Mortimer
Sie saßen alle um diesen seltsam geformten Tisch herum – halboval oder irgend so etwas ähnliches - genauso seltsam beschaffen wie sie selbst es waren, irgendwie nicht recht nach den üblichen Normen definierbar. Niemand der in diesem Raum anwesend war konnte den anderen auch nur annähernd ausstehen. Weniger als das. Sie kannten einander kaum. Sie waren sich für diese absolute Fremdheit allerdings wirklich mehr als zuwider.
Und gleichsam dazu passend war dieser viel zu große Raum irgendwie muffig. Es roch abgestanden, trotz der großen alten Fenster, deren Farbe an den Läden bereits seit geraumer Zeit abblätterte, die aber immer einen Spalt geöffnet waren, damit er das Zwitschern der Vögel hören konnte. Der riesige, eichene Schreibtisch hatte weiß Gott schon bessere Tage gesehen. Seine Putzkraft, Thelma, leistete bestimmt ganze Arbeit, dennoch konnte der imponierende Tisch seinen alten Glanz nicht wieder erreichen, und wenn sie sich die Hände blutig schrubben würde. Er hatte ein paar relativ teure Gemälde aufgehängt – die hatte er in weit besseren Zeiten erstanden – und ließ von Thelma ständig frische Schnittblumen in seinem Büro, im Sekretariat und im Wartezimmer verteilen. Das war für ihn Leben.
Er war angesehen. Er war nicht reich, aber wohlhabend. Er hatte Erfolg. Er hatte Bekannte, Freunde aus seiner Studienzeit, Kollegen die er in seiner „Amtszeit“ kennen und schätzen gelernt hatte und die er jederzeit auf ein Glas Brandy oder zu einer Partie Tennis treffen konnte. Er war nicht einsam, nur manchmal ein wenig allein, aber das war in Ordnung.
Die Meute vor ihm reckte und streckte sich. Wie er so etwas verabscheute. Es war ihm völlig schleierhaft, wie sich völlig normale Menschen derartig zum schlechteren verändern konnten, Leute, die vor wenigen Sekunden noch ganz normal gewirkt hatten. Sie konnten einander zerfleischen, ganz klar, er wusste das, er hatte es mehrmals erlebt. Ganz normale Bürger – Mütter, Väter, Großeltern, Ehepartner und noch viel, viel unglaublichere Konstellationen – mutierten trotz angeblich großer Liebe zu Bestien ähnlichen Gestalten. Er hatte es wahrlich schon zu oft mitangesehen.
Eltern verrieten ihre Kinder, Ehepartner einander, von Freundschaften im herkömmlichen Sinn zu sprechen hatte er sich schon lange abgewöhnt. Natürlich! Freundschaften? Lachhaft, so etwas gibt es nicht, nicht wenn die Prozedur erst einmal angefangen hat.
Langsam wurden sie ungeduldig. Sie begannen zu scharren wie Großkatzen in einem Käfig eingesperrt, Raubtiere die sich immer mehr ihrer Kraft bewusst wurden, Tiere, die mit einem Tatzenschlag ein Leben auslöschen konnten, ohne dessen ernsthaft gewahr zu werden und trotzdem den Konkurrenten in jedem Fall besiegen wollten. Alle scharrten sie in ihren Startlöchern. Sie alle. Er wagte einen knappen Rundum-Blick.
Marie, die alte Jungfer, mit ihrem langsam ergrauenden Haar, ihrer leicht schiefen Nase und ihrem – dem Alter zu Trotz – extrem aufrechten Gang, Marie die seinerzeit mit dem Bruder des Bürgermeisters liiert war, liiert, niemals mehr, so sehr sie sich dies auch gewünscht hätte, sie war immer die Nummer zwei geblieben. Niemals wichtig genug, geliebt genug, um Ehefrau, um alles für einen Mann zu werden. Nicht bei seinem Bruder, nicht bei den vielen, vielen anderen Männern. Er fragte sich, wie lange ein Mensch – eine Frau – eine solche Schmähung wohl ertragen konnte.
