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Morten beißt das Mädchen
Die Werwölfe steckten im Unterholz fest und fingen sich Kletten. Morten hörte sie hinter sich jaulen. Zufrieden zupfte er kleine Zweige von seinem hippen Hollister Seagrove Hoodie und überprüfte beiläufig, ob seine Frisur von der Flucht in Mitleidenschaft geraten war. Die erste Lektion der Söhne der Nacht lautete: Niemals den stylischen Haarschnitt vernachlässigen.
"Hast du auf mich gewartet?"
Das Mädchen war blitzschnell aus der Dunkelheit aufgetaucht. Morten zuckte zusammen und verwuschelte zwei, vielleicht auch drei perfekt sitzende Strähnen. Er kannte sie aus der Schule. Und natürlich von dieser anderen Sache her.
"Weißt du noch, wie du mir das Leben gerettet hast?"
Morten seufzte. "Richtig. Das war doch - warte - gestern, nicht wahr?"
"Genau!" Das Mädchen klatschte begeistert in die Hände.
Er wurde sie nicht los. Sie war wie der Fluch einer alten, schnurrbärtigen Zigeunerin.
Er war ihr im Wald gefolgt. Es war kein richtiges Stalken, da er sowieso im Wald wohnte. Er wartete auf den passenden Augenblick, um die Heldentour abzuspulen. Lange musste er nicht warten. Das tobende Wildschwein brach durch das Dickicht und preschte direkt auf das Mädchen zu. Ein Glücksfall.
"Iiiih. Ein Schwein!", kreischte sie.
"Brrrronk!", rief das Wildschwein.
Und Morten sprang.
Er landete genau zwischen dem Mädchen und dem rasenden Rüsseltier. Dann sprintete er ebenfalls auf sie zu, nur eben schneller als das Schwein.
"Aaaah. Ein Mann!", kreischte sie.
Er schlang seine Arme um ihre Taille, federte mit den Füßen vom Boden ab und beförderte sich und sie mit einem übernatürlichen Sprung in den nächsten Baumwipfel. Da bemerkte sie, dass er so etwas wie ein Vampir sein musste.
"Boah, kannst du hoch springen! Bist du Leichtathlet?"
"Nee. Ich bin ein Vampir."
Da bemerkte sie, dass er ein Vampir war.
"Boah. Du bist ja ein Vampir!", rief sie beeindruckt aus.
"Ähm, ja", sagte er leicht beklommen.
"Abgefahren!"
Er hatte sie ausgewählt, weil sie die Hübscheste in seiner Klasse war. Sie war wohl auch ein wenig doof, wie er jetzt feststellen musste. Schönheit hatte immer ihren Preis.
"Wie heißt du eigentlich?"
"Morten."
"Das ist aber kein richtiger Vampirname", stellte sie enttäuscht fest. "Aber immer noch besser als Edward!"
"Echt? Ich dachte immer Edward sei ein super Vampirname."
"Nö. Klingt voll spießig. Richtige Vampire heißen Umberto. Oder Robert."
"Robert?"
"Oh, ja ... Robert." Das Mädchen sprach den Namen so aus, als würde ihr dabei ein erotischer Schauder über den Rücken laufen.
Heimlich sah Morten sich um, ob hier zufällig ein zweiter Vampir saß, an den er das leicht beschränkte Mädchen abgeben konnte. Leider war es auf hohen Bäumen immer recht einsam. Er spielte sogar mit dem Gedanken, sie einfach wieder zu dem marodierenden Schwein hinunterschubsen. Aber selbst das war fort, um Eicheln zu fressen.
Sie musterte ihn eindringlich aus unergründlichen Augen. "Allerdings schaust du für einen Vampir schnuckelig genug aus."
Entsetzt stellte Morten fest, dass sein Mechanismus, der dafür sorgte auf das weibliche Geschlecht unter Achtzehn unwiderstehlich zu wirken, weiterhin auf Hochtouren arbeitete. Auch wenn er sie gar nicht mehr wollte. Sie schlang die Arme um ihn und zog ihn näher an ihr Gesicht heran.
"Ich wette, du kannst auch genauso gut küssen wie ein Vampir!"
"Äh, wie viele Vampire hast du denn bereits geküsst?"
"Zwei."
Ihr Mund suchte zielstrebig seinen Mund.
"Echt?", fragte er perplex. Und skeptischer: "Wo?"
"Auf einer Halloweenparty."
Ihre Lippen berührten beinahe seine Lippen.
"Ich bin aber ein wirklich miserabler Küsser!"
