Mitglied
- Beitritt
- 11.09.2018
- Beiträge
- 16
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Motorrad
Motorrad
Wieder bastelte er dran. Sie sah ihn aus dem Fester in der Küche. Während sie Geschirr spülte. Die Sonne schien. Er lag auf einer Matte unter der Maschine, zog mit einem Werkzeug Schrauben fest, Fluchte von Zeit zu Zeit, war dreckig.
Sie spülte immer zuerst die Gläser. Das war klar. Dann wusste sie schon nicht mehr. Kam dann erst das Besteck? Die Becher oder Teller? Sie entschied mal so, mal so. Das Ergebnis war immer das gleiche: sauberes Geschirr. Das Spülwasser dampfte und roch nach Pfirsich. Sie schloss die Augen und atmete diesen Geruch ein. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Gerne wäre sie für immer in diesem Zustand geblieben. Aber sie öffnete die Augen und sah wieder ihn unter der Maschine. Er arbeitete konzentriert, ließ sich von ihren Blicken nicht ablenken. Wenn diese Maschine auf ihn drauffallen würde, täte es ihr nicht leid, dachte sie. Und dann überkam sie kurz dieses Gefühl der Maschine beim Fall nachhelfen zu wollen.
Sie spülte die Kaffeebecher vom Frühstück. Er hatte nicht ausgetrunken und sie wusste wie jeden Tag nicht wohin mit dem Kaffeerest. Das Waschbecken war voll mit Spülwasser. Manchmal brachte sie es in die Toilette, manchmal kippte sie es aus dem Fenster oder goss es in den Blumentopf der Zimmerpflanze. Heute wusste sie nicht, wohin damit. In ihrem Kopf war kein Platz für einen Gedanken in dieser Richtung. Solange nicht, wie er draußen demonstrativ an der Maschine frickelte.
Scheißachter, dachte er. Dir werde ich es zeigen. Er drehte den Schraubenschlüssel fester. Bis zum Anschlag und drüber. Mistding, schnaubte er. Sein Oberarmmuskel war hart. Er drehte mit aller Kraft bis es knackte und der Schraubenkopf auf den Beton fiel. Mit voller Wucht schmiss er den Schraubenschlüssel hinterher. Noch von unter dem Motorrad fiel sein Blick ins Küchenfenster. Er wusste, dass sie die ganze Zeit rausguckte. Die Sonne spiegelte sich im Küchenfenster. Er konnte nix erkennen. Bestimmt freute sie sich jetzt. Genau das hatte sie gewollt. Sie beobachtete ihn so lange missgünstig, bis er einen Fehler machte. Dann freute sie sich und fühlte sich bestätigt, dachte er.
Seit er arbeitsunfähig war, war seine Welt klein. Er stand auf. An guten Tagen wusch er sich, an schlechten nicht. Appetit hatte er keinen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal mit Genuss gegessen hatte. Alles war fad. Nichts machte mehr Sinn. Wenn er in die Zukunft blickte, sah er nichts. Er war als wäre er jetzt schon Tod, bloß halt noch auf der Erde. Als wäre er gestorben, aber man hätte vergessen seinen Körper mitzunehmen.
Seit er allerdings versuchte, dieses Motorrad wieder fahrtüchtig zu machen, gab es diesen Grund zu leben wieder. In den letzten Monaten war er wieder richtig aufgeblüht. Das Essen schmeckte ihm am Abend wieder. Er schlief gut ein, weil er ausgelastet war. Er hatte wieder Gedanken in seinem Kopf. Jetzt dachte er an das Motorrad, wie er dies oder jenes Problem beheben könnte. Und Probleme gab es viele. Er freute sich, wenn es voranging. Vor allem aber fieberte er dem Moment entgegen, an dem er auf die Maschine steigen würde und mit kräftigem Motorgeräusch und einer dicken Qualmwolke losdüsen würde. Im Rückspiegel würde er seine Frau beobachten, die am Straßenrand stände und ihm hinterherstarren würde. Ihre Lippen würden ganz leicht zucken. Sie würde doppelt so oft blinzeln wie sonst. Ihre Damen würde sie unter den restlichen Fingern vergraben. Und er? Er würde den Anblick genießen zu sehen, wie sie im Spiegel immer kleiner und kleiner werden würde.