Und Bob, dieser Wichser, den er noch nie hatte leiden können, dieser unerträgliche Schmalspurcasanova, der über jede Frau, die sozusagen nicht bei drei auf den Bäumen war drüber “hüpfte“ – mehr konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, nicht bei Bob, dem halbglatzköpfigen, dem schmerbäuchigen, nein, nicht bei dem – es wurde ihm jedes Mal regelrecht flau im Magen, wenn er nur an Bob und seine „Aktivitäten“ dachte. Nun ja, vielleicht war aber er derjenige Welche. Was wusste er schon.
Phillip. Phillip war beinahe schon so hochwohlgeboren, dass ihm fast sein kärgliches Frühstück wieder hoch kam. So fein. So unerträglich affektiert. Unnatürlich. Eingebildet und – ganz ehrlich – strohdumm. Nicht mal halb so intelligent wie er selbst und dabei war dieser Kerl noch nicht einmal schöner als er selbst, was so schwierig nun auch nicht wäre. Phillip sah ein wenig überzüchtet aus, leichenblass, mit dunklen Schatten um seine wässrig blauen Augen, schmalgliedrig wie ein junges Mädchen, baumlang und dünn, mit dem typischen leichten Rundrücken aller Männer, die einen Meter neunzig und größer sind.
Nicht dass er selbst so besonders attraktiv gewesen wäre. Bestimmt nicht. Er sah sehr wohl ganz ordentlich aus. Er war mittelgroß – etwas einen Meter und achtzig, mittelschwer und hatte einigermaßen ordentliches Haar, nicht zu dicht, aber bestimmt nicht glatzköpfig – das hasste er, schon rein prophylaktisch – einen halbwegs erträglichen Teint und ein angeblich sehr nettes Lächeln. Das war auch sehr wichtig für ihn, denn dies war einer der Gründe warum ihm wildfremde Menschen vertrauten. Er kam auch aus einer anständigen Familie, keiner wirklichen reichen, aber einer durchaus angesehenen Familie, die genau in jene Gegend passte, in die er – mittlerweile vor gut fünfzig Jahren - hineingeboren war.
Mortimer warf einen weiteren prüfenden Blick in die Runde, ganz so, als sähe er alle Anwesenden zum aller ersten Mal.
Phillip starrte ins Leere, als ginge ihn dieser Termin nicht nur nichts an, sondern mehr als störte in diese Unterbrechung seines gewohnten Tagesablaufs als „Sohn“ und – wie es Mortimer zu nennen pflegte – „Nichtsnutz“ gewaltig. Ständig sah er auf seine viel zu teure Uhr und rutschte nervös auf seinem Sessel herum wie ein Siebentklässler. Vermutlich hatte er einen „wichtigen Termin“ – zum golfen, Badminton spielen oder ähnlich weltbewegendes. Irgendwie war er wirklich lächerlich, fand Mortimer.
Marie, nun ja, über Marie gab es nicht viel zu berichten. Marie war sechzig Jahre alt. Blass, uninteressant, permanent gestresst – wovon weiß Gott allein, niemand hatte jemals herausgefunden, weshalb Marie, die Teilzeit-Lehrerin, auch nur irgendwie gestresst sein konnte – und abgesehen davon war sie einfach uninteressant, ja. Das getraute selbst Mortimer sich zu sagen. Die farbloseste Frau, der er jemals begegnet war. Punkt.
Bob war offenbar mit anderem beschäftigt, wahrscheinlich gedanklich damit, wen er nach dieser ihm aufgezwungen Versammlung vögeln könnte, egal ob die Kellnerin im Pub (in diese Gegend kam der bestimmt nie, somit war sie eine völlig „neue“ Kellnerin für ihn) oder vielleicht die arme, verhärmte Marie – was konnte in diesem kranken Schädel schon vorgehen. Kein Wunder, dass sich seine Frau nach nur drei Jahren Ehe abgesetzt und die Scheidung eingereicht hatte. Bob litt unter der sogenannten „Midlife-Crisis“ seit er die Pubertät hinter sich gelassen hatte. Nun war er sechsunddreißig Jahre alt, seit vier Jahren geschieden und konnte herummachen wann und mit wem er wollte. Etwas anderes interessierte ihn ohnehin nicht.