Der Kuss sorgte nicht dafür, dass Mortens untotes Herz wieder schlug. Aber wenigstens machte er ihn geil. Vielleicht hatte er ja doch die richtige Wahl getroffen, und ihre Beschränktheit war nur der erste, eilige Eindruck.
"Deine Zähne sind ja ganz spitz!", rief sie irritiert, als sie sich von ihm löste.
Vielleicht konnte er die ganze Geschichte als einen One-Night-Stand verbuchen.
"Ich hab mich, glaub ich, voll in dich verliebt!" Als würden ihre Worte nicht ausreichen, schaute sie ihn auch noch verliebt an.
Dann verriet sie ihm, wie sie hieß.
Von da an hatte sie nicht mehr einfach nur das Mädchen geheißen, sondern irgendwie anders. Kiki oder Kimi oder so ähnlich.
"Oh. Du trägst ja einen Hollister Seagrove Hoodi!", sagte sie verzückt.
"Hallo Kiki."
Schnell genug nahm er das beleidigte Hochziehen ihrer Augenbrauen wahr.
"Äh, Kimi."
"Sophie", sagte das Mädchen etwas verschnupft.
Die Werwölfe jaulten nicht mehr. Sie kläfften.
“Hörst du das? Hundebabys!”
“Ja. Was machst du hier? Sophie.”
“Ich dachte, wir können vielleicht abhängen.”
Möglicherweise fanden die Werwölfe das Kläffen nicht bedrohlich genug. Also verlegten sie sich aufs Heulen. Hektisch wies Morten in ihre Richtung.
“Ich bin hier gerade etwas beschäftigt.”
“Es ist ständig alles so total interessant, was du sagst”, schmachtete sie und bewies damit, dass sie überhaupt nicht zugehört hatte.
“Die Hundebabys ... äh, sie dürfen mich nicht erwischen!”
“Wir müssen aber nicht abhängen. Sondern wir können auch was anderes tun, wenn du weißt, was ich meine.”
“Oh Jesus, wenn die Hundebabys mich erwischen bin ich Hackfleisch.”
Das Mädchen guckte gespielt beschämt auf ihre Füße. “Wir könnten uns ja wieder ... küssen.”
“Dann bin ich tot! Tot! Verstehst du!”
“Biste doch schon, Dummerchen.”
Morten biss sich auf die Lippe und vergaß, dass seine Zähne dafür nicht vorteilhaft waren. “Au!”
“Ich weiß alles über Vampire.” Sie wischte zärtlich mit ihrem Daumen über seinen Mund. Das fand er abstoßend. “Zufälligerweise habt ihr nämlich keinen Herzschlag.”
“Danke für die Aufklärung. Aber ich weiß auch alles über Vampire. Weil ich zufälligerweise einer bin!”
“Und ich weiß auch das mit den Körperflüssigkeiten.”
“Woher?”, rief er schockiert. “Aus Twilight?”
“Vomit Gore.”
Morten verzog das Gesicht.
“Außerdem stehen Vampire voll auf Blut. Wenn ihr ein Mädchen in den Hals beißt, ist das für beide voll wie ein Orgasmus oder so.” Sie hielt ihm ihren Finger hin, auf dem sein Blut im Mondlicht schwarze Tupfer hinterlassen hatte. “Stehst du auf Blut, Morten?”
“Ja. Aber doch nicht auf mein eigenes, du dämliche Henne!”
Das Mädchen zog eine Schmollschnute und wandte sich ab. Irgendwo im Grünzeug knackte es. Morten fuhr herum. Kacke, dachte er, jetzt haben die Fellfressen mich! Er erwartete ihr Knurren, stattdessen hörte er ein Schluchzen.
“So darfst du nicht mit mir reden!”, schniefte das Mädchen. “Du bist gemein!”
“Es tut mit leid, Kiki ...”.
“Sophie!”
Morten rang seine Hände in stummer Verzweiflung gen Himmel. “Es tut mir leid, Sophie. Aber ich stehe gerade unter übernatürlichem Stress. Ich wollte dir nicht wehtun.” Er wollte sie um alles in der Welt loswerden.
Wie alle Vampire konnte er kein Mädchen weinen sehen. Er wühlte in seiner Hosentasche und holte ein altmodisches Stofftaschentuch heraus, für das er sich ein bisschen schämte. Dennoch bot er es ihr an. Die Initialen M.E. (V.) waren in den Stoff eingestickt.
“Wofür steht das?”, fragte sie, als sie danach griff.
“Morten (Vampir).”
“Und das E.?”
“Edward”, sagte Morten kleinlaut.