Sie verstand ihn nicht, verstand nicht, warum ihm diese Maschine so wichtig war. Sie hasste sie, machte das Motorrad zum Teufel. Das Motorrad war kein Teufel. Es war auch keine Person, die an irgendetwas Schuld haben konnte. Die Maschine war eine Maschine und eine Maschine ist zum Fahren da. Das ist ihr Sinn und Zweck. Er fand seinen Sinn in der Reparatur der Maschine und das tat ihm gut. Aus. Punkt. Aber Frauen konnten das nicht so klar differenziert sehen, dachte er. Bei Frauen spielte sich immer alles auf der emotionalen Ebene ab. Nie war alles einfach und klar, immer musste man reden. Gefühle hier, Befindlichkeiten da. Er konnte das alles nicht mehr hören. Dieser Tonfall. Allein diese Schwäche in der Stimme machte ihn wahnsinnig. Diese subtilen Botschaften, die nicht versteckten Appelle. Sich mal zusammenreißen, am Riemen packen. Er hatte es auch geschafft. Mithilfe des Motorrads. Warum gönnte sie es ihm nicht? Das Motorrad hatte ihren Sohn nicht umgebracht. Es waren die Umstände.
Er hatte es erfahren als er gerade auf dem Weg zu seiner Mutter war. Einmal monatlich besuchte er sie im Altenheim. Der Besuch an dem Tag war außerordentlich. Die Pflegedienstleitung hatte ihn angerufen und ihm mitgeteilt, dass es seiner Mutter sehr schlecht gehe. Man hätte sie mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus bringen lassen.
Für sowas hatte er eigentlich keine Zeit. Im Job stand er sehr unter Druck. Die Zahlen passen nicht. Er hatte einen kleinen Handwerksbetrieb mit drei Angestellten. Er trug für sie die Verantwortung, verdammt nochmal. Das schien hier keiner zu kapieren, dachte er und gab Gas.
Als er jung war, liebte er das Klettern. Nach dem Abitur reiste er mit einem alten Mercedes durch Südamerika und bestieg Berge. Sein Leben hätte auch anders laufen können. Weniger Arbeit, mehr Privatleben, Hobbies, Freunde, Dosenbier am Lagerfeuer… Das war es aber nicht und es würde nichts bringen zu hadern. Das hatte er eines Tages beschlossen und seine Erinnerungen mit den Fotoalben von der Amerikareise im Schrank hinter den Kisten mit der Weihnachtsdeko verstaut.
Die Enge in seinem Brustkorb kannte er und er wusste, wie er sie wegkriegen würde. Heute Abend mit einer guten Flasche Rotwein. Das half immer und wenn das nicht halt, kam noch der ein oder andere Schnaps dazu.
Er hatte gerade das Fenster hinuntergefahren und sich eine Zigarette angezündet als sein Handy klingelte. Auf dem Display sah er das strahlende Lächeln seiner Frau. Sie trug ein braunes Sommerkleid mit weißen Punkten und stand vor einer blühenden Zierkirsche. Sie war der Mensch, für den es sich lohnte, hart zu arbeiten. Für sie würde er auch noch zwanzig Stunden die Woche mehr arbeiten.
„Was, gibt’s Schatz? Bin noch ´ne Stunde von Muttern entfernt…“ Das Fenster war offen und er hörte sie nicht gut. Ihre Stimme war so leise. Sein Magen krampfe trotzdem zusammen.
„Was ist los?“ fragte er und fuhr das Fenster wieder hoch.
„Fahr ran“, sagte sie. Nichts weiter. Er tat, was ihm gesagt wurde. Die nächste Haltebucht war seine. Bis er den Wagen zum Stillstand gebracht hatte, schwiegen sie.
„Was ist los?“, wiederholte er.
„Unser Sohn ist Tod“, antwortete sie.
Er starrte sie von unter der Maschine an. Den Schraubenkopf hatte sie auf den Asphalt aufkommen gehört und wie er zur Seite kullerte. Er hatte sie aus ihren Gedanken gerissen. Nun erwiderte sie seinen Blick und hielt ihn. Hielt ihn aus. Es fiel ihr schwer, ihn anzuschauen. Sie verstand ihn nicht mehr. Warum tat er das? Wie konnte er? Dieses Motorrad war der Grund, warum ihr Sohn sein Leben verloren hatte und er reparierte diese Todesmaschine wieder.
Als der Anruf vor einigen Monaten kam, dass die Untersuchungen zum Unfall abgeschlossen seien und das Motorrad freigegeben, bedankte sie sich bei dem Beamten und legte auf. Eine Formalität, dachte sie. Sie ging ihren gewohnten Tätigkeiten nach. Putzen, im Garten die Beete machen, mit dem Hund rausgehen. Sie erzählte ihrem Mann von einem Fleck auf den Badezimmerfliesen, den sie nicht mehr wegbekam und der sie störte, von den Primeln, die sie im Angebot im Baumarkt gekauft hatte und, dass ihre Hündin sich eine wilde Verfolgungsjagt mit einem Riesenfeldhasen geliefert hatte.