Thelma kam ganz leise und beinahe vorsichtig herein und brachte Tee, Kaffe und Mineralwasser – nicht den Wünschen entsprechend sondern so wie sie es immer tat: sie brachte von allem etwas (außer Coke light, das war zu teuer und das gestanden sie sich niemals ein), stellte die Getränke auf das kleine Beistelltischchen und verschwand wieder völlig lautlos, fast so als wäre sie selbst kein realer Mensch, nicht mehr als ein guter Geist oder etwas ähnliches. Dabei gab es wohl wenig Menschen auf dieser Welt, die Mortimer mehr schätzte als Thelma. Thelma war wunderbar, verlässlich, adrett, die perfekte Gehilfin und vielleicht sogar ein wenig ein Freund. Ein Freund in ganz schlechten Zeiten, wenn außer ihr niemand mehr da war.
Mortimer begann heimlich ein wenig auf seinem großen Sessel herumzurutschen, beinahe so als wäre er zwölf Jahre alt, weil er noch immer nicht mit seiner Zeremonie beginnen konnte.
Er rutscht ein wenig nach links, ein bisschen nach rechts, mal nach vorne und dann auch wieder nach hinten. Ein Schulkind, und nicht eines, das der Anführer einer fabulösen Truppe ist sondern genau der, der nie das schafft, was er eigentlich will.
Und doch war er dieses Schulkind schon lange nicht mehr, er hatte Macht, nicht wirklich, aber doch mehr als er es sich je erträumt hätte. Jemals, in seinen kühnsten Träumen. Besonders heute. Er hatte eine gewisse Beginnzeit festgesetzt, und nun war es soweit. Vierzehn Uhr und Dreißig Minuten. Es sollte endlich losgehen.
Sein Mund war trocken. Er musste sich räuspern und einen Schluck Wasser nehmen. Zu angespannt war er, nicht nur, weil der Hauptpart dieser Testaments-Vollstreckung noch nicht da war, sondern auch, weil er ihn oder sie selbst noch nicht kannte. Höchst ungewöhnlich, kannte Mortimer doch beinahe jeden in „seiner“ Stadt. Sollte diese Person die Frist verpassen, würde alles zu gleichen Teilen geteilt, und das war ganz bestimmt nicht im Sinne des „Erfinders“. Mortimer begann mit seiner Eröffnungsansprache. Tausende Male hatte er diese Rede schon gehalten. Mortimer konnte sie selbst schon nicht mehr hören, aber was, um Himmels Willen, sollte er denn sonst sagen? Viele Möglichkeiten blieben ihm doch bei seinem Job nun wirklich nicht, und Professionalität war und ist sein oberstes Gebot. Da konnte ihm nun wirklich niemand auch nur das Geringste nachsagen.
Ganz knapp, bevor die Frist vorbei war, so knapp vorbei daran, die ganze Sache absagen zu müssen, stürmte die letzte relevante Person in sein Büro. Mit einem atemlosen „tut mir furchtbar, furchtbar leid, ging nicht anders“ fläzte sie sich auf den letzten leeren Sessel der sich um die unsägliche Form seines Schreibtisches reihte, als hätte sie niemals etwas anderes getan.
Mortimer räusperte sich, er war ein wenig verwirrt, ein bisschen durcheinandergebracht, außer Tritt geraten, er wusste nicht so recht was er tun soll. Er brauchte ein paar Sekunden um sich zu fassen, zu sammeln, und dann, dann ging es wieder …
„Nun dies ist, ist“ … er fing an zu stammeln, und selbst der verwöhnte Philipp wagte einen interessierten Blick. Der weibliche Neuankömmling war – nun ja – weiblich. Und zwar sehr.
Mortimer pflegte zu sagen, Geschmäcker seien verschieden, aber na ja – manchmal bekommt eben jeder Mann Hunger, egal welche Erziehung er genossen hat oder was auch immer ihm eingeimpft wurde – er kann nicht anders, er bricht innerlich völlig zusammen. Vollkommen. Tatsächlich. Unvorstellbar. Undenkbar. Er! Er …
Thelma spritzte ihm Wasser mit dem Pflanzenzerstäuber übers Gesicht, sie tätschelte seine Hand und ganz leise, von ganz weit hinten hörte er Stimmen …
„Geht es wieder?“ „Was ist denn passiert?“ „Wahrlich unpassend!“ Das kam näselnd, konnte wohl nur Phillip sein. „Komisch, grade jetzt?“ Die letzte Frage kam ihm komisch vor, blöd war er ja nun wirklich nicht, da läutete ganz heftig eine Alarmglocke. Er richtete sich auf, sah weiße, straffe, Schenkel, einen übermächtigen Busen – jedenfalls wirkte er unglaublich groß, wenn man so von unten herauf blickte – und langes, beinah weißblond gefärbtes Haar, das allerdings mit wachsendem Erwachen immer bunter wird. Will heißen sie hatte sowohl hellblondes als auch braunes und rotes Haar, in regelmäßigen Abständen gesträhnt, ganz so, wie es heute eben modern war.
