinerseits. Gehört zu den stärksten Geschichten, die ich hier gelesen habe.

Hallo @Sammis und @Frieda Kreuz,

ich antworte euch mal gemeinsam. Es freut mich sehr, dass euch der Text so gut gefällt! Euer Feedback geht natürlich runter wie Öl. Ich muss sagen, ich hatte selbst auch direkt ein gutes Gefühl bei dem Text, habe ihn, nachdem mir die Idee gekommen war, runtergeschrieben und rausgehauen. Mal sehen, wie ich in ein paar Wochen draufgucke, aber momentan ist er auch für mich auch schon sehr rund. Die Änderungen habe ich größtenteils übernommen.

Freundliche Grüße und einen schönen Sonntag!

HK

+++++

Hallo @brudervomweber,

auch dir vielen Dank für deinen Kommentar! Ich verzichte darauf, den Text zu erklären – das muss ich mir mal abgewöhnen. Mir wird durch die Arbeit hier mehr und mehr bewusst, dass die ganze nachträgliche Textarbeit am Ende wahrscheinlich doch nicht so entscheidend ist wie spontane Zugänge zu einem Text, die entweder da sind oder nicht. Mir konnte jedenfalls noch nie jemand seinen Text schönerklären, wenn ich ihn spontan nicht mochte, und andersherum stimmt das vermutlich auch.

Die Frage wäre also, zählt eher das:

das ist ein zweifellos kurzweilig lesbarer Text,

?

Oder das:

ungeachtet der Tatsache, dass ich für mich nicht recht den roten Faden darin gefunden habe.

?

Natürlich wirst du jetzt sagen: Beides wäre toll, aber mir schwant, dass – zumindest bei mir – die Suche nach einem roten Faden, eben die klassische Textarbeitsweise, dem Text auf der anderen Seite auch etwas abgräbt. Und vielleicht ist das Ergenis diesen Handel nicht wert. Weißt du, was ich meine?

Es fängt an mit der Fahrschule und dem unsympathischen Fahrlehrer, tangiert dann die Nutten, greift von dort aus eine juvenile Besessenheit von Sex auf, was du nach Erlangung des Führerscheins (1. Reifeprüfung) mit dem "ersten Mal" (2. Reifeprüfung) nachlegst, und dann eine Emotion "rausfährst", die ich nicht ganz erfasst habe.

Also ich habe hier natürlich schon einen roten Faden für mich gesehen, aber wie gesagt, den lasse ich hier mal raus.

Möglicherweise bin ich aber auch nur ein mittelmäßiger Textexeget. Oder es hat etwas mit dem titelgebenden Dr. Motte und Raves und der Mayday zu tun, die mir etwa so fremd sind wie die Marsoberfläche.

Hier liegst du falsch und richtig zugleich. Diese Elemente sind einerseits nicht zentral und "privat" geht es mir hier wie dir. Habe nichts damit zu tun. Andererseits sind sie doch zentral :-P

Das heißt aber wie oben geschrieben nicht, dass der Text an sich mir nicht gefallen hat. Darum komme ich dir hier nun nicht mit inhaltlichen, sondern eher textlichen Anmerkungen, an denen ich mir beim Lesen die Hosenbeine aufgerissen habe.

Dann schauen wir doch mal, ob wir Flickzeug finden!

Ich fand das witzig – er hieß Blumenfeld, hatte aber einen Acker in der Fresse.
Ich weiß, Henry ist 18 oder so, aber mich reißen diese Formulierungen immer irgendwie raus, weil sie zu salopp sind für einen Text. Aus meiner Sicht. Direkte Rede, ja, da herrscht Redefreiheit, aber im Text, da lass ich mich nicht so gerne anlabern. Vielleicht eher sowas wie "hieß Blumenfeld, hatte aber ein Gesicht wie ein Truppenübungsplatz". Würde dann auch seinen Militärhintergrund spiegeln.

Hier muss ich – derzeit – widersprechen. Ich will bewusst den Erzähler mehr in den Vordergrund holen. Ich denke, dass ich ihm damit mehr Charakter verleihen kann, ohne den Protagonisten, der in diesem Fall ja dieselbe Instanz ist, durch mehr Handlung oder Dialog zu jagen.

und ich schaute mir die dämlichen Erklärtafeln an
Warum sind die dämlich? Das habe ich mich wirklich an dieser Stelle gefragt.

Ich hab's zwar gestrichen, aber ich füge ich es wieder ein, nachdem ich meine letzten Sätze lese: Das ist einfach Charakterisierung auf Umwegen. Gerade weil die Tafeln nicht dämlich, sondern sinnvoll sind, werden sie für den Protagonisten "dämlich". Und er ist genervt, also ist alles dämlich, was ihm keine Ablenkung spendet. Abgesehen davon könnte er doch alles einfach "dämlich" nennen, wenn ihm danach wäre. Oder nicht?

“Stell schon mal die Spiegel ein!”
Sehr schön, den Satz kenn ich auch noch.

Kennt man einen Fahrlehrer, kennt man alle :-)

Die Sekretärin beachtete ihn gar nicht; es kann sein, dass sie seine Frau war.
Das Semikolon triggert mich. Und auch der Zusammenhang "die Sekretärin beachtet ihn nicht, muss also seine Frau sein" spielt seinen humoristischen Aspekt nicht so wirklich aus.

Also bei deinem Semikolontrauma kann ich dir nicht helfen, fürchte ich. Das andere ist einfach eine reale Möglichkeit, kein Witz. Der Erzähler meint, es könnte so gewesen sein – und das würde ja erklären, warum sie in ihm keinen Chef sieht.

Der Gestank seiner Klamotten war schlimm genug.
Wonach riecht er denn so? Kalte Kippen? Oder was für Aromen schwingen da noch so mit? Ich will mich gerne mitekeln.

Hier will ich spontan in eine Tirade gegen Gerüche in Literatur verfallen. Das ist in meinen Augen nämlich die Sensation, die am alleroffensichtlichsten meistens einfach nur Bullshit ist, der sich gut anhört.

Bei jedem verfluchten Geruch, der in meine Storys Eingang findet, muss ich mir irgendwas aus den Fingern saugen, weil Gerüche meinem Empfinden nach fast immer unspezifisch sind. Er riecht halt irgendwie gut oder schlecht oder seltsam. Punkt.

In Storys ist das immer eine ganz fein ziselierte Melange aus ganz spezifischen Dingen: "Es roch nach Pinienharz, Teer und einem Kaffeefilter, den man nach drei Tagen wieder aus der Mülltonne geholt hatte." So in etwa ;-)

Insofern: Für mein Erleben reicht das. Der Typ ist schon recht speziell als Ekel charakterisiert und wenn er jetzt seine Klamotten "stinken" kann ich mir da was drunter vorstellen. Da muss ich jetzt nicht wissen, in was für eine wilde Ehe hier Schweiß, Rauch und sonst was eintreten.

Aber mag man anders sehen! – Dann kann ich als olfaktorischer Analphabet einfach nicht liefern :lol:

Und jetzt gab mir doch noch so ein Eumel Befehle.
Eumel, bitte nicht.

Habe es zu "Heini" geändert, weil mir "Eumel" damals noch nicht gebräuchlich erscheint, wo das es anmerkst. Ansonsten finde ich das hier sehr passend: Denn wie kann man einen maskulinen Machtmenschen besser treffen als mit kindlicher Verniedlichung?

In einiger Entfernung auf der Wiese gingen drei Leute mit ihren Hunde spazieren. Sie hielten wohl extra Abstand. Blumenfeld brauchte jetzt nichts mehr zu sagen, ich verlangsamte selbst früh genug. Wir rollten auf sie zu. Es waren drei. Sie standen mit ein paar Metern Abstand voneinander vor niedrigen Begrenzungspflöcken aus Holz.
Hier habe ich die zweimal drei Leute verwechselt. Ich war erst irritiert, wie die drei Leute mit Hunden von der Wiese plötzlich an die Straße gelangt sind. Stolperstelle.

Gestrichen

Als wir am Mäkkes vorbei und auf die Eisenbahnbrücke bei der Tanke zufuhren
Mäkkes, aber warum denn?!

Wie, warum denn? Wo ist das Problem?

Am frühen Abend zog ich mir meinen Trainingsanzug vom Fußballverein und die Laufschuhe an
Welcher Verein? Ich will wissen!