Sie schnäuzte sich intensiv und gab ihm das Taschentuch zurück. Er zögerte. Sie starrte ihn auffordernd an. Er zögerte noch etwas länger, prüfte ihren Blick. Er sagte: Nimm jetzt besser dieses verrotzte Ding an, oder ich pfähle dich auf der Stelle mit dem nächsten Ast! Er war sich nicht sicher, ob sie die Sache mit dem Pfählen auch wusste. Deshalb ließ er so würdevoll wie möglich das Taschentuch wieder dort verschwinden, wo er es hergekramt hatte.
“Mich dürftest du übrigens in den Hals beißen”, sagte das Mädchen und ihre Stimme klang nach dem Naseputzen nicht mehr ganz so belegt. “Ist eh geiler als küssen.”
“Ich will dich nicht beißen”, sagte er so taktvoll wie möglich.
Das Mädchen begann wieder zu schluchzen. Morten trat hilflos von einem Bein aufs andere. Er konnte die Werwölfe nicht mehr hören und das machte ihn nervös. Im Wald lauerten noch andere, gefährlichere Kreaturen.
“He, du da!”, rief eine raue Stimme aus der Vegetation. “Hände weg von meiner Freundin!”
Das Mädchen und Morten wirbelten herum. Ein Schemen kämpfte sich schwerfällig durchs Gebüsch.
“Yo, Penner, ich rede mit dir! Du sollst deine schmierigen Finger von Sophie lassen!”
Für einen Werwolf in menschlicher Gestalt war der Neuankömmling zu klein. Außerdem trug er weder eine Vikings-Sportjacke noch eine viel zu weite Technohose. Werwölfe waren Hinterwäldler und kleideten sich auch so. Hier stand jedoch ein modisch anderes Kaliber: das Sweatshirt von Gap, die Beinkleider von Dickies.
“Oh. Das ist übrigens mein Freund. Maik”, sagte das Mädchen. “Tschüss, Maik.”
Maik schaute sie an wie ein begossener Pudel.
“Klar ist das Maik”, ächzte Morten, der soeben in ein ernstes Beziehungsdrama reingezogen worden war. “Allein schon seine Frisur ist absolut Maik.”
“Ey, Sophie. Was machst du hier im Wald mit diesem Freak!”
Morten gab instinktiv ein vampirtypisches Fauchen von sich.
“Mit diesem blassen, heißen Freak!”, setzte Maik nach. “Findest du den geil, oder was?”
“Ja, Maik”, erwiderte das Mädchen kalt. “Ich finde ihn geil.”
“Der spielt ja noch nicht mal A-Liga!”
“Nee, Maik. Der darf da nämlich gar nicht spielen. Der ist ein Vampir. Der ist bestimmt, äh ... über hundert Jahre alt.”
Morten war zwar ein Vampir, aber er fand es trotzdem nicht gut, dass sie über ihn in der dritten Person redeten.
“Was stimmt bloß nicht mit dir, Alter?” Maik musterte ihn wie schimmeliges Toastbrot. “Du bist über hundert und gehst wieder zur Schule! Wenn ich erst mal so alt bin, werde ich die ganze Zeit chillen.”
Morten öffnete den Mund, um was zu sagen. Aber da war etwas dran. Abgesehen davon, dass Maik über hundert werden würde.
“Und jetzt verpiss dich, Maik! Siehst du nicht, dass du störst. Morten wollte mich gerade beißen.” Das Mädchen wedelte mit den Fingern als wollte sie ein besonders lästiges Insekt verscheuchen.
“Wollte ich nicht!”, protestierte Morten.
“Du Sau!”, polterte Maik.
“In den Hals! Und das ist voll besser als Sex”, ergänzte das Mädchen süßlich. “Natürlich haben wir den Sex dann hinterher auch noch. Nicht so langweiligen wie mit dir, sondern versauten Vampirsex.”
“Du dreckige Schlampe!”, brüllte Maik. Dann stürzte er sich ohne Vorwarnung auf Morten, während seinem Mund ein langgezogener, zorniger Schrei entfuhr. “Ich bring dich um!”
“Ja, mach doch”, kicherte sie. “Er ist ja sowieso schon tot!”
“Vielen Dank, Sophie”, presste Morten hervor, während er seinen Angreifer abwehrte, der mit ungezielter Kraft auf den Vampir einprügelte.
“Ah. Du weißt ja doch noch meinen Namen. Schön.”
“Ja. Ganz wunderbar. Aber könntest du vielleicht einen Augenblick mit der Schwärmerei aufhören ...”.
“Wir sind füreinander bestimmt!”
“ ... Und deinen Freund zurückpfeifen, denn ...”.
“Wir werden uns lieben auf ewig,”
“ ... er tut mir ganz schön weh!”