Das war sie. Ihretwegen war er in Ohnmacht gefallen, was besonders erniedrigend für ihn war, da er sie doch als Klientin in seiner Liste verzeichnet hatte.
Allein ihr Name hätte jeden erwachsenen Mann entweder dahinschmelzen lassen oder in die Flucht schlagen müssen: „Cin“, wie „Cinderella“ oder was Mann sich in einen solchen Namen hineindenkt.
Er fing sich wieder. Langsam rutschte er vom Boden seines „Chefsessels“ und betrachtete die moderne, und wohl auch ein wenig billige, Version seiner Königin der Nacht – Mozart hätte sich vermutlich im Grab herumgedreht – billig und doch so unfassbar …
Räuspern. „Meine Damen und Herren …“ er fing sich nun wirklich, begann, das ihm Aufgetragene und nur allzu Vertraute zu verlesen.
Ganz hatte er den Text selbst noch nicht gelesen, nicht zu Ende … Er hatte ein komisches Gefühl, normalerweise las er seine Direktiven zu Ende, und nun hatte er das Gefühl, alles vergessen zu haben, beim Anblick langer, weißer Schenkel und …
‚Oh Gott, bitte, lass das aufhören! Ich soll hier ein Testament verlesen und ich kann es nicht!’
Diese Frau könnte seine Chance sein, das war ihm klar. Schon lange hatte ihn kein weibliches Wesen so sehr aus der Fassung gebracht, immer war er gefasst, konzentriert und ging pflichtbewusst durchs Leben. Das letzte Mal, als sein Herz dermaßen gepocht hatte war er auf der Uni gewesen, in seinem letzten Jahr, kurz bevor er den Magister gemacht hatte. Regine hatte sie geheißen, und sie hatte ihn kräftig verarscht. Seitdem war er Frauen aus dem Weg gegangen, jedenfalls jeder Form einer ernsthaften Beziehung, und nun saß ihm plötzlich dieses Vollblutweib gegenüber und lächelte ihn an.
Doch zuerst musste er seine Pflicht erfüllen, und dieses leidige Testament verlesen. Sobald er einen klaren Gedanken fassen konnte, begann er zu sprechen.
Und mit einem Mal fand Mortimer, Mortimer der Langweilige, seinen Job – seinen durchaus gut bezahlten Job – gar nicht mehr so fade, nein, im Gegenteil (den französischen Ausdruck dafür hat er vergessen, „aux“ irgendwas, wer kann sich eine solche Sprache schon merken!) sondern recht spannend, wenn man es genau nimmt. Sehr aufregend, in der Sekunde, als er das große Kuvert öffnete - quasi noch einmal, er hat es mit Tante Midge, der unerträglichen Stechmücke, ja auch aufgesetzt – war er beinahe so aufgeregt wie die möglichen Erben selbst.
Bob zum Beispiel hatte offenbar gar nichts anderes als seinen nächsten Fick im Kopf. Nun ja, warum sollte ihm Tante … Tante …
Tante Midge. Sie war wunderschön. Sie war toll. Modern, offen, lustig, sehr aufgeschlossen. Sie sah umwerfend aus. Sie hatte nicht nur einen Mann in dieser Stadt gehabt, und jeder wusste das. Trotzdem hatte sie niemals einen wirklich schlechten Ruf, zu souverän durchlebte sie ihre Affären, niemand hätte es jemals gewagt, sie darauf anzusprechen oder ihr gar deswegen Vorwürfe zu machen, auch damals nicht. Sie war eine Klassefrau.
Und sie war tot. Sie war keinen natürlichen Todes gestorben, das wusste jeder.
Selbstverständlich wusste er das auch. Er hatte es weggeschoben, verdrängt so gut es eben ging.