Gestrichen – solche Neugier will ich hier nicht wecken

Ich stellte mir vor, einfach Halt zu machen und mit ihr in den Wagen zu gehen, und diese Vorstellungen löste sofort etwas in mir aus.
Ich brauche mehr Details. Was löst das aus? Ich habe eine Vermutung, aber sicher bin ich mir nicht. Speichelfluss, Haarausfall, Milzriss? Was ist es?

Ich denke, der Text löst diese Frage auf. Wenn du nicht so lange warten willst, gibt es noch eine im doppelten Wortsinne naheliegende Suggestion ;-)

Zu Hause dachte ich an sie und holte mir einen runter. Meinen Freunden erzählte ich nicht, dass ich sie gesehen hatte. Normalerweise hätte ich das direkt getan; es ging mir nicht darum, sie vor ihren Wertungen zu schützen oder so was. Es ging mir um mich: Ich wollte sie für mich behalten, denn ich wollte zu ihr gehen. Schon bei Blumenfeld im Auto hatte ich diese Idee gehabt. Natürlich, zwischenzeitlich hatte ich sie aus allerlei Gründen wieder verworfen, aber tief in mir drin hatte ich sofort gewusst, dass ich es tun würde. Es war einfach zu perfekt! Ich hatte einen Riss im System gefunden, einen Weg, der aus der Welt hinaus in einen Zwischenraum führte, in dem ich ganz allein und vollkommen frei war.
Das ist für mich der Dreh- und Angelabsatz in der Story. Hier ist dieses verwirrende Wechselspiel von Begehren, Geheimnis, Mitleid, Eifersucht, Erwachsenwerden beschrieben, so viele verschiedene Motivationen und Fliehkräfte, und diese Motive hätte ich sehr gerne noch viel stärker an anderen Stellen in der Geschichte gelesen.

An welchen Stellen denn?

Und Blumenfeld, der kleine Wichser, ließ mich wieder zum Militärring fahren.
Der kleine Wichser soll sich verpissen! Und wer hat eigentlich einen Absatz weiter vorne gewichst? Blumenfeld? Nee, eben nicht.

Vielleicht bist du hier etwas auf der Spur!
(Wieso gibt es nie das Emoticon, das man braucht? Denk dir bitte einen Smiley mit Lupe!)

Naja, dachte ich mir, sie braucht auch bestimmt keine Romantik, wenn sie es sonst in Autos auf dem Parkplatz mit irgendwelchen Widerlingen treibt. Plötzlich tat sie mir Leid. Natürlich hatte sie mir die ganze Zeit über Leid getan, immer mal wieder, aber der Reiz meiner Fantasie war jedes Mal wieder stärker geworden. Jetzt irgendwie nicht mehr.
Auch das ein wichtiger Absatz, aber der rumpelt für mich trotzdem irgendwie. Die Widerlinge sind auch wieder so ein kolloquiales Wort, das mir quer zum Lesefluss läuft. Und was genau ist "der Reiz der Fantasie"? Das ist mir zu unscharf.

Ja, "Penner" ist vermutlich eher im Lingo des Erzählers. Werde es ändern.

Es war, als hätte sie etwas in sich angeknipst. Oder vielleicht besser: ausgeknipst.
Bester (Doppel-)Satz in der Geschichte ... ohne "vielleicht besser" vielleicht noch besser.

Lustig, dass dieser Satz so gut ankommt. Ich hatte Angst, dass er zu durchschaubar ist.

Ich kam mir fremd vor und wollte plötzlich etwas für sie tun.
"Ich kam mir fremd vor" ist auch schön, aber die zweite Hälfte braucht etwas mehr Elaboration. Was denn tun. Und selbst, wenn dabei herauskommt, dass er es nicht weiß, und seine Mitleidstour irgendwie auch pubertär ist, ist zumindest klar, dass er es wirklich nicht weiß, also nur "irgendwas" übrig bleibt.

Hier kann ich dir leider nicht ganz folgen. Verstehe nicht, worauf du hinauswillst und was an dem Satz nicht passen soll.

Als die Anlagen hinter mir lagen, fand ich kein Ziel mehr.
Ziel für was? Teile der Strecke kenn ich sogar ganz gut, die bin ich früher auch öfters gefahren, aber ich habe bei all der Fahrerei nicht verstanden, was Henry sich da von der Seele fährt.

Da ich nichts erklären will, kann ich nur sagen: Bis dahin haben ihn bestimmte Dinge angezogen, von denen nun keine mehr da sind.

Mein Herz begann schneller zu schlagen, schneller als die 160 BpM im Radio.
Auch hier fehlt mir die Unterstützung des Texts, diese körperliche Reaktion zu verstehen. Der bezahlte Sex mit Natalie war scheint's nicht das Erweckungserlebnis, eher ernüchternd (und ich fand gut, dass der so eine Leerstelle im Text ist), aber trotzdem macht dat kölsche Hätz jetzt wieder bumm-bumm-bumm. Was ist der verruchte Reiz, den die Mädels vom Militärring auf Henry ausüben?

Up for debate

Ich finde insgesamt, dass die Geschichte stilsicher daherkommt, und auch etwas zu erzählen hat, das aber mehr rausgearbeitet werden sollte. An einigen Stelle zu sehr befasst mit irgendwelche Banalitäten (der Musterung - okay, da packt ihm auch einer an die Eier, aber das mit dem Leuchtturm ist doch tote Information, oder der Völkerballexkurs, auch wenn der nur zwei Zeilen ausmacht, wozu?), an anderen zu vage, wenn es um innere Konflikte oder komplexe Gemütslagen geht.

Spannend wäre für mich, wenn du mir noch sagen würdest, ob und wie die Geschichte nachgewirkt hat. Was genau sie erzählen will, ist in meinen Augen zweitrangig, solange sie irgendwie "gewirkt" und sich festgesetzt hat.

Auf jeden Fall: Danke fürs Reinstellen.

Gerne ;-)

Gruß,
bvw

Freundliche Grüße

HK

 