Als der Beamte das zweite Mal anrief, war ihr Mann am Telefon. Sie stand gerade in der Küche und spülte das Frühstücksgeschirr ab. Der Geschirrspüler war vor einigen Monaten kaputt gegangen. Seitdem spülte sie mit der Hand.
Sie beobachtete ihn, während er mit dem Beamten sprach. Sein Gesicht zeigte Züge, die sie nicht kannte oder an die sie sich nicht mehr erinnerte. Sie konnte nicht deuten, was in ihm vorging. Zuerst wusste sie nicht, worum es ging. Sie stellte das Wasser aus, um zu hören, was er da sagte, aber da hatte er schon aufgelegt. Sie ließ einen Becher fallen, auf dem Linoleum würde er nicht kaputt gehen, das wusste sie. Es knallte trotzdem. Der Kaffee spritzte in der ganzen Küche herum. Er blickte zum Becher, dann zu ihr.
„Das Motorrad ist freigegeben. Ich werde es am Donnerstag mit dem Hänger abholen“, sagte er und ging raus.
„Warum?“ rief sie ihm hinterher, nachdem die Haustür ins Schloss gefallen war.
Als sie sich kennengelernt haben, hatte er lange Haare und trug eine Lederjacke und zerrissene Jeans. Er kannte sich im politischen Geschehen aus. Das hatte sie beeindruckt. Sie konnte ihm stundenlang zuhören und nicken, während er sich über das Massaker von Srebrenica erzählte oder irgendwas anderes. Es war egal, was er sagte, es kam darauf an, wie sein Gesicht die Inhalte ausdrückte, wie sein Kinn bebte, wenn er wütend war, wie er seine Augen zusammenkniff, wenn er versöhnlicher Worte sprach.
Er kroch unter dem Motorrad hervor. Schüttelte sich den Dreck von der Kleidung, räumte das herumfliegende Werkzeug in die Kiste. Immer wieder blickte er zum Küchenfester. Sicher stand sie da mit der Zigarette in der Hand und glotze ihn an. Mit einem Satz sprang er zum Fenster. Von dicht davor konnte er die Spiegelung überwinden. Er schaute ihr direkt in die Augen. Sie hatte keine Zigarette in der Hand, sondern beide Hände im Spülwasser.
Als ihr Sohn damals zur Welt kam, blieb er zu Hause. Er wollte keine Hausfrau, hatte er damals gesagt. Dabei hatte er den besser bezahlten Job und mochte ihn auch lieber als sie ihre Arbeit in der Qualitätssicherung. Die Zeiten damals waren andere und als er zurückkehren wollte nach seiner Auszeit, machte ein anderer seine Arbeit. Bei einem kleinen Verlag, müsse man flexibel sein, man hätte seine Arbeit sehr geschätzt, aber die Situation ließ ihnen keine andere Option zu, hatte sein Chef damals gesagt. Bei einem Vier-Mann-Betrieb gab es keinerlei rechtliche Grundlage, auf die er sich hätte berufen können. Er fügte sich den Umständen in der Hoffnung, bald einen adäquaten Ersatz zu finden. Nach mehrjähriger Arbeitssuche übernahm er den Handwerksbetrieb seines Vaters, tauschte seine Lederjacke gegen einen Blaumann, den Philosophierjoint gegen das Feierabendbier und seinen Rebellionstrieb gegen beruflichen Ehrgeiz.
Er starrte sie mit zusammengekniffenen Augen an. Die Zornesfalte zeigte sich von ihrer imposantesten Seite. Sie begann verhäuft zu blinzeln und ihre Lippen zitterten. Nur das Fester trennte sie. Es war auf Kipp. Sie hörte ihn schnaufen, atmete selber mäuseleise in sich hinein. Der erste, der jetzt was sagen würde, würde die Waffe zücken. Die Argumente, die Anschuldigungen würden wie Schüsse den anderen treffen. Wer besser trifft, der gewinnt.
Nicht einmal, nicht zweimal, nicht dreimal hatten sie sich dieses Duell geboten. Zur Folge hatte es tagelange Funkstille. Sie redeten ja ohnehin schon wenig. Zu zweit in diesem Haus ohne miteinander sprechen zu können, um den auf anderem Weg fortgeführten Kampf nicht wieder zu verlieren, schien ihr unerträglich. Wie es in ihm aussah, wusste sie nicht.
Sie starrten sich an. Ihren Daumen hatte sie tief unter den restlichen Fingern vergraben. Sie hob die rechte Hand aus dem Spülbecken und löste die Spannung in der Hand. Tropfend führe sie sie zum Fester und schloss es.