Tante Midge konnte einem ganz schön den Nerv ziehen, daher auch ihr Spitzname. Sie war natürlich nicht wirklich seine Tante – er selbst war im Testament auch nicht bedacht, sonst hätte er es ja nicht vollstrecken können – sie war quasi jedermanns Tante in der Stadt. Gute Tante Midge, faszinierendes altes Mädchen, die ihrem turbulenten Leben mit knappen achtzig Jahren ein Ende gesetzt hatte ohne einen Grund dafür anzugeben. Ein großer Abgang, genauso spektakulär wie ihr Lebensstil es gewesen war.
Er fühlte wie sich ein Fuß an seinem Bein entlang drängte, unter sein Hosenbein schob, immer mehr Hitze erzeugend, während der ganzen Zeremonie. Und dann musste er dem Einhalt gebieten, dringend, unbedingt, denn so konnte es keinesfalls weitergehen, nicht wenn er das ihm Aufgetragene einigermaßen richtig zu Ende bringen wollte, und das wollte er, ganz gewiss. Ja. Trotz allem.
Sanft stupste er Cin’s Bein zurück, lächelte sie kurz an und schüttelte andeutungsweise den Kopf. Cin nickte kurz, sie verstand – gottlob, sonst wäre er wohl zerplatzt.
Nun, es stellte sich also heraus, dass Bob sozusagen ein unehelicher Enkel von Tante Midge war. Sie hatte seine Mutter seinerzeit zur Adoption freigegeben, als sie noch ein Baby war, da dieses Kind aus einer Beziehung stammte, die nicht ans Licht der Öffentlichkeit geraten durfte. Bob wusste davon nichts, seine Mutter war von einem einfachen Ehepaar adoptiert worden, wuchs bei diesen Leuten – die für Bob seine Großeltern waren – auf und heiratete später Bob’s Vater, einen Leutnant der Berufsfeuerwehr.
Bei Marie war die Sache klar. Sie war Tante Midge’s Tochter. Darüber gab es keine Debatte.
Ebenso logisch die Angelegenheit mit Philipp, er war ihr Neffe, Sohn ihres Bruders Timothy.
Denn Midge war durchaus von edler Herkunft, genau wie Philipp, dieser arrogante, vierzigjährige Nichtsnutz, allerdings hatte sie einen anderen Lebensweg eingeschlagen als ihr vornehmer Bruder. Timothy ging den ihm vorgegebenen Weg, Midge wollte einfach Spaß am Leben und gab ihr Geld ausschließlich dafür aus, ihre Tage zu genießen.
Philipp war bei der Verkündung von Bob’s Erbanteil noch blasser geworden, falls das überhaupt möglich war. Der Widerling war also mit ihm verwandt, für Philipp ebenso unvorstellbar wie unerträglich. Niemals würde er diese minderwertige Gestalt akzeptieren, ganz bestimmt nicht.
Welche Bedeutung Cin allerdings in diesem Spiel hatte, war ihnen allen noch nicht klar geworden. Cin kannte niemand von ihnen, Cin kam auch nicht aus ihrer Stadt sondern lebte in einer richtigen Metropole, mehrere hundert Kilometer entfernt von hier. Sie war die jüngste aller Anwesenden, erst achtundzwanzig und somit beinahe halb so alt wie er. Nun, was ihn betraf sollte der Altersunterschied bestimmt kein Problem darstellen – da war die große Entfernung bestimmt schwieriger zu bewältigen.
Ihre Rolle in diesem Testament war allerdings eine weit größere, als sich irgendjemand der Anwesende jemals hätte vorstellen können.
Tante Midge musste eine diebische Freude empfunden haben, als sie dieses Testament aufsetzte. Mortimer sah sie bildhaft vor sich, wie sie sich ins Fäustchen lachte.
Cin war mit absolut niemandem verwandt. Cin war einfach eine junge Frau, die Tante Midge vor wenigen Jahren auf einer Kreuzfahrt kennen gelernt und sich mit ihr angefreundet hatte.
So groß der Altersunterschied auch war, beide Frauen waren extrem lebenslustig, und sie lebten beide ihr Leben abseits jeder Konventionen.