Hallo H. Kopper,

Mir wird durch die Arbeit hier mehr und mehr bewusst, dass die ganze Textarbeit am Ende wahrscheinlich doch nicht so entscheidend ist wie spontane Zugänge zu einem Text, die entweder da sind oder nicht.
Das will ich gar nicht verneinen. Ist bei mir genauso, ich werde mit einem Text warm oder nicht. Dafür muss der nicht besonders gut geschrieben sein, aber er muss irgendwie resonieren. Fehlt der Zugang, kann ich die Zelte abbrechen und weiterziehen.
Mir konnte jedenfalls noch nie jemand seinen Text schönerklären, wenn ich ihn spontan nicht mochte, und andersherum stimmt das vermutlich auch.
So true.
Die Frage wäre also, zählt eher das:
das ist ein zweifellos kurzweilig lesbarer Text,
? Oder das:
ungeachtet der Tatsache, dass ich für mich nicht recht den roten Faden darin gefunden habe.
?
Ja, beides. Und dein Feedback hat geholfen, den Text mit anderen Augen zu betrachten.
Beides wäre toll, aber mir schwant, dass – zumindest bei mir – die Suche nach einem roten Faden, eben die klassische Textarbeitsweise, dem Text auf der anderen Seite auch etwas abgräbt. Und vielleicht ist das Ergebnis diesen Handel nicht wert. Weißt du, was ich meine?
Textarbeit hat im schlimmsten Fall ja etwas von Autopsie, und das überlebt ein Text oft nicht. Es gibt ja Texte, die vermitteln eine Stimmung, ein Gefühl, da frage ich gar nicht nach dem roten Faden, wenn das Gefühl passt. Hier hatte ich aber den Eindruck, dass der Text mir etwas sagen "will", das aber bei mir nicht ankommt. Dann frag ich mich halt, ob ist es nicht verstehe, oder ob etwas fehlt.
Hier muss ich – derzeit – widersprechen. Ich will bewusst den Erzähler mehr in den Vordergrund holen. Ich denke, dass ich ihm damit mehr Charakter verleihen kann, ohne den Protagonisten, der in diesem Fall ja dieselbe Instanz ist, durch mehr Handlung oder Dialog zu jagen.
Verstanden. Hier hat mir nun geholfen, dass du (das entnehme ich deinem Feedback) deinen Protagonisten als einen etwas oberflächlichen jungen Mann anlegst, der eher unbewusst seinem Drang folgt, anders zu sein als die anderen, frei zu werden, und daran scheitert, weil er eigentlich so wird, wie die anderen auch. Ein spießiger Rebell, so gesehen. Mit der Prämisse liest sich das alles wieder anders. Ich kann damit leben, dass du dir da von mir nicht reinreden lässt.
Gerade weil die Tafeln nicht dämlich, sondern sinnvoll sind, werden sie für den Protagonisten "dämlich". Und er ist genervt, also ist alles dämlich, was ihm keine Ablenkung spendet.
Oberflächlich, siehe oben.
Abgesehen davon könnte er doch alles einfach "dämlich" nennen, wenn ihm danach wäre. Oder nicht?
Darf er natürlich. Ich bin aber so konditioniert, dass ich das Wort "dämlich" nicht benutzen kann, ohne zu erläutern, was dämlich ist. Daher meine Frage.
Hier will ich spontan in eine Tirade gegen Gerüche in Literatur verfallen. Das ist in meinen Augen nämlich die Sensation, die am alleroffensichtlichsten meistens einfach nur Bullshit ist, der sich gut anhört.
Man darf es nicht übertreiben, da bin ich bei dir. Bei mir gibt es die allgemeinen Gestankskategorien muffig, kalter Schweiß, kalte Kippen, kalter Kot und ungewaschenes Genital. Mit jeglicher Kombination dieser fünf Elemente kannst du mir einen menschlichen Missgeruch einprägsam beschreiben.
"Es roch nach Pinienharz, Teer und einem Kaffeefilter, den man nach drei Tagen wieder aus der Mülltonne geholt hatte."
Das ist doch aber eigentlich ein Whiskey, oder?
Habe es zu "Heini" geändert, weil mir "Eumel" damals noch nicht gebräuchlich erscheint, wo das es anmerkst.
Ja. Heini. Okay. Ich sag nichts mehr.
Wie, warum denn? Wo ist das Problem?
Mir zu kolloquial - aber wenn der Prot hier auch narrativ seinen Platz behaupten soll, nehme ich das wie den Heini jetzt hin.
An welchen Stellen denn?
Die Nutten scheinen ja eine ganz starke Faszination auszuüben, wenigstens in deren Kontext hätte ich eine stärkere Verdichtung dessen, was sich da geheimnisvoll und widersprüchlich im Hormonspiegel tut, für sinnvoll gehalten. Aber das spielt sich ja in Tiefen ab, in die Henry nicht hinuntersteigt. Von daher auch hier akzeptiert, dass es bei dieser Stelle bleibt.
Vielleicht bist du hier etwas auf der Spur!
(Wieso gibt es nie das Emoticon, das man braucht? Denk dir bitte einen Smiley mit Lupe!)
🧑‍🍳
Hier kann ich dir leider nicht ganz folgen. Verstehe nicht, worauf du hinauswillst und was an dem Satz nicht passen soll.
Der Satz ist kein Problem. Ich fand nur, dass es (mir) geholfen hätte, wenn Henry die Möglichkeiten des Helfens durchdekliniert hätte , um festzustellen, dass er nicht helfen kann oder Natalie gar keine Hilfe braucht, und er, weil er gar nicht weiß, wie, halt irgendwie helfen will. Aber auch hier kann ich akzeptieren, wenn es im Ungefähren bleibt, weil dein Protagonist solche Selbstinventuren nicht macht.
Da ich nichts erklären will, kann ich nur sagen: Bis dahin haben ihn bestimmte Dinge angezogen, von denen nun keine mehr da sind.
Okay, ich deute mir das jetzt so dass das nicht ganz ernst gemeinte Fluchtversuche waren, Ziele jenseits des Horizonts, die jetzt mit dem Auto/Führerschein erreichbar geworden zu sein scheinen, und dann kneift er aber und kehrt wieder zurück ins Sichere, Bekannte.
Spannend wäre für mich, wenn du mir noch sagen würdest, ob und wie die Geschichte nachgewirkt hat.
Ich finde deine Story weiterhin lesenswert und interessant, vielleicht auch wegen der Leerstellen, mit denen sie mich konfrontiert und die ich zu füllen versuche, weil du das nicht für mich tun willst. 😜 Sagen wir mal so: Falls es hier noch sowas wie CopyWrite gibt, wäre sie vielleicht ein Kandidat für mich. Da gibt es auf jeden Fall noch etwas für mich zu entdecken und zu formen. Es ist ja auch meine Zeit, Anfang der 90er habe ich ebenfalls meinen Führerschein gemacht.
Grüße,
bvw

 

Hallo @H. Kopper,

wie immer schreibe ich ohne die vorherigen Kommentare gelesen zu haben.
Der Text ist sehr flüssig und anschaulich geschrieben! Insofern bedauere ich es fast, an seiner Länge rumzumäkeln ...:D

Ich habe mich gefragt, warum ich die Informationen des Vorspanns erhalten muss. Selbst bei einem direten Einstieg, etwa hier ...

“Ausparken, raustasten, dann links die Bonner runter.”
Ich schaute nicht zu ihm rüber, um seinen Atem nicht abzubekommen.
... gäbe es noch genug 'Vorbereitung der Bühne', auf der sich die Handlung entwickelt.


Da war sie super gewesen, eines der wenigen Mädels, mit denen beim Völkerball zu rechnen war. Sie hatte eine ganz eigene Technik, ging kurz vor dem Wurf in die Knie, sodass sie einem im letzten Moment auf die Beine zielte. Man musste schon geschickt sein, um diesen Würfen auszuweichen.
Diese Erinnerungen sind mir etwas weit hergeholt.
Mir erscheint es naheliegender, dass er nicht das oben Beschriebene zuerst denkt, sondern dies:
Ich hatte sie damals immer hübsch gefunden und in den Klamotten jetzt sah sie wirklich ziemlich heiß aus. Sie machte mich sofort an.
Vielleicht dann noch:
Bis dahin war sie immer nur so grade mitgekommen, hatte immer nur Vieren und Fünfen gehabt, außer in Kunst und Sport.

Natürlich hatte sie mir die ganze Zeit über Leid getan, immer mal wieder, aber der Reiz meiner Fantasie war jedes Mal wieder stärker geworden. Jetzt irgendwie nicht mehr.
Die Fantasie des Lesers, um welche Fantasie des Protagonisten es sich handelt, wird stark beansprucht. Wäre natürlich interessant, dieses "irgendwie" irgendwie besser fassen zu können ... kann aber durchaus verstehen, wenn du dem Protagonisten dieses 'In-der-Luft-hängen' zuschreiben willst.
*

Als ich mal fragte, ob man nicht schon die Prüfung anpeilen könnte, es liefe doch gut, schwieg er nur.
Die Einführung des 'Prüfungsmotivs' ist ein gelungener schriftstellerischer Schachzug.

Beim Heeresamt dachte ich an meine Musterung, die damals ja noch nicht lange her war, wie ich mich vorbeugen und husten musste,
Hier auch eine Art von Prüfung.
zweitens wollte auch ich gerne die Nutten sehen
Jetzt ist er an der Reihe zu beurteilen ...

Ich hatte sie damals immer hübsch gefunden und in den Klamotten jetzt sah sie wirklich ziemlich heiß aus. Sie machte mich sofort an.
Interessant, dass er nur seine Belange sieht, nicht, wo sie gelandet ist ...

“Für die würd ich was hinblättern”, sagte er und in diesem Moment hasste ich ihn wieder.
... besonders wenn er sich durchaus vorstellen kann, wie eklig der 'Job' letztlich ist.

Dann dieses Herantasten an das Treffen (auch eine Art Prüfung).

Es ging mir um mich: Ich wollte sie für mich behalten, denn ich wollte zu ihr gehen.
Immerhin gipfelt es in einer ehrlichen Selbsteinschätzung, aber auch einem Anspruch.


Hier erzählst du in wenigen Worten viel über den Protagonisten:

Plötzlich tat sie mir Leid. Natürlich hatte sie mir die ganze Zeit über Leid getan, immer mal wieder, aber der Reiz meiner Fantasie war jedes Mal wieder stärker geworden. Jetzt irgendwie nicht mehr.
Wie perfide, dieses "natürlich" tat sie mir leid. Widerlich mitfühlend.

