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Morgens, halb Zehn in Chemnitz
Morgens, halb Zehn, in Chemnitz
Irgendwo ertönt ein schrilles Geräusch. Ich kann es zunächst nicht einordnen, erst langsam erwache ich aus dem Delirium, verursacht durch den Alkoholexzess letzte Nacht. Ich bekomme gerade genug Körperfunktionen in Gang, um die Quelle des durchdringenden Tons zu lokalisieren. Es ist mein Wecker, der irgendwo zwischen Bett und Fenster liegen muss. Ich begebe mich aus meiner Kiste, um nach dem verfluchten Ding zu suchen, und trete in eine etwa 1x1,5 Meter große Lache. Ist das meine Kotze oder die eines Freundes? Ich bin mir nicht ganz sicher, aber es stört auch nicht weiter, denn ich habe den Wecker gefunden. Er liegt unter der Scheibe Brot, die mir letzte Woche beim Fernsehen heruntergefallen ist. Seltsam, ich dachte, die hatte ich im Klo runtergespült. Ach ja, seit ich das Klo vor zwei Wochen mit Bierscheiße zugekleistert t hatte, funktionierte in dem Bereich ja gar nichts mehr. Was soll’s, denke ich, und nehme die Scheibe als Frühstück zu mir. Ich habe ein gutes Gefühl, und nach dem Start in den Tag glaube ich, dass auch der Rest ganz schön dufte wird. Mir wird ein wenig schwindelig und ich setze mich auf die Bettkante. Sonnenstrahlen treffen auf mein Feinripp-Unterhemd, und mir fällt auf, dass sich die gelben Flecken von vor zwei Monaten immer noch darauf befinden. Ich frage mich auch, ob der Mikrokosmos in meiner Unterhose bereits ein demokratisches System bildet. Aber ich habe jetzt keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen. Ich habe einiges zu tun. Doch vorher muss ich eine von diesen verdammten Tabletten einwerfen, wenn ich nur wüsste, wo ich sie hingelegt habe. Mein Schädel dröhnt wirklich gewaltig, und ich möchte jetzt nicht riskieren, mein Spiegelbild zu betrachten. Zum Glück habe ich keinen Spiegel mehr, seit ich letztes Jahr versucht habe, ihn als Türstopper zu verwenden. Ich schaue mich um. Unter mir ist die Lache noch nicht ganz versickert, und, praktisch wie ich nach all den Jahren MacGyver bin, mache ich aus der Not eine Tugend und wärme meine gelben Füße etwas auf. Ja, so eine Fäulnis hat schon ihre Vorteile. Seit wann musste ich jetzt keine Fußnägel mehr schneiden? Ich kann mich nicht erinnern, aber es ist mir auch schon wieder egal, denn mein Blick fällt auf mein Baby, das kostbarste, dass ich je in meinem Leben besitzen durfte. Neben meinem Bett liegt zusammengeknüllt mein Trainingsanzug, hellgrün, mit rosa- und lilafarbenen Querstreifen in Schulterregion. War ein echtes Schnäppchen. Hab ihn auf dem Parkplatz unseres Wohnkomplexes gefunden. Die paar Löcher habe ich mit Tesafilm geklebt, der praktischerweise noch am selben Tag in meiner Kloschüssel auftauchte. Das ging damals noch. Ich versuche, mich zu erinnern, was ich gestern getrieben habe, aber die Erinnerung ist nur sehr vage, zu schwer sind die Schleier, die sie verdecken. Aber das macht mir eigentlich auch nichts aus, nichts kann mich heute erschüttern, denn es ist schließlich Montag morgen, eine neue ereignisreiche Woche liegt vor mir, Bauhof, ich komme. Zur Feier des Tages begebe ich mich ins Bad, ich nehme den Waschlappen, (was sind das für Krümel?) mache ihn nass, und... Nein. Ich mache ihn nicht nass. Seit dem vorgestrigen Rohrbruch im siebten Stock gibt es für die Wohnungen darüber kein Wasser mehr. Mir fällt die Lache ein, vielleicht ist noch ein Rest vorhanden, der nicht dem gierigen Sog der Pilzkultur zum Opfer gefallen ist...
Nachdem ich meine Haare mit der Tageszeitung (wer bezahlt die eigentlich?) getrocknet habe, ich fand sie gleich neben den Brocken, die ich als Erbsen identifizieren konnte (wie viel Erbsen kann ein Mensch denn essen?), schlüpfe ich in meine grüne Ganzkörperkombi, kämpfe mich durch den Abwasch, der sich bereits vermehrt hat, verlasse meine Bude und betrete den Flur des Hauses B3 der 1961 errichteten Wohnanlage Süd. Sofort strömt mir ein leicht säuerlicher, aber lang vertrauter Geruch in die Nase. Ja, das ist der Müllschlucker, seit die arabische Familie von nebenan Silvester gefeiert hat, ist der irgendwie verklebt, ein Gefühl von Vertrautheit und Heimat macht sich in mir breit. Ich rufe den Aufzug, cingsan lik ta Ayse, steht an der Tür, und fahre hinunter ins Erdgeschoss. Vorbei an der kaputten Gegensprechanlage, den grauen Briefkästen und, nicht zu vergessen, Petr, der, seit ihn seine Frau rausgeworfen hat, im Hausflur schläft („tumultartige Szenen vor dem Brandenburger Tor“ steht in großen schwarzen Lettern auf der Zeitung, die seinen Astralkörper bedeckt, hey die Fliege da kenn ich doch), verlasse ich das Haus. Vor mir der Spielplatz. Eine Frau mit Kopftuch wippt zusammen mit ihrem kleinen Kind, eine Gruppe Jugendlicher bildet einen Kreis um einen Halbasiaten (was hat denn der Arme, liegt ja ganz zusammengekrümmt da), und drüben, beim Kiosk, da steht Frau Kocznierek und entsorgt ihr Leergut, das sich letzte Nacht bei ihr angesammelt hat (die ist ja schon fast so gelb wie meine Füße). Ein Windhauch streicht durch meine Vokuhila, meine zarten Locken erleben das säuselnde Spiel des Windes, im Hintergrund das Dröhnen der Chemnitzer Stadtautobahn.
Ich atme tief durch.
Werner, denke ich, Werner, das wird dein Tag.
Von Gregor Runge
[ 15-04-2002, 16:45: Beitrag editiert von: Basstardo84 ]