Seit diesem Urlaub hatten sie den Kontakt zueinander nicht mehr verloren, sie besuchten einander regelmäßig, telefonierten viel, schrieben Briefe und schickten E-Mails. Selbstverständlich hatte die alte Midge einen Computer mit Internet-Anschluss, das verstand sich von selbst.
Nun aber kam die große Überraschung, der Hammer sozusagen: Midge’s Bedingungen für die Erbschaft der Anwesenden.
1. Marie, Philipp und der leidige Bob sollten je drei gleich große Teile des beträchtlichen Vermögens erhalten.
2. Cin sollte die Hälfte des gesamten Vermögens erhalten, jedoch nur, wenn sie einen der Anwesenden innerhalb der nächsten 10 Tage ehelichte.
3. Sollte Cin keinen der anwesenden Herren heiraten, bzw. sollte einer der anderen drei Erben gegen diese Regel Einspruch erheben, würde die eine Hälfte ihres Nachlasses an das Kinderheim der Stadt gehen, während mit der anderen Hälfte eine Stiftung für Prostituierte, die aus dem „Milieu“ aussteigen wollten und dabei Unterstützung brauchten – und welche tat das nicht, geschaffen werden sollte.
Die letzten an ihre Hinterbliebenen gerichteten Worte waren: „Viel Vergnügen, meine Lieben!“ Das sah Midge wirklich ähnlich, bestimmt saß sie auf einer Wolke, genoss die bestürzten Gesichter und kicherte sich eins.
Damit hatte sie sowohl ihrer Verwandtschaft als auch ihrer Freundin ganz schön etwas aufgegeben. Natürlich kam es für keinen der Anwesenden in Frage, „ihr“ Geld irgendwelchen Huren zu überlassen, die gerade von den ewigen Freiern die Nase voll hatten. Und nichts gegen Kinderheime – aber da gab es doch schon genug gute Geister, die solche Institutionen unterstützten.
Niemand aber wollte Cin heiraten, das konnte er sowohl Philipp als auch Bob ansehen. Die Beiden kannten diese junge Frau nicht, sie sahen sie zum ersten Mal. Bob hatte sowieso keine Lust sich noch einmal Ehefesseln anlegen zu lassen, auch wenn es wegen einer beachtlichen Summe wäre. Und für Philipp war sie nicht gut genug. Abgesehen davon munkelte man, dass der edle Spross sich mehr zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlte. Cin wiederum konnte man ansehen, dass sie sich ohnehin bei dem Gedanken wand, mit einem dieser beiden Versager ihr Leben teilen zu müssen.
Man vertagte die Sitzung also auf den nächsten Morgen, um eine Nacht über die leidige Angelegenheit nachdenken zu können.
Mortimer war höchst erstaunt als es mitten in der Nacht bei ihm an der Tür läutete. Er öffnete und erblickte Cin, in einen dicken Pelzmantel gehüllt, vor seinem Haus. Sofort bat er sie herein, die Nächte waren doch schon recht kalt geworden. Als er die Tür schloss ließ sie langsam ihren Mantel zu Boden gleiten und darunter trug sie einen Hauch von nichts. Beim Anblick ihrer üppigen Formen wurde ihm wieder leicht schwindlig, er nahm ihre Hand und führte sie ins Wohnzimmer, wo er ihr einen einfach und sich selbst einen dreistöckigen Whisky eingoss. Cin nahm auf seinem Schoß Platz und machte ihm etwas klar, das ihm absolut nicht bewusst gewesen war.
Auch er war einer der Anwesenden, er war ein Mann und er war ungebunden. Er konnte sie heiraten, sie, eine reiche Erbin die ihm ohnehin auf Anhieb gefallen hatte, soviel war ihr klar. Sie musste ihm dazu nur in die Augen sehen. Eine Option auf die er bestimmt nie gekommen wäre, die aber wirklich verlockend war.
Cin bewies ihm, wie verlockend das Angebot war, und in den frühen Morgenstunden hatten sie den Deal besiegelt. Sie würden Ende der Woche standesamtlich heiraten, es würde schon gut gehen. Mortimer schickte Cin nach Hause, damit sie sich für ihre Zusammenkunft in seiner Kanzlei vorbereiten und frisch machen konnte. Dann legte er sich für einige wenige Stunden ins Bett um einen klaren Kopf zu bekommen.