Sie ging gar nicht darauf ein. Es war, als hätte sie etwas in sich angeknipst. Oder besser: ausgeknipst.

“Wenn ich dir irgendwie helfen kann”, sagte ich, als wir ihren Platz erreicht hatten.
Sie lachte kurz auf.
Welch verlogener Versuch einer Art von 'Wiedergutmachung (?)' - er weiß, dass sie "ausgeknipst" agiert, dann dieses unrealistische Angebot.

Die Handlung steigert sich gekonnt, skizziert die Personen durch ihre Interaktionen, die Ernüchterung des Protagonisten führt zu einer subtil beschriebenen Verunsicherung (wahrscheinlich keine Katharsis).

Ich fuhr den Militärring runter bis zum Rhein, bog links ab und fuhr dann die Rheinuferstraße hoch bis zum Colonia-Hochhaus, fuhr über die Mülheimer Brücke und am Wiener Platz vorbei weiter nach Norden, durch Flittard und wie die ganzen Viertel da oben heißen, fuhr am grellen Bayer-Werk vorbei, fuhr immer weiter auf dieser einen Straße, bis ich Leverkusen hinter mir gelassen hatte.
Hier schließt sich der Kreis zum Anfang. Nach dem Geschilderten trägt dieser Detailreichtum zur Beschreibung des psychischen Zustands des Mannes bei: Dieser Versuch nach der ernüchternden Erfahrung auf andere Gefühle zu kommen, Ablenkung durch das Erfassen von Banalitäten, der gescheiterte Versuch Abstand zu gewinnen, Ziellosigkeit.
Das ist gut erzählt, die Fokussierung des Textes ist ganz auf die Personen gerichtet, ohne übergeordnete Moral, ganz nüchtern. Prima.

L G,

Woltochinon

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo noch mal, @brudervomweber,

danke für den erneuten Kommentar.

Hier muss ich – derzeit – widersprechen. Ich will bewusst den Erzähler mehr in den Vordergrund holen. Ich denke, dass ich ihm damit mehr Charakter verleihen kann, ohne den Protagonisten, der in diesem Fall ja dieselbe Instanz ist, durch mehr Handlung oder Dialog zu jagen.
Verstanden. Hier hat mir nun geholfen, dass du (das entnehme ich deinem Feedback) deinen Protagonisten als einen etwas oberflächlichen jungen Mann anlegst, der eher unbewusst seinem Drang folgt, anders zu sein als die anderen, frei zu werden, und daran scheitert, weil er eigentlich so wird, wie die anderen auch. Ein spießiger Rebell, so gesehen. Mit der Prämisse liest sich das alles wieder anders. Ich kann damit leben, dass du dir da von mir nicht reinreden lässt.
Gerade weil die Tafeln nicht dämlich, sondern sinnvoll sind, werden sie für den Protagonisten "dämlich". Und er ist genervt, also ist alles dämlich, was ihm keine Ablenkung spendet.
Oberflächlich, siehe oben.

Irgendwie kann ich dein Feedback manchmal nicht einordnen; es hat mitunter so einen abwertenden Touch. Wie hier. Du nennst den Protagonisten "oberflächlich" und machst das an situativen Wertungen fest, in dem Fall an seinem Kommentar zu Erklärtafeln in einer Fahrschule. Ist das nicht ein wenig zu kurz gedacht? Ich meine, natürlich, von einem völlig rationalen Standpunkt aus betrachtet, sind solche Erklärtafeln sinnvoll. Aber sie sind vielleicht auch simpel und stellen etwas dar, was man direkt versteht, sodass es solche Tafeln gar nicht braucht. Dann wären sie doch wieder "dämlich" – nicht wegen dem, was sie darstellen, sondern wegen ihrer puren Existenz.

Ich sage nicht, dass das so ist, wie ich das jetzt beschreiben. Ich will darauf hinaus, dass du solche Zusammenhänge mit einem negativen Urteil direkt ausschließt und den Protagonisten so in ein schlechtes Licht rückst.

Auch das Scheitern an seinen Ansprüchen, das sein Oberflächlichkeit zeigen soll: Das ist für mich auch etwas zu grob kommentiert. Denn es wird ja nur ein Zeitraum von maximal zwei Wochen geschildert. Was sagt das schon groß über Ansprüche und Scheitern aus? Klar, die Story deutet so etwas an (und es gibt auch noch den einen oder anderen Hint, wie die Zukunft aussehen könnte), aber das ist doch nur eine Möglichkeit.

Und wieso ist es überhaupt "oberflächlich", an seinen Ansprüchen zu scheitern? Der größte Philosoph kann an seinen Ansprüchen scheitern, oder nicht? Und die Gründe dafür werden am Ende auch ziemlich banal und unterbewusst-triebhaft sein.

Abgesehen davon könnte er doch alles einfach "dämlich" nennen, wenn ihm danach wäre. Oder nicht?
Darf er natürlich. Ich bin aber so konditioniert, dass ich das Wort "dämlich" nicht benutzen kann, ohne zu erläutern, was dämlich ist. Daher meine Frage.

Ich muss hier gerade an den Film "Donny Brasco" denken: Da sagen die Gangster (in der deutschen Version) in jeder Situation "Mann, scheiß die Wand an!" Es soll aber nie eine Wand angeschissen werden. Gerade Umgangssprache funktioniert doch so, dass man Bedeutungen frei zuweist, weil einem danach ist. It's your motherfucking freedom to do that. Wird hier jetzt eine Mutter ... ? Nö! Und ist "motherfucking" überhaupt ein positives oder negatives Wort? Je nachdem, es kann alles sein. So wird für mich "dämlich" hier verwendet: Es ist einfach Zuweisung, die aus der Situation heraus offensichtlich Sinn ergibt für den Sprecher.

Hier will ich spontan in eine Tirade gegen Gerüche in Literatur verfallen. Das ist in meinen Augen nämlich die Sensation, die am alleroffensichtlichsten meistens einfach nur Bullshit ist, der sich gut anhört.
Man darf es nicht übertreiben, da bin ich bei dir. Bei mir gibt es die allgemeinen Gestankskategorien muffig, kalter Schweiß, kalte Kippen, kalter Kot und ungewaschenes Genital. Mit jeglicher Kombination dieser fünf Elemente kannst du mir einen menschlichen Missgeruch einprägsam beschreiben.

Danke, so genau hätte ich es nicht gebraucht :silly:

"Es roch nach Pinienharz, Teer und einem Kaffeefilter, den man nach drei Tagen wieder aus der Mülltonne geholt hatte."
Das ist doch aber eigentlich ein Whiskey, oder?

Korrekt!

An welchen Stellen denn?
Die Nutten scheinen ja eine ganz starke Faszination auszuüben, wenigstens in deren Kontext hätte ich eine stärkere Verdichtung dessen, was sich da geheimnisvoll und widersprüchlich im Hormonspiegel tut, für sinnvoll gehalten. Aber das spielt sich ja in Tiefen ab, in die Henry nicht hinuntersteigt. Von daher auch hier akzeptiert, dass es bei dieser Stelle bleibt.

Also ich behaupte mal, die Regungen und Widersprüche sind hier jetzt auch nicht gerade ein Enigma, sondern liegen in der Natur der Sache.

Hier kann ich dir leider nicht ganz folgen. Verstehe nicht, worauf du hinauswillst und was an dem Satz nicht passen soll.
Der Satz ist kein Problem. Ich fand nur, dass es (mir) geholfen hätte, wenn Henry die Möglichkeiten des Helfens durchdekliniert hätte , um festzustellen, dass er nicht helfen kann oder Natalie gar keine Hilfe braucht, und er, weil er gar nicht weiß, wie, halt irgendwie helfen will. Aber auch hier kann ich akzeptieren, wenn es im Ungefähren bleibt, weil dein Protagonist solche Selbstinventuren nicht macht.

Er fragt sie ja. Das heißt, er verspürt einen vagen Drang und signalisiert Bereitschaft, blitzt dann aber ab, weil die Frage völlig verfehlt ist an dieser Stelle. Eine Selbstinventur würde die Szene in meinen Augen nur verlangsamen und verkopfen, ohne dass sich ihre Kernaussage ändert.

Da ich nichts erklären will, kann ich nur sagen: Bis dahin haben ihn bestimmte Dinge angezogen, von denen nun keine mehr da sind.
Okay, ich deute mir das jetzt so dass das nicht ganz ernst gemeinte Fluchtversuche waren, Ziele jenseits des Horizonts, die jetzt mit dem Auto/Führerschein erreichbar geworden zu sein scheinen, und dann kneift er aber und kehrt wieder zurück ins Sichere, Bekannte.

Das wäre nicht meine Deutung. Ich meine, soll er jetzt weiter bis Hamburg fahren und dort grundlos ein neues Leben beginnen? Und wovor soll er überhaupt flüchten? Der Text schildert doch gar keine großen Probleme mit seinem Leben.

Spannend wäre für mich, wenn du mir noch sagen würdest, ob und wie die Geschichte nachgewirkt hat.
Ich finde deine Story weiterhin lesenswert und interessant, vielleicht auch wegen der Leerstellen, mit denen sie mich konfrontiert und die ich zu füllen versuche, weil du das nicht für mich tun willst. 😜 Sagen wir mal so: Falls es hier noch sowas wie CopyWrite gibt, wäre sie vielleicht ein Kandidat für mich. Da gibt es auf jeden Fall noch etwas für mich zu entdecken und zu formen. Es ist ja auch meine Zeit, Anfang der 90er habe ich ebenfalls meinen Führerschein gemacht.

Go ahead! Mein Ok hast du – auch ohne diese Kategorie. Ich halte eh überhaupt nichts von Urheberrechten bei geistig-künstlerischen Produkten. Im Gegenteil: Ich denke, Urheberrechte sind Hemmschuhe, die den kreativen Prozess massiv einschränken und gehören weitgehend abgeschafft!

Freundliche Grüße

HK

+++++

Hallo @Woltochinon,

ich danke dir für deinen Kommentar!

wie immer schreibe ich ohne die vorherigen Kommentare gelesen zu haben.
Der Text ist sehr flüssig und anschaulich geschrieben! Insofern bedauere ich es fast, an seiner Länge rumzumäkeln ...:D Ich habe mich gefragt, warum ich die Informationen des Vorspanns erhalten muss. Selbst bei einem direten Einstieg, etwa hier ...
“Ausparken, raustasten, dann links die Bonner runter.”
Ich schaute nicht zu ihm rüber, um seinen Atem nicht abzubekommen.
... gäbe es noch genug 'Vorbereitung der Bühne', auf der sich die Handlung entwickelt.
Da war sie super gewesen, eines der wenigen Mädels, mit denen beim Völkerball zu rechnen war. Sie hatte eine ganz eigene Technik, ging kurz vor dem Wurf in die Knie, sodass sie einem im letzten Moment auf die Beine zielte. Man musste schon geschickt sein, um diesen Würfen auszuweichen.
Diese Erinnerungen sind mir etwas weit hergeholt.
Mir erscheint es naheliegender, dass er nicht das oben Beschriebene zuerst denkt, sondern dies:
Ich hatte sie damals immer hübsch gefunden und in den Klamotten jetzt sah sie wirklich ziemlich heiß aus. Sie machte mich sofort an.
Vielleicht dann noch:
Bis dahin war sie immer nur so grade mitgekommen, hatte immer nur Vieren und Fünfen gehabt, außer in Kunst und Sport.

Durch meinen Beruf bin ich es mittlerweile gewohnt, dass Texte unter der Prämisse entstehen, dass sie nicht gelesen werden sollen :lol: ("Wir brauchen einen Text, aber mach ihn auf keinen Fall zu lang oder zu komplex – das liest ja eh keiner!")

Scherz beiseite – vielleicht hast du recht, vielleicht nicht. Mir sind die ganzen diesbezüglichen Schreibregeln ja bekannt. Gleichzeitig ist ein literarischer Text eben auch kein Sachtext, sodass man keinesfalls mal abschweifen darf. Ich erinnere in diesem Kontext immer gern an "Moby-Dick": Da muss man sich dutzende Seiten lang durch irgendwelche Seefahrts-Trivia beißen, die nichts zur Sache tun, und es ist trotzdem zu einem der berühmtesten Bücher der Weltgeschichte geworden (übrigens hat Melville sogar Figuren eingeführt, die er dann im Laufe der Geschichte schlichtweg vergessen hat – auch das hat dem Erfolg keinen Abbruch getan). Oder "American Psycho": Ich glaube, man würde den Sinn des Buches auch dann erfassen, wenn nicht seitenlange Exkurse zu irgendwelchen Popgruppen enthalten wären.

Die Frage ist für mich vor diesem Hintergrund sogar: Erfüllen solche Passagen vielleicht doch einen Zweck? Jedes Musikalbum enthält zum Beispiel Songs, die ganz klar Füllmaterial sind, um den nächsten Banger vorzubereiten. Vielleicht funktioniert es in Texten ähnlich. Durch Nebensächlichkeiten reizt uns die nächste wichtige Information wieder mehr, als wenn alles immer nur wichtig wäre. Keine Ahnung!

Ich persönlich sehe natürlich darüber hinaus einen Informationswert in den Passagen, die du hier ansprichst. Je nach Lesart mag dieser Wert indes nicht vorhanden sein. Was ist dann besser – die Story verknappen und sie um Aspekte beschneiden, die aber vielleicht viele Leser eh nicht herauslesen?

Natürlich hatte sie mir die ganze Zeit über Leid getan, immer mal wieder, aber der Reiz meiner Fantasie war jedes Mal wieder stärker geworden. Jetzt irgendwie nicht mehr.
Die Fantasie des Lesers, um welche Fantasie des Protagonisten es sich handelt, wird stark beansprucht. Wäre natürlich interessant, dieses "irgendwie" irgendwie besser fassen zu können ... kann aber durchaus verstehen, wenn du dem Protagonisten dieses 'In-der-Luft-hängen' zuschreiben willst.
*

Also ich finde, der Text liefert hier schon Hinweise auf seine Fantasie bzw. die Frage, warum ihn das alles reizt.

Als ich mal fragte, ob man nicht schon die Prüfung anpeilen könnte, es liefe doch gut, schwieg er nur.
Die Einführung des 'Prüfungsmotivs' ist ein gelungener schriftstellerischer Schachzug.

Danke für das Kompliment. Leider kann ich es nicht nachvollziehen – warum ist das ein "gelungener schriftstellerischer Schachzug"? Das ist ganz ernst gemeint: Rein funktional betrachtet ist mir nicht klar, was die Einführung des Prüfungsmotivs für die Story bedeutet.
Beim Heeresamt dachte ich an meine Musterung, die damals ja noch nicht lange her war, wie ich mich vorbeugen und husten musste,
Hier auch eine Art von Prüfung.
zweitens wollte auch ich gerne die Nutten sehen
Jetzt ist er an der Reihe zu beurteilen ...

... Weil er vom Geprüften zum Prüfer wird? – Sehe ich irgendwie nicht so.

Ich hatte sie damals immer hübsch gefunden und in den Klamotten jetzt sah sie wirklich ziemlich heiß aus. Sie machte mich sofort an.
Interessant, dass er nur seine Belange sieht, nicht, wo sie gelandet ist ...

Ist das so? Er denkt doch schon auch darüber nach, aber ohne weitere Informationen kommt er hier halt einfach nicht weiter.

“Für die würd ich was hinblättern”, sagte er und in diesem Moment hasste ich ihn wieder.
... besonders wenn er sich durchaus vorstellen kann, wie eklig der 'Job' letztlich ist. Dann dieses Herantasten an das Treffen (auch eine Art Prüfung).

Ist es eine Prüfung? Wer prüft hier wen oder was?

Es ging mir um mich: Ich wollte sie für mich behalten, denn ich wollte zu ihr gehen.
Immerhin gipfelt es in einer ehrlichen Selbsteinschätzung, aber auch einem Anspruch.
Hier erzählst du in wenigen Worten viel über den Protagonisten:
Plötzlich tat sie mir Leid. Natürlich hatte sie mir die ganze Zeit über Leid getan, immer mal wieder, aber der Reiz meiner Fantasie war jedes Mal wieder stärker geworden. Jetzt irgendwie nicht mehr.
Wie perfide, dieses "natürlich" tat sie mir leid. Widerlich mitfühlend.