Maik klatschte seine Fäuste immer wieder auf die freien Stellen von Mortens untotem Körper, die er erwischen konnte.
“Schau hin, Sophie. Ich schlag deinen Vampir-Lover grün und blau! Deinen Schönling! Ich schlag ihm die Zähne aus! Wie will er dich dann noch beißen, hä?”
Das Jaulen der Werwölfe hatte wieder eingesetzt. Diesmal klang es näher als zuvor, sehr viel näher.
“Jahaaa, Sophie!”, johlte Maik triumphierend. “Da kannst du heulen so viel du willst!”
“Äh, ich glaube, das ist nicht Sophie”, unterbrach ihn Morten.
“Du hälst die Klappe, du Supervampir! Na, wo sind sie jetzt? Deine dunklen, magischen Superkräfte?”
Maik lachte irre. Seine Arme drehten sich wie eine Wassermühle.
“Nimm das! Und das!”
Er versuchte sein Knie hochzuziehen und es in Mortens Hoden zu rammen, als ein fließender Schatten gegen ihn prallte. Maik wurde zu Boden gerissen. Er und der Schemen rollten eng umschlungen über die Erde. Der Junge fluchte, der Werwolf schnappte mehrfach nach ihm. Mit Erfolg. Nadelspitze Zähne gruben sich in Maiks Knöchel. Blut sickerte durch seine Burlingtonsocke.
“Scheiße!”, kreischte Maik. “Noch ein Vampir! Er hat mich gebissen!”
Er rollte sich zur Seite und blieb dort wimmernd liegen. Die Schnauze des Wolfes schnellte blitzartig vor und durchtrennte ihm die Halsschlagader. Nun sprudelte sein Blut regelrecht heraus. Wie bei einem Zimmerspringbrunnen. Maik war endlich still.
“Das ist kein Hundebaby”, sagte das Mädchen.
Der Werwolf schüttelte ausgiebig seinen ganzen Körper. Dann machte er einen krummen Rücken und stellte sich zaghaft auf die Hinterbeine. Er stand so eine ganze Weile da, wackelig, schwankend, als würde er gleich wieder einknicken.
“Seht weg!”, grunzte der Wolf kehlig.
Morten und das Mädchen gehorchten und sahen sich an. Sie blickten sich eine ganze Weile stumm in die Augen. In diesem Moment verliebte sich auch der Vampir in sie, und das Heulen der anderen Werwölfe klang in seinen Ohren plötzlich wie Vogelgezwitscher.
“Ihr könnt jetzt wieder gucken”, forderte der Werwolf sie auf und störte die Romantik ein wenig.
Zu Mortens großer Erleichterung war der Werwolf nicht nackt. Er hatte sich eine verwaschene Jeans angezogen, über dem nackten Oberkörper trug er eine Lederjacke.
“Wo hast du die Klamotten so schnell hergeholt?”, fragte das Mädchen baff.
“Und warum trägst du keine olle Sportjacke?”, erkundigte sich Morten düster.
Der Werwolf zuckte mit den Schultern und grinste. Maiks Blut klebte noch auf seinen Zähnen und in seinem Bart.
“Du hast gar nicht so viel Körperbehaarung wie ich dachte!” Das Mädchen klang erfreut.
“Was soll das denn jetzt?”, zischte Morten.
“Du hast Maik getötet. Krass.”
Das Grinsen des Werwolfs wurde breiter.
“Ehrlich gesagt, bist du ganz schön attraktiv!”, zwitscherte das Mädchen.
“Sophie!”, rief Morten entrüstet.
“Kimi!”, sagte das Mädchen.
“Sehr erfreut, Kimi”, erwiderte der Werwolf. “Ich bin Marcus.”
“Marcus ist aber kein richtiger Werwolfname. Werwölfe heißen Joe oder Lupo.”
Morten rollte mit den Augen.
“Du kannst mich meinetwegen Joe nennen.”
“Aber ich trage einen Hollister Seagrove Hoodie!”, protestierte Morten verzweifelt.
“Na, und? Er trägt eine Lederjacke!”
Das Mädchen hakte sich mit dem Arm bei dem Werwolf unter. Sie schlenderten an dem Vampir vorbei. Sie beachtete ihn schon gar nicht mehr.
Im Vorbeigehen lächelte Marcus ihn an, dabei fuhr er sich mit der Hand quer über seinen Hals. “Ein anderes Mal.”
Als Sophie und der Werwolf in der Nacht verschwanden, schnappte Morten noch die letzten Worte des Mädchens auf.
“Sag mal, Marcus. Kannst du beißen?”