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Morgens
Von diesem Platz aus kann man die ganze Straße überblicken. Ein Geruch aus frischen Brötchen, heißem Kakao, warmen Croissants und Schokolade steigt mir in die Nase. Im Cafe ist es gemütlich warm und die kleinen, nassen Tropfen, die langsam, aber unaufhaltsam von den Handschuhen fallen, bilden eine Pfütze auf der Glasplatte des Stehtisches.
Bei einem Blick auf die vom Regen nasse, ungemütliche Straße fällt ein Mädchen auf, das an der Bushaltestelle steht und seine kalten Hände in die kurze, dunkelblaue Jacke gesteckt hat, um sich zu wärmen. Ihre Nase ist rot und der lange Schal bedeckt den Mund, der schon ganz wund und aufgesprungen ist. Sie hört Musik. Man erkennt schwarze, lange Fingernägel und Ringe an der rechten Hand, als sie diese kurz aus der Tasche nimmt um den Reißverschluss der Jacke noch etwas weiter hoch zu ziehen. Ihre Hand ist rot, erfroren, kalt.
Sie zieht kurz die laufende Nase hoch. Man erkennt ihre großen, braunen, dick geschminkten Augen bis in die gemütliche Atmosphäre des Cafes. Sie sieht nachdenklich, traurig und schön aus. Ihre schmalen Schultern sind von braunen Haaren bedeckt, die wie ein Wasserfall bis zu dem, an die Brust gedrückten Ordner fließen und dort in kleinen Locken enden. Sie scheint damit den Eindruck von Wildheit, Freiheit und Unbändigkeit erwecken zu wollen, doch ihre feinen Gesichtszüge, die so blass und weich aussehen, sprechen von Verletzbarkeit und Traurigkeit. Ihre Bewegungen sind unsicher und ängstlich.
Das kleine Gesicht verändert sich kurz, als wolle das Mädchen weinen. Woran sie wohl eben gedacht hat? Doch kurz darauf hat sie sich wieder im Griff und steht stolz, selbstsicher, unnahbar und beinahe trotzig da.
Wie alt ist sie? Fünfzehn, sechzehn? Ihr Gesicht ist kindlich, weich, doch sie scheint so erwachsen und klug. Ihre Augen schweifen zum Cafe herüber und kurz ist ihr Blick so, als spiegle sich die Wärme und Gemütlichkeit in ihren Augen. Sie fährt mit der Zunge über den trockenen Mund und kurz sieht man wie weich und warm er sonst sein muss.
Plötzlich fängt ein kleines Mädchen, dass auf einer Bank sitzt lauthals an zu lachen. Die Traurige blickt auf das fröhliche Kind und ihre Augen lächeln, doch der Mund bewegt sich kaum. Sie ist ein Mensch, der mit den Augen lächelt. Ich lehne mich zurück und schlürfe kurz an der heißen Schokolade. Das kleine Mädchen winkt nun der anderen, der traurigen, zu und die winkt zurück. Jetzt lächelt sie! Sie ist schön.
Da kommt der Bus. Kurz blicke ich auf, um der Kellnerin das Geld für die heiße Schokolade und den Croissant hinzuschieben und als ich wieder zur Straße blicke, ist das Mädchen verschwunden. In den Bus eingestiegen.
Ich klemme mir die Zeitung unter den Arm und nehme meine Aktentasche. Ich muss los. Es ist spät. Ich schaue auf die nasse Strasse, doch ich sehe weder das Flugblatt, das jemand auf den Boden geworfen hat, noch den Raben, der zerzaust hin und her hüpft. Ich denke an das Mädchen.