Ein recht krasse Wertung, finde ich. Klar, sein Verhalten insgesamt kann man so werten. Aber ist das Mitfühlen der widerliche Part? Dem würde ich persönlich nicht zustimmen.

Sie ging gar nicht darauf ein. Es war, als hätte sie etwas in sich angeknipst. Oder besser: ausgeknipst.
“Wenn ich dir irgendwie helfen kann”, sagte ich, als wir ihren Platz erreicht hatten.
Sie lachte kurz auf.
Welch verlogener Versuch einer Art von 'Wiedergutmachung (?)' - er weiß, dass sie "ausgeknipst" agiert, dann dieses unrealistische Angebot. Die Handlung steigert sich gekonnt, skizziert die Personen durch ihre Interaktionen, die Ernüchterung des Protagonisten führt zu einer subtil beschriebenen Verunsicherung (wahrscheinlich keine Katharsis).

Auch hier: Ist der Versuch wirklich "verlogen"? Auch dort schließe ich persönlich mich nicht unbedingt an. Wie oben ist mir das zu sehr aus einer moralisch sicheren Position heraus bewertet. Der Versuch kann doch ernst gemeint sein in dem Moment. Warum sollten wir nicht in einem Moment so und im nächsten ganz anders empfinden können? Das ist doch der Kern des Ausdrucks "Es tut mir Leid" bzw. "Ich bitte um Entschuldigung" – Man bereut sein Verhalten, bewertet das Jetzt plötzlich anders als zuvor.

Bei dir klingt das irgendwie so, als würde ein Moment den anderen zwangsläufig moralisch mitdefinieren: Wer sich schuldig macht, muss schuldig bleiben – wer falsch handelt, muss weiter falsch handeln, sonst ist das inkonsequent und verlogen.

Außerdem hatte er ja bekannt, schon ab dem Gespräch im Zimmer vor allem Mitleid zu empfinden. Dann hat er ihren "consent" eingeholt, wie man heute sagt. Hat er sich also überhaupt moralisch falsch verhalten? – Das ist für mich hier eine spannende Frage.

Man kann mit Kant sagen: Ja, denn so eine Handlung ist prinzipiell falsch. Man kann aber auch sagen: Wenn nicht er angehalten hätte, dann der hinter ihm – und der wäre mit Sicherheit nicht 18 oder 19 gewesen und hätte irgendwas groß nachgefragt. Sie hatte also wahrscheinlich durch ihn eine angenehmere Zeit als ohne ihn – so zynisch das klingt. Das wäre utilitaristisch argumentiert: Sein Verhalten hätte dann rein rational und objektiv betrachtet mehr Glück gespendet, als ohne ihn gespendet worden wäre.

Außerdem tut er nichts Illegales, auch das ist kein trivialer Punkt. Denn man ist zwar geneigt zu sagen, Moral und Gesetz sind zwei Dinge. Aber dann auch wieder nicht. Alle gröberen und groben moralischen Fehltritte sind auch illegal, behaupte ich mal. Das heißt: Über Gesetze legt eine Gesellschaft sehr wohl ihre moralischen Grenzen fest.

Ich fuhr den Militärring runter bis zum Rhein, bog links ab und fuhr dann die Rheinuferstraße hoch bis zum Colonia-Hochhaus, fuhr über die Mülheimer Brücke und am Wiener Platz vorbei weiter nach Norden, durch Flittard und wie die ganzen Viertel da oben heißen, fuhr am grellen Bayer-Werk vorbei, fuhr immer weiter auf dieser einen Straße, bis ich Leverkusen hinter mir gelassen hatte.
Hier schließt sich der Kreis zum Anfang. Nach dem Geschilderten trägt dieser Detailreichtum zur Beschreibung des psychischen Zustands des Mannes bei: Dieser Versuch nach der ernüchternden Erfahrung auf andere Gefühle zu kommen, Ablenkung durch das Erfassen von Banalitäten, der gescheiterte Versuch Abstand zu gewinnen, Ziellosigkeit.

Hier wiederum triffst du meine eigene Lesart recht genau.

Das ist gut erzählt, die Fokussierung des Textes ist ganz auf die Personen gerichtet, ohne übergeordnete Moral, ganz nüchtern.

Danke!

Ich freue mich, wenn du noch einmal auf meinen Kommentar eingehen willst. Das ist ja ein Text, der unter anderem genau solche Gespräche provozieren will. Würde mich interessieren!

Freundliche Grüße

HK

 

Hallo, @H. Kopper,
nur ganz kurz.

Irgendwie kann ich dein Feedback manchmal nicht einordnen; es hat mitunter so einen abwertenden Touch. Wie hier. Du nennst den Protagonisten "oberflächlich" und machst das an situativen Wertungen fest, in dem Fall an seinem Kommentar zu Erklärtafeln in einer Fahrschule. Ist das nicht ein wenig zu kurz gedacht?
Ich habe das mit dem "oberflächlich" gar nicht mal abwertend gemeint, sondern als Modus, den ich in dem Alter des Protagonisten auch hatte - man ist so voll von sich selbst, dass man gar keine Zeit hat, über andere nachzudenken und (allzu schnell gefällten) Urteilen über die Welt und die Leute kaum Raum zur Reflektion gibt. Das ist dann nicht einmal moralisch überheblich oder selbstgerecht, und macht den Protagonisten auch überhaupt nicht unsympathisch, sondern ist einfach der Modus, in dem er sich in der Welt bewegt. Wäre er 40, fände ich das schwieriger.
Nachdem ich Henry diese juvenilen Freiheiten eingeräumt hatte, hat das geholfen, den Text nochmal neu zu lesen, ohne mich an den ursprünglich stolpernden Stellen zu stoßen.
Dass ich trotzdem zu einer anderen Lesart finde als deiner, ist ja nicht schlimm, finde ich, solange es insgesamt (für mich) ineinander passt.
Go ahead! Mein Ok hast du – auch ohne diese Kategorie. Ich halte eh überhaupt nichts von Urheberrechten bei geistig-künstlerischen Produkten. Im Gegenteil: Ich denke, Urheberrechte sind Hemmschuhe, die den kreativen Prozess massiv einschränken und gehören weitgehend abgeschafft!
Sofern es mich packt und keine anderen Geschichten von innen an die Scheibe klopfen, werde ich mal eine Cover-Version hiervon auflegen. Ich werde dich dann auf jeden Fall taggen, weil "Motte" wird das Ding bei mir am Ende nicht heißen. Eher "Alive".
Mit bestem Gruß,
bvw

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @H. Kopper,

danke für deine Ausführungen! Ich habe den Text wahrscheinlich nicht unter dem Blickwinkel gelesen, der dir vorgeschwebt hat?

Scherz beiseite – vielleicht hast du recht, vielleicht nicht. Mir sind die ganzen diesbezüglichen Schreibregeln ja bekannt.
Das ist letztlich das grundlegende Problem von Kritiken: Es geht (mir) gar nicht um so etwas wie "vielleicht hast du recht, vielleicht nicht" (weil es keine objektiven Kriterien gibt). Ich stelle nur fest: Der Vorspann ist mir persönlich zu lang.
"Schreibregeln", was ist das? Anleitung zur Gleichförmigkeit?:lol:

Ich persönlich sehe natürlich darüber hinaus einen Informationswert in den Passagen, die du hier ansprichst. Je nach Lesart mag dieser Wert indes nicht vorhanden sein. Was ist dann besser – die Story verknappen und sie um Aspekte beschneiden, die aber vielleicht viele Leser eh nicht herauslesen?
Es gibt noch eine Möglichkeit: Die dir wichtigen Aspekte hervorheben. Es wäre schade, wenn Wichtiges untergeht (vielleicht habe nur ich etwas nicht bemerkt). Ich nehme schon an, dass ein Autor etwas nicht als 'Füllsel' schreibt, besonders bei den hier veröffentlichten kurzen Texten.


Gleichzeitig ist ein literarischer Text eben auch kein Sachtext, sodass man keinesfalls mal abschweifen darf. Ich erinnere in diesem Kontext immer gern an "Moby-Dick"
Eigentlich geht es nur um deinen Text, was hilft es, wenn ich als Leser Moby-Dick gut finde, die erwähnten Trivia mich als Segler sogar interessiert haben, die Wegbeschreibungen von dir aber nicht?

Durch Nebensächlichkeiten reizt uns die nächste wichtige Information wieder mehr, als wenn alles immer nur wichtig wäre. Keine Ahnung!
Die Gegenüberstellung von Unterschieden ist ein wesentliches Element von interessanten Geschichten. Nicht jeder wird das gleiche Empfinden haben, was 'interessant' ist (s. o.).


Also ich finde, der Text liefert hier schon Hinweise auf seine Fantasie bzw. die Frage, warum ihn das alles reizt.
Hinweise bestreite ich nicht. Ich hätte es gerne konkreter. Hat er Interesse an ihrer Person? Ist es besonders interessant für ihn, weil sie eine Mitschülerin war? Geht es um sexuelle Fantasien?

Danke für das Kompliment. Leider kann ich es nicht nachvollziehen – warum ist das ein "gelungener schriftstellerischer Schachzug"? Das ist ganz ernst gemeint: Rein funktional betrachtet ist mir nicht klar, was die Einführung des Prüfungsmotivs für die Story bedeutet.
"Rein funktional betrachtet ist mir nicht klar, was die Einführung des Prüfungsmotivs für die Story bedeutet."
Ich dachte, es sei eine Art durchgängiges Motiv, Prüfungen, die den Lebensweg begleiten (die zur Reife, zu Einsichten führen können). Da habe ich wohl überinterpretiert.

... Weil er vom Geprüften zum Prüfer wird? – Sehe ich irgendwie nicht so.
Ich habs halt irgendwie so gesehen ;)
Ich hatte sie damals immer hübsch gefunden und in den Klamotten jetzt sah sie wirklich ziemlich heiß aus. Sie machte mich sofort an. Erweitern ... Interessant, dass er nur seine Belange sieht, nicht, wo sie gelandet ist ...
Ist das so? Er denkt doch schon auch darüber nach, aber ohne weitere Informationen kommt er hier halt einfach nicht weiter.
Wann denkt er in dieser Situation
in den Klamotten jetzt sah sie wirklich ziemlich heiß aus. Sie machte mich sofort an. Erst wollte ich Blumenfeld erzählen, dass ich sie kannte, doch dann biss ich mir auf die Lippen.
über ihre Befindlichkeiten nach? Ist dieses "Blumenfeld erzählen" nicht der Ansatz eines Prahlens 'ich kenn die - du nicht'? Eine Klassenkameradin bietet auf dem Straßenstrich ihren Körper an: Welche "weiteren Informationen" sollte er benötigen, um ihre Lage als, na ja, 'nicht beneidenswert' einzustufen?

“Für die würd ich was hinblättern”, sagte er und in diesem Moment hasste ich ihn wieder. Erweitern ... ... besonders wenn er sich durchaus vorstellen kann, wie eklig der 'Job' letztlich ist. Dann dieses Herantasten an das Treffen (auch eine Art Prüfung).
Ist es eine Prüfung? Wer prüft hier wen oder was?
Dieses Treffen ist eine Prüfung - getraut er sich, sie einzuladen? Man könnte auch sagen: Geht er den Schritt, ihre Situation auszunutzen? (Habe ich so verstanden, da ich dem 'Prüfungsmotiv' wohl mehr Bedeutung zugemessen habe, als von dir intendiert).

Ein recht krasse Wertung, finde ich. Klar, sein Verhalten insgesamt kann man so werten. Aber ist das Mitfühlen der widerliche Part? Dem würde ich persönlich nicht zustimmen.

Auch hier: Ist der Versuch wirklich "verlogen"? Auch dort schließe ich persönlich mich nicht unbedingt an. Wie oben ist mir das zu sehr aus einer moralisch sicheren Position heraus bewertet. Der Versuch kann doch ernst gemeint sein in dem Moment. Warum sollten wir nicht in einem Moment so und im nächsten ganz anders empfinden können? Das ist doch der Kern des Ausdrucks "Es tut mir Leid" bzw. "Ich bitte um Entschuldigung" – Man bereut sein Verhalten, bewertet das Jetzt plötzlich anders als zuvor.
Meine Wertung 'widerliches Mitfühlen' bezieht sich darauf, dass er es sich zu leicht macht: Er hatte immer wieder Bedenken, nachdem er hat, was er wollte, tut sie ihm wieder leid. Vielleicht hätte ich 'Selbstgerechtes Mitfühlen' schreiben sollen ... ist auch widerlich :hmm:

""Es tut mir Leid" bzw. "Ich bitte um Entschuldigung" – Man bereut sein Verhalten, bewertet das Jetzt plötzlich anders als zuvor."

Man "bereut", kann sich wieder gut fühlen, die andere Person muss mit dem zugefügten Leid ... Schaden ... Stress zurecht kommen. Sie hat nicht die Möglichkeit, durch eine 'Zauberformel' die Dinge hinter sich zu lassen. Ich denke, es gibt eine Art 'Inflation' der Entschuldigungen.

Wer sich schuldig macht, muss schuldig bleiben – wer falsch handelt, muss weiter falsch handeln, sonst ist das inkonsequent und verlogen.
Man muss nicht weiter falsch handeln. Aber man kann auch nicht so tun, als ob nix gewesen wäre.

Dann hat er ihren "consent" eingeholt, wie man heute sagt. Hat er sich also überhaupt moralisch falsch verhalten? – Das ist für mich hier eine spannende Frage.
Ich sehe deinen Protagonisten negativer, als du ihn dir vorgestellt hast. Es besteht die Möglichkeit, dass dieser "consent" nur der Gewissensberuhigung dient. Er handelt, ist verantwortlich, er entscheidet. Es gibt keine Ausreden (nach dem Motto: Sie hat nicht 'Nein gesagt').

Wenn nicht er angehalten hätte, dann der hinter ihm – und der wäre mit Sicherheit nicht 18 oder 19 gewesen und hätte irgendwas groß nachgefragt. Sie hatte also wahrscheinlich durch ihn eine angenehmere Zeit als ohne ihn – so zynisch das klingt.
Es ist so eine Sache, mit vergleichender Argumentation, mit Relativierungen: Man braucht nur jemand/etwas zu finden, der/das schlimmer ist - schon kann man seine Handlung rechtfertigen?


Das wäre utilitaristisch argumentiert: Sein Verhalten hätte dann rein rational und objektiv betrachtet mehr Glück gespendet, als ohne ihn gespendet worden wäre.
Der Utilitarismus hat seine Grenzen ... muss ich dir sicher nicht erzählen ...

Außerdem tut er nichts Illegales, auch das ist kein trivialer Punkt. Denn man ist zwar geneigt zu sagen, Moral und Gesetz sind zwei Dinge. Aber dann auch wieder nicht. Alle gröberen und groben moralischen Fehltritte sind auch illegal, behaupte ich mal. Das heißt: Über Gesetze legt eine Gesellschaft sehr wohl ihre moralischen Grenzen fest.
Wie oben schon gesagt: Es geht nur um ihn. Wenn er angeblich Mitleid hat, muss er danach handeln, nach seiner Einsicht (sie ist bemitleidenswert) bescheinigt er sich letztlich die Schuldfähigkeit. Gesetze, was andere machen - in diesem kleinen Rahmen ziemlich sekundär (ist meine Ansicht, aber durch Sozialisation, Kultur, kann man wahrscheinlich auch zu anderen Einstellungen kommen).

Soweit meine Gedanken zu deinen Anregungen.

Wünsche dir eine gute Zeit,

Woltochinon

 

Hallo @Woltochinon,

danke für deinen erneuten Kommentar. Ich kann nicht gut einschätzen, ob dich das Thema, also ein weiteres Gespräch über diese Themen interessiert. Ich antworte trotzdem noch mal auf ein paar Punkte, weil ich es wie gesagt interessant finde, solche Texte zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen zu machen.

Ich stelle nur fest: Der Vorspann ist mir persönlich zu lang.

Eigentlich geht es nur um deinen Text, was hilft es, wenn ich als Leser Moby-Dick gut finde, die erwähnten Trivia mich als Segler sogar interessiert haben, die Wegbeschreibungen von dir aber nicht?

Also ich denke persönlich, die Wahrheit liegt in der Mitte. Wir kommentieren hier zwar subjektiv, aber doch auch implizit unter der Prämisse, dass das, was wir sagen, über eine rein subjektive Meinungsäusserung hinausgeht.