Nervös rückte er auf seinem Sessel herum, zum x-ten Mal blickte er auf seine alte Armbanduhr, zur Pendeluhr an der Wand und auf die Zeitanzeige seines Computers. Sie konnte doch unmöglich schon wieder zu spät kommen, nicht heute, wo es für sie beide, für alle Anwesenden um so viel ging! Er konnte es einfach nicht fassen.
Die anderen murmelten ebenso unruhig vor sich hin, besonders Marie empfand es als Unverschämtheit einen solchen Termin zu verpassen. Mitten in seine leidlich beruhigenden Worte läutete das Telefon. Mortimer hob ab, meldete sich und hörte zu, immer blasser und blasser werdend, vor sich hin stammelnd und schließlich atemlos den Hörer auf die Gabel knallend. „Sie ist tot“, verkündete er tonlos. „Cin Armbruster ist tot.“
Er konnte es einfach nicht glauben. Sie alle hatten sich umgehend auf der Polizeistation einzufinden. Der Inspektor erzählte ihnen, dass Cin vom Balkon ihres Hotelzimmers gestürzt war. Es gab also nur zwei Möglichkeiten: sie hatte die Belastung der Testamentseröffnung und die Konsequenzen, die aus einer Hochzeit mit einem völlig Unbekannten resultieren würden nicht verkraftet und ihrem Leben ein Ende gesetzt.
Oder einer der Erben hatte ein wenig nachgeholfen, weil ihm sein Pflichtanteil nun mal lieber war als ein Sechstel eines Vermögens, von dem die Hälfte ungerechterweise an eine wildfremde Frau gehen sollte. Denn dem Inspektor war genau jene Tatsache sofort sonneklar gewesen, die Mortimer anfangs übersehen hatte: nämlich das er einer der Anwesenden der Testamtenseröffnung und somit ein Kandidat für die Ehe mit Cin gewesen war. Gleichzeitig war er der Einzige, der mit dem Tod Cin’s nicht gewinnen konnte, er war im Testament ja selbst nicht bedacht worden.
Da Marie in dem Internat, in dem sie unterrichtete, auch wohnte, kam sie nicht in Frage, eine Unmenge Zeugen die sie gesehen hatten wären sofort bereit gewesen ihre Aussage zu machen.
Philipp und Bob gaben sich gegenseitig ein Alibi, sie hatten die Nacht angeblich in heißen Diskussionen über die weitere Vorgangsweise verbracht, und auch Philipp’s Portier hatte beide am späten Abend das Gebäude betreten und nicht wieder verlassen sehen.
Somit wurde offiziell festgehalten, dass Cin Armbruster Selbstmord begangen hatte, ganz so wie es ihr Tante Midge vor kurzer Zeit vorzeigte. Das Erbe würde nach Pflichtteilen aufgeteilt werden, womit alle drei verbleibenden Erben das bekommen würden, was ihnen nach ihrer eigenen Auffassung zustand.
Nur Mortimer kannte die Wahrheit. Cin wollte nicht sterben. Diese sinnliche Frau hatte ganz bestimmt nicht vorgehabt, sich das Leben zu nehmen, im Gegenteil: sie wollte ihr Leben mit ihm teilen. Und ihr Vermögen, aber das war für ihn nicht wichtig gewesen. Er verdiente weiß Gott genug. Er hatte einfach die Chance gehabt, nicht alleine alt zu werden, sondern zusammen mit einer umwerfenden, jungen, sprühenden Frau den Rest seiner Zeit zu genießen.
Cin wollte nicht tot sein. Jemand hatte sie umgebracht. Es war für ihn nicht schwierig zu erraten, wer das war. Er konnte es allerdings nicht beweisen. Die beiden Täter hatten ein hieb- und stichfestes Alibi. Die beiden Männer, die er noch nie leiden hatte können, nun hasste er sie. Und er schwor Rache. Denn nun hatte er nichts mehr zu verlieren.
In nur einer Nacht hatte Mortimer alles gewonnen. An einem einzigen Morgen hatte er alles was er sich erträumt hatte, wieder verloren. Diese eine Nacht war das Einzige, das ihm blieb. Die Erinnerung daran, an die wundervollste Nacht seines Lebens mit der Frau seines Lebens.
Er blickte den beiden Mördern fest in die Augen.
Seine Zeit würde kommen, so sicher wie das Amen im Gebet.