Ich meine: Was du als Einzelperson über den Vorspann denkst, das hat für mich doch erst dort einen Wert als Kommentar, wo ich zumindest annehmen muss, dass du auf etwas von allgemeinem Wert abhebst. Sonst wären ja nur statistische Analysen irgendwie aussagekräftig dafür, was man künftig besser machen kann.

Du würdest ja auch nicht in einer Buchkritik schreiben: "Super spannend, Moby-Dick, vor allem die Fachsimpelei, weil ich bin Segler!" Du würdest das da doch vor einem allgemeinen Hintergrund bewerten, wo eben nur ein Bruchteil der Leser Segler oder seefahrtsaffin sind.

Also ich schreibe meine Kommentare hier jedenfalls mit dem Anspruch, Dinge anzusprechen, die vielleicht nicht alle so sehen, die aber auch nicht nur ich persönlich so sehe.

Pathetisch gesagt: Suchen wir hier nicht eigentlich alle die allgemeine Welt-/Schreibformel? :lol:

Wann denkt er in dieser Situation
in den Klamotten jetzt sah sie wirklich ziemlich heiß aus. Sie machte mich sofort an. Erst wollte ich Blumenfeld erzählen, dass ich sie kannte, doch dann biss ich mir auf die Lippen.
über ihre Befindlichkeiten nach? Ist dieses "Blumenfeld erzählen" nicht der Ansatz eines Prahlens 'ich kenn die - du nicht'? Eine Klassenkameradin bietet auf dem Straßenstrich ihren Körper an: Welche "weiteren Informationen" sollte er benötigen, um ihre Lage als, na ja, 'nicht beneidenswert' einzustufen?

Hier denkt er über ihre Situation nach:

“Für die würd ich was hinblättern”, sagte er und in diesem Moment hasste ich ihn wieder. Ich stellte mir vor, wie er sie mit seinem Krateratem fickte und es ekelte mich an. Wie sie wohl hier gelandet war? Ich wusste nichts über sie oder ihre Familienverhältnisse, stellte ich fest.

Und hier steht es auch.:

Den ganzen Rückweg dachte ich über sie nach.

––––

Er hatte immer wieder Bedenken, nachdem er hat, was er wollte, tut sie ihm wieder leid.

Das steht so nicht im Text. Er "vollzieht den Akt" in diesem Gefühl von Mitleid, der Switch gelingt ihm schon vorher nicht mehr. Das kommt vielleicht im Text nicht klar genug raus. Hier ist die Stelle:

Ich wollte ihr die Tür aufmachen, aber sie war schon ausgestiegen. Im Haus führte ich sie in mein Zimmer. Ich hatte aufgeräumt und ein paar Kerzen aufgestellt, was mir jetzt völlig bescheuert vorkam. Statt sie anzuzünden, machte ich die Schreibtischlampe an. Ihr Licht war kalt und ich überlegte, schnell eine bessere Lampe zu suchen. Aber das schien mir auch irgendwie blöd rüberzukommen. Naja, dachte ich mir, sie braucht auch bestimmt keine Romantik, wenn sie es sonst in Autos auf dem Parkplatz mit irgendwelchen Pennern treibt. Plötzlich tat sie mir Leid. Natürlich hatte sie mir die ganze Zeit über Leid getan, immer mal wieder, aber der Reiz meiner Fantasie war jedes Mal wieder stärker geworden. Jetzt irgendwie nicht mehr. Sie sah sich in dem Raum um und ihr Blick blieb bei meinen Schulsachen hängen, die ich sauber übereinander gestapelt hatte.
“Du heißt Natalie, oder?”
Ich hörte mir selbst zu, wie ich das sagte.
“Ja. Und du heißt Henry, oder?”
“Ja.”
“Ich hab dich direkt erkannt.”
“Ich dich auch.”
Wir sahen uns an und es war ziemlich komisch.
“Sollen wir trotzdem?”, sagte ich.
“Wie du willst.”
“Macht es dir was aus?”
“Nein, glaub nicht.”
“Ich erzähle es auch niemandem.”
“Ok.”

Die ganze Szene schildert für mich eine zwiespältige Haltung, die nicht eindeutig egoistisch ist, sondern zwischen einer gewissen Empathie und Egoismus changiert.

"Es tut mir Leid" bzw. "Ich bitte um Entschuldigung" – Man bereut sein Verhalten, bewertet das Jetzt plötzlich anders als zuvor." Man "bereut", kann sich wieder gut fühlen, die andere Person muss mit dem zugefügten Leid ... Schaden ... Stress zurecht kommen. Sie hat nicht die Möglichkeit, durch eine 'Zauberformel' die Dinge hinter sich zu lassen. Ich denke, es gibt eine Art 'Inflation' der Entschuldigungen.

Ich verstehe und akzeptiere, dass du die ganze Situation so bewertest, dass dieses Leid ganz klar zugefügt wurde und der Protagonist sich schuldig gemacht hat. Unter diesen Prämissen würde ich dir hier recht geben.

Man muss nicht weiter falsch handeln. Aber man kann auch nicht so tun, als ob nix gewesen wäre.

Aber genau das tut er ja nicht: Er bietet doch Hilfe an. Dieses Angebot ist doch unwiderruflich eine praktische und faktische Konsequenz aus den Ereignissen vorher. Bewiesenermaßen tut er also eben nicht, als sei nichts gewesen. Er wendet sich stärker als vorher zu – aus einem Gefühl der Reue heraus, das doch durchaus ernst gemeint sein kann.

Ich sehe deinen Protagonisten negativer, als du ihn dir vorgestellt hast. Es besteht die Möglichkeit, dass dieser "consent" nur der Gewissensberuhigung dient. Er handelt, ist verantwortlich, er entscheidet. Es gibt keine Ausreden (nach dem Motto: Sie hat nicht 'Nein gesagt').

Hier würde ich zu bedenken geben, dass es aber auch "patronizing" sein kann, Natalie einfach ohne weitere Informationen als hilfloses Opfer abzustempeln, das nicht eigenverantwortlich handeln kann.

Dazu stellt sich auch noch die Frage, ob er überhaupt für irgendwas Grundlegendes bezüglich ihrer Situation irgendeine Verantwortung trägt. Er hat sie nicht in diese Lage gebracht, er hat die Gesellschaft nicht messbar mitgeprägt, in der das alles stattfindet, er zahlt den Preis, den sie verlangt, und er ist nur einer unter zig anderen, die sie besuchen. Und dass er die Dinge wahrscheinlich gar nicht positiv beeinflussen kann, selbst wenn er das wollte, das lässt sie ihn ja sogar sehr deutlich wissen. Wäre eine nihilistisch-pessimistische Sichtweise, aber das heißt ja nicht, dass nichts dran sein kann :sealed:

Es ist eine so eine Sache, mit vergleichender Argumentation, mit Relativierungen: Man braucht nur jemand/etwas zu finden, der/das schlimmer ist - schon kann man seine Handlung rechtfertigen?

Also ich persönlich halte alles für relativ – insofern muss ich wohl hinnehmen, dass Relativierungen nicht gerade heroisch klingen und leicht zu Rechtfertigungen erklärt werden können. Das ist ja ein beliebter Schachzug in solchen "Diskussionen".

Auf der anderen Seite misstraue ich moralischem Rigorismus einfach zutiefst. Eine Welt ohne moralische Relativierungen wäre mein Albtraum, weil sie Dingen wie der Prüderie, dem Pietismus, aber auch dem Autoritarismus schnell Tür und Tor öffnet.

Denn es ist ja einfach so:

Der Utilitarismus hat seine Grenzen ... muss ich dir sicher nicht erzähl7en ...

Jede Ethik hat ihre Grenzen, auch die mit den ganz festen Überzeugungen und Grundsätzen.

... Genau das ist ja das Interessante an solchen Szenarien :lol: Ich denke aber, du siehst das ähnlich, sonst hättest du ja nicht geschrieben:

Das ist gut erzählt, die Fokussierung des Textes ist ganz auf die Personen gerichtet, ohne übergeordnete Moral, ganz nüchtern.

In diesem Sinne: Ich wünsche (un)moralische Weihnachten, die sich ganz um deine liebsten Personen drehen, nicht um Dogmen! ;-)

HK